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Als Hugo Spelman seinen Chef vor der Tür seines Büros entdeckte, erstarrte er vor Schreck. In den zwanzig Jahren, in denen er die Zeitung leitete, hatte Raymond O’Flanagan nie auch nur einen Fuß in das Innere des Gebäudes gesetzt. Wenn er ihm etwas mitteilen wollte, schickte er einfach einen seiner Gehilfen mit einer Nachricht oder bat ihn darum, ins Hauptbüro zu kommen, einem Gebäude neben dem Old State House, von wo aus Raymond sein Wirtschaftsimperium mit Hilfe eines Heers von Anwälten und Buchhaltern führte.

Die Tatsache, dass er das Büro in seinem Elfenbeinturm verlassen hatte und sich höchstpersönlich zu Hugo begab, verriet, dass es sich um eine Angelegenheit handeln musste, die ihm am Herzen lag. Sie führten ein kurzes Gespräch. Raymond informierte seinen Herausgeber, dass am nächsten Tag eine junge Frau in der Zeitung anfangen würde. Sollte sie nach einer Probezeit von einem Monat nicht dazu in der Lage sein, gute Arbeit zu leisten, könnte Hugo sie wieder entlassen.

Obwohl O’Flanagan ihm versichert hatte, für eine eventuelle Entlassung freie Hand zu haben, war Hugo Spelman nicht wohl bei der Sache. Ob er sie entlassen müsste oder nicht, dem klugen Herausgeber war bewusst, dass er am Ende das Nachsehen haben würde.

Zwei Tage nach Antritt ihrer neuen Stelle kam Charlotte in Spelmans Büro. «Entschuldigen Sie bitte.»

«Ja?», antwortete er kurz angebunden.

«Hätten Sie vielleicht Zeit für ein kurzes Gespräch?»

Kaum war diese Frau hier, fing sie schon an, ihn zu belästigen. Jeden anderen Angestellten hätte er in hohem Bogen hinausgeworfen, aber Hugo war zu sehr Gentleman, um mit einer Dame ebenso umzuspringen, auch wenn sie tausend Mal seine Angestellte war.

«Treten Sie ein, Miss Lacroix.»

Charlotte blieb vor dem Schreibtisch stehen, bis ihr Chef sie seufzend aufforderte, sich zu setzen.

«Was gibt es denn?»

«Mr. Spelman, es tut mir schrecklich leid, Sie belästigen zu müssen», sagte sie mit einem engelsgleichen Lächeln. «Ich weiß, dass ich erst zwei Tage bei Ihnen bin, und vor allem möchte ich Ihnen für das Vertrauen danken, das Sie in mich setzen. Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie mich für undankbar halten, aber ich fürchte, dass ich Ihnen meine Fähigkeiten kaum zeigen kann, wenn ich an meinem Tisch sitzen bleibe.»

Ungehalten räusperte Spelman sich. Er hatte beschlossen, sich das Problem vom Hals zu schaffen, indem er die Dame an einen etwas abgelegenen Tisch setzte und Schreibarbeiten ausführen ließ, die auch ein Schüler hätte erledigen können.

«Miss Lacroix, ich fürchte, das ist für den Moment alles, was ich Ihnen anbieten kann. Vielleicht etwas später, wenn Sie besser verstehen, wie es hier in der Zeitung läuft …»

«Ich habe verstanden.» Charlotte blickte dem erstaunten Hugo Spelman in die Augen. Bisher hatte er die Augen der jungen Frau nie bemerkt. Jetzt fragte er sich, wie er sie nur hatte übersehen können.

«Reden wir Klartext», sagte Charlotte und legte die Rolle der arglosen Dame ab. «Sie wollen mich hier nicht.»

Eigentlich wollte Spelman etwas dagegen sagen, aber warum sollte er das Offensichtliche leugnen.

«Sagen Sie nichts, ich kann Sie verstehen. Sie befinden sich in einer komplizierten Situation. Sie wollen mich eigentlich loswerden, möchten aber Mr. O’Flanagan auch nicht sagen, dass Sie seinen Schützling entlassen mussten.»

«Wie ich sehe, haben Sie die Lage perfekt erfasst.»

«Ich glaube, ich kann Ihnen eine Lösung anbieten.»

Hugo horchte auf. Vielleicht hatte er sich vom Äußeren der jungen Frau oder von ihrem Südstaatenakzent täuschen lassen. Es handelte sich offensichtlich um eine Frau mit Charakter.

«Ich höre.»

«Sie wollen mich loswerden. Und ich möchte Ihnen einfach nur zeigen, dass ich dieser Arbeit gewachsen bin. Ich bitte Sie nur um eine einzige Chance. Wenn sich zeigt, dass ich die Arbeit nicht machen kann, werde ich freiwillig gehen.»

Nachdenklich sah Hugo sie an und wog Charlottes Vorschlag ab. Nun. Wenn sie unbedingt auf die Straße wollte, dann würde er es ihr gestatten.

«Meinetwegen.»

«Abgemacht», sagte Charlotte und drückte die Hand des Herausgebers.

«Abgemacht», wiederholte Spelman zufrieden. Sicher wäre er die junge Frau schon bald wieder los.

***

Am nächsten Tag stand Charlotte im Morgengrauen auf. Sie zog sich bequeme Schuhe an, steckte ein paar Blätter und einen Stift ein und lief schnell in die Redaktion.

«Guten Morgen, Mr. Spelman», begrüßte sie ihren Chef, als er eintrat.

«Miss Lacroix. Ich sehe, Sie sind früh aufgestanden.»

«Ich kann es kaum erwarten anzufangen», sagte sie, und als ihr Chef sie mit einer Handbewegung aufforderte, ihm zu folgen, sprang sie auf.

Nachdem Spelman sich in aller Ruhe seines Mantels entledigt und den Hut auf die Ablage gelegt hatte, setzte er sich.

«Wollen wir doch mal sehen.» Schnell überblickte er einen Stapel kleiner Kärtchen, auf die Nachrichten gekritzelt waren, die am nächsten Tag gebracht werden mussten. Schließlich blieben seine schlauen Äuglein an einer Karte am äußersten Rand des Tisches haften. Lächelnd nahm er sie in die Hand.

«Miss Lacroix», sagte er, während er sie Charlotte übergab, «Sie werden heute Ihren ersten Artikel schreiben.»

Vor Aufregung zitterte Charlotte fast ein bisschen.

«Matrose im Hafen erstochen», las sie jetzt laut vor und stockte.

«Anscheinend ist der Mann in einer Kneipe verblutet, und niemand will etwas gesehen haben.»

«O mein Gott!»

«Es ist im Norden passiert. Ana Street.»

«Entschuldigen Sie, haben Sie Ana Street gesagt?»

«Ja, auf der Höhe des Hafens.»

Charlotte schluckte.

«Sie meinen die Gegend, die man Black Sea nennt?»

«Genau dort.»

Charlotte lief es kalt den Rücken hinunter. Jedes Kind wusste, dass man diese Straße besser mied.

«Wenn Sie glauben, dass Sie das nicht leisten können …», warf Spelman ein. Zufrieden hatte er festgestellt, dass die junge Frau blass geworden war, und streckte die Hand nach dem Kärtchen aus.

Aber Charlotte presste es sich rasch gegen die Brust. Mit bebenden Nasenflügeln warf sie Spelman einen zornigen Blick zu.

«Kein Problem», sagte sie und steckte sich das Kärtchen in die Handtasche. «Toter Seemann am North End», wiederholte sie, drehte sich um und spazierte aus dem Büro.

Selbst als sie auf die Straße hinausging, war sie noch so wütend, dass sie eine tiefe Pfütze mitten auf dem Weg übersah.

«Das hat mir gerade noch gefehlt», rief sie mit den Füßen im Wasser. «Aber dieser Mistkerl irrt sich, wenn er glaubt, dass er mich damit loswird!», schimpfte sie laut und zog die Blicke einiger Passanten auf sich. «Da muss ihm schon etwas Besseres einfallen, als mich in die verrufenste Ecke der Stadt zu schicken.»

Wenn Spelman auch nur für eine Sekunde angenommen hatte, dass diese Frau so dumm sein könnte, ganz allein die Straße zu betreten, in der Prostituierte und Banditen herumlungerten und in die selbst die Polizei sich nur ungern vorwagte, dann hätte er sie am Stuhl festgebunden und höchstpersönlich wieder bei Raymond O’Flanagan abgeliefert. Aber er war davon überzeugt, dass die feine junge Dame mit ihren eleganten Stiefeln direkt hinter Faneuil Hall kehrtmachen würde, sobald sie den ersten Dreck auf der Straße entdeckte, den in dieser Gegend niemand wegräumte. Sie würde so schnell davonlaufen, dass die absurde Idee, eine Frau könnte als Reporter arbeiten, in Windeseile aus ihrem Kopf verschwinden würde. Dann würde sie sich hoffentlich einen Ehemann suchen und wie jede anständige junge Dame zu Hause bleiben.

Aber Spelman kannte Charlotte nicht.

***

Wenn sie nicht so verdammt stolz wäre, hätte Charlotte auf ihren gesunden Menschenverstand gehört und wäre wirklich davongelaufen, als der erste betrunkene und zahnlose Matrose auf sie zukam und ihr ein paar Münzen dafür anbot, ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten.

Erschrocken beschleunigte sie ihren Schritt.

Um sie herum lag überall Dreck auf der Straße, und ein kleines pelziges Tier bog blitzartig vor ihr in eine dunkle Gasse ein.

In einem Müllhaufen an der nächsten Straßenecke kämpften zwei Ratten um einen Fischkopf. Charlotte hielt sich die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Schnell schloss sie die Augen und zwang sich, ruhig weiterzuatmen. Sie würde auf keinen Fall aufgeben und unterdrückte den Impuls, schreiend davonzulaufen. Sie war Katherine Lacroix’ Tochter und würde sich von diesen elenden Tieren nicht einschüchtern lassen.

Als sie die Augen wieder öffnete, waren die Ratten verschwunden.

Die Spelunke, in der der unglückliche Matrose sein Leben ausgehaucht hatte, war nicht schwer zu finden. Charlotte ging einfach hinein und wandte sich direkt an den Mann hinter der Theke.

«Entschuldigen Sie. Ich bin Charlotte Lacroix vom Boston Universal. Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl etwas über den Matrosen wissen, der hier gestern umgekommen ist.»

Der Mann blickte sie von oben bis unten an und erschlug mit der flachen Hand eine Fliege, die sich auf die Theke gesetzt hatte.

«Ich weiß gar nichts», sagte er und kehrte ihr den Rücken zu.

Charlotte sah sich um. Der andere Mann im Raum war so betrunken, dass er kaum sprechen konnte. Es hätte keinen Sinn, ihn zu befragen.

«Hören Sie zu, Miss», rief ihr der Wirt zu. «Ich gebe Ihnen einen Rat. Das hier ist kein Ort für Sie. Hören Sie auf, Ihre Nase in Angelegenheiten zu stecken, die Sie nichts angehen, und gehen Sie ganz schnell dorthin zurück, wo Sie hergekommen sind.»

Wohl wissend, dass sie nichts in der Hand hatte, um den Wirt zum Sprechen zu bringen, starrte Charlotte noch einmal auf den dunklen Fleck auf den Dielen und verließ die Kneipe.

Was sollte sie nur tun? Entmutigt setzte sie sich auf eine Kiste, die jemand an einer Straßenecke hatte stehen lassen, und beobachtete das Treiben auf der Straße.

«Müde?», fragte eine weibliche Stimme.

«Ich kann absolut nicht mehr», antwortete sie und wandte sich zu der Frau, die sich neben sie an die Wand gelehnt hatte. Offensichtlich war sie eine Prostituierte.

«Ich habe dich hier noch nie gesehen. Bist du neu?»

«Ich bin gerade angekommen.»

Die Frau betrachtete Charlotte für eine Weile.

«Du bist viel zu hübsch, um eine Hure zu sein.»

«Ich bin auch keine. Ich bin Reporterin. Oder wenigstens wäre ich das gern.»

Bei diesen Worten machte die Frau sofort Anstalten, die Flucht zu ergreifen.

«Bitte, geh nicht!»

«Es tut mir leid. Ich kann nichts sagen.»

Charlottes Augen flehten sie um Hilfe an.

«Ich verspreche dir, dass niemand erfährt, dass du mit mir gesprochen hast. Ich gebe dir mein Wort. Und ich kann dich bezahlen.»

Vorsichtig blickte die Frau zu allen Seiten. Niemand schien auf sie zu achten. «Okay. In einer Stunde in Faneuil Hall, Ecke North Market Commercial.»

«Ecke Market Commercial», wiederholte Charlotte, als sie aufstand.

«Und jetzt hau ab. Besser, wir werden nicht zusammen gesehen.»


Erst als Charlotte die Markthalle sah, in der sie jeden Morgen einkaufte, beruhigte sie sich wieder. Nachdem sie heil aus dem gefährlichsten Viertel dieser Stadt herausgekommen war, schwor sie sich, nie wieder so töricht zu sein.

Es war fast Mittag, und Faneuil Hall war voller Menschen. Mit Ellenbogen und Schubsern drängelten sie sich vor den zahlreichen Marktständen, die die Stadt mit frischen Lebensmitteln versorgten.

Charlotte erstand einen Pie mit Fleischfüllung an einem Stand auf der Straße und aß ihn im Stehen an der Ecke, an der sie verabredet war. Als ihre Informantin mit zwanzig Minuten Verspätung endlich erschien, hatte Charlotte bereits ihren zweiten Pie in der Hand.

«Es tut mir leid», entschuldigte sich die Prostituierte. «Ich hatte noch einen Freier.»

«Danke, dass du gekommen bist.» Die Frau starrte auf das letzte Stück Pie in Charlottes Hand.

«Hast du Hunger?»

Sie nickte.

Charlotte hatte ein Café entdeckt und deutete nun auf den Eingang. «Lass uns da hineingehen.»

Die Frau nickte wieder.

Sie traten ein und setzten sich an einen etwas abgelegenen Tisch. «Was möchtest du?»

Als sie keine Antwort bekam, bestellte Charlotte zwei Tassen Tee und für die Frau ein Stück Kuchen, das sie praktisch verschlang.

«Ich heiße Charlotte Lacroix», stellte sie sich vor, nachdem ihre Begleiterin fertig war.

«Ich bin Gertrud», sagte diese und wischte sich den Mund mit der Hand ab.

Charlotte betrachtete sie aufmerksam. Sie trug ihr langes Haar offen, und obwohl es zunächst brünett erschien, war es doch in Wirklichkeit so schmutzig, dass man seine tatsächliche Farbe kaum erraten konnte. Eine lange Strähne fiel ihr über eine Gesichtshälfte. Ein Rest von roter Farbe war auf ihren Lippen zu sehen, und sie hatte noch alle Zähne. Charlotte schätzte sie auf etwa fünfunddreißig.

«Darf ich fragen, wie alt du bist?»

«Ich bin letzten Monat dreiundzwanzig geworden.»

«Dreiundzwanzig», wiederholte Charlotte ungläubig. Diese Frau war genauso alt wie sie.

Als Gertrud sich das Haar aus dem Gesicht strich, um den Tee zu trinken, kam ein hässlicher blauer Fleck über dem einen Auge zum Vorschein.

«O mein Gott! Was ist dir passiert?»

«Es ist nichts», sagte sie und ließ sich die Strähne schnell wieder ins Gesicht fallen. «Mein Chef hatte einen schlechten Tag.»

«Das tut mir furchtbar leid.»

Gertrud winkte ab. «Es ist bald wieder weg. Normalerweise schlägt er uns nicht ins Gesicht. Du weißt schon, wir sollen gut aussehen», versuchte sie, ihn zu verteidigen. «Die Polizei hat wegen dem Mord im Bezirk rumgeschnüffelt, und dann ist er immer sehr nervös.»

«Die Polizei?»

Gertrud tat geheimnisvoll. «Eine Schlägerei ist eine Sache, aber wenn ein Mann in einer vollen Kneipe mit aufgeschlitzter Kehle verblutet, dann ist das nicht normal.»

«Es ist schrecklich. Ich habe nicht gewusst, dass er so gestorben ist.»

«Armer Gilbert.»

«Du kanntest ihn?»

«Er war ein Stammkunde», sagte sie. «Er hatte die schlechte Angewohnheit, zu viel zu reden. Noch Stunden vor seinem Tod hat er mir stolz erzählt, dass er mit wichtigen Leuten Geschäfte machte.»

«Was für Geschäfte?»

«So genau weiß ich das nicht», sagte Gertrud zögernd. «Aber in der letzten Zeit hatte er ziemlich viel Geld. Einmal hat er von einem wichtigen Mann erzählt …», überlegte sie. «Seinen Namen hat er nie genannt, aber ich glaube, es war ein Bankier. Gilbert hat erzählt, dass er jede Woche Geld von ihm bekam, damit er seinen Mund hielt.»

«Du meinst, er hat ihn erpresst?»

Ihr Schweigen bestätigte Charlottes Annahme. Sie unterhielten sich fast eine Stunde lang. Charlotte machte sich Notizen zu den wichtigsten Fakten und versprach Gertrud, ihre Identität um keinen Preis zu enthüllen. Dann gab sie ihr alles Geld, das sie bei sich hatte, und ließ sie die Adresse der Redaktion auswendig lernen, falls sie noch etwas in Erfahrung bringen konnte oder in Schwierigkeiten geriet.

Sobald Charlotte wieder in der Redaktion war, setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schrieb bis in den Abend hinein. Sie hatte genügend Informationen, um drei Spalten zu füllen. Nachdem sie den Text noch ein letztes Mal durchgegangen war, schrieb sie stolz ihren Namen darunter und legte ihn Mr. Spelman auf den Schreibtisch. Zufrieden ging sie nach Hause.


Als Hugo Spelman den Artikel am nächsten Morgen las, musste er zähneknirschend zugeben, dass er sich geirrt hatte. Der Bericht, den Charlotte Lacroix verfasst hatte, wurde unter der Schlagzeile MORD AN EINEM ERPRESSER auf der ersten Seite veröffentlicht. Und damit begann Charlottes Karriere als Journalistin. Bald folgten weitere Artikel, die ebenso großen Anklang fanden. Obwohl Spelman oft versuchte, sie auszuhorchen, verriet Charlotte nie, wer ihre Quellen waren. Und ob es sich um einen gesellschaftlichen Skandal handelte oder einen Raubüberfall, irgendwie schaffte diese Frau es immer, einen Informationsvorsprung zu haben.

***

Seit zehn Minuten feilte Charlotte an dem letzten Satz eines Artikels, als der Junge auftauchte, der die Botengänge im Haus erledigte.

«Miss Charlotte?»

«Ja, Albin?»

«Dieser Brief ist für Sie abgegeben worden.» Er übergab ihr einen schlichten Umschlag ohne Absender, auf dem in deutlichen Lettern ihr Name stand.

«Weißt du, wer ihn gebracht hat?»

«Einer der Laufburschen vom Edward’s

«Vom Hotel?»

Der Junge nickte.

«Danke, Albin», sagte Charlotte und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln.

«Gern geschehen, Miss Lacroix», antwortete der Junge eifrig und rannte wieder zurück zu seinem Posten an der Eingangstür.

Neugierig riss Charlotte den Umschlag auf. Auf einem Bogen Briefpapier aus dem Edward’s hatte jemand eine knappe Nachricht verfasst. Ein Freund, hieß es, wolle sie sehen und würde im Hotel auf sie warten.

«Gut», sagte sie zu sich selbst. «Mal sehen, was dieser mysteriöse Freund uns zu erzählen hat.»

Charlotte zog ihren Mantel an, setzte den Hut auf und steckte die Nachricht ein. Dann nahm sie die Feder und schrieb in einem Zug den letzten Satz, über dem sie so lange gegrübelt hatte. «Perfekt!», rief sie zufrieden aus und verschwand aus dem Büro.


Auch wenn sie nie im Edward’s abgestiegen war, hatte sie das Hotel doch mehrmals beruflich aufgesucht. Das Wort Luxus war absolut ungenügend, um die ganz mit Marmor ausgekleidete Empfangshalle des Hauses zu beschreiben. Charlotte lief über einen breiten blauen Perserteppich zur Rezeption.

«Guten Tag», grüßte sie. «Mein Name ist Charlotte Lacroix. Ich werde erwartet.»

Der unermüdlich lächelnde Empfangschef, der in einen eleganten schwarzen Anzug gekleidet war, nickte ihr zu und winkte gleichzeitig einen Laufburschen herbei.

«Erlauben Sie», sagte er, «dass der junge Mann Sie in den orientalischen Salon begleitet. Dort wartet man bereits auf Sie.»

Charlotte bedankte sich und folgte dem Jungen, der alle fünf Schritte anhielt, um sich zu ihr umzudrehen und sie mit einer Verbeugung aufzufordern, ihm zu folgen. Am Ende eines Ganges blieb er kurz vor einer Doppeltür stehen und öffnete sie nach einer weiteren Verbeugung. Hinter ihr machte er sie sanft wieder zu.

«Wie schön!», rief Charlotte bewundernd aus und trat in den orientalisch eingerichteten Raum. Und noch bevor sie sich nach dem mysteriösen Freund umsehen konnte, hörte sie eine vertraut klingende Stimme aus dem hinteren Teil des Raums.

«Bonjour, Charlotte.» Es war, als würde tief in ihrem Herzen etwas schmelzen, als sie sich nun wie in Trance auf die Gestalt zu bewegte, die sich langsam aus einem Sessel erhob.

«O Gott!», rief sie und hob die Hände an den Mund. «Großvater!» Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

«Meine kleine Charlotte!», sagte der alte Mann unter Schluchzern, als er seine Enkelin in die Arme schloss. «Ich habe so lange nach euch gesucht! Ich hatte schon Angst, ich würde euch vielleicht nie wiedersehen …»

Schweigend hielten die beiden sich eine Weile in den Armen, dann setzten sie sich. Neben ihrem Großvater fühlte sich Charlotte, als wäre sie endlich wieder zu Hause angekommen. Drei Jahre waren seit dem Tod ihrer Mutter vergangen, und der Großvater hatte sich verändert. Er war schmaler geworden, und die Jahre hatten ihn gebeugt. Ein trauriger Schleier lag über seinen dunklen Augen.

«Wie hast du uns gefunden?», fragte Charlotte, die die Hand ihres Großvaters nicht mehr loslassen wollte.

«Ich habe Detektive beauftragt und überall nach euch suchen lassen. Lange Zeit hatten sie keinen Erfolg. Aber dann …» Er zog etwas aus seiner Westentasche und gab es ihr. Es war eine der Goldmünzen, die er ihnen geschenkt hatte und die sie nach und nach verkauft hatten.

«Ich hatte schon alle Hoffnung verloren, als mir diese Münze in die Hände fiel. Ein Juwelier aus New Orleans hatte sie auf einer Reise nach Boston erstanden.»

Froh blickte er seine Enkelin an, dann aber runzelte er die Stirn. «Wie Tiere hat er euch verkauft!», rief er und ballte wütend die Fäuste.

Überrascht sah Charlotte auf.

«Dein eigener Vater hat die Unverschämtheit besessen, mir alles zu erzählen, als ich euch besuchen wollte. Wenn du ihn gesehen hättest. Er war noch stolz auf seine Tat. Ich hätte ihn mit meinen eigenen Händen töten können. Aber schließlich wurde mir klar, dass ich selbst auch die Schuld daran trug.»

«Du?»

«Oui, mein Mädchen. Wie konnte ich ihn für etwas zur Verantwortung ziehen, das ich mein ganzes Leben lang getan hatte? So habe ich meinen Hochmut teuer bezahlt. Wer hätte gedacht, dass mein eigen Fleisch und Blut einmal behandelt werden würde, wie ich Hunderte von Männern und Frauen behandelt habe. Warum seid ihr nicht zu mir gekommen?»

«Wir konnten nicht, Großvater. Wir hatten Angst. Denk an unsere Lage, an das, was geschehen war. Noah und ich sind noch immer zwei entflohene Sklaven.»

«Ich hätte euch geholfen.»

Traurig nahm er das Gesicht seiner Enkelin zwischen seine Hände. «Hast du etwa daran gezweifelt? Hast du geglaubt, dass ich Hortensia genauso ablehnen könnte, wie euer Vater es getan hat?»

«Es ist doch jetzt nicht mehr wichtig, Großvater.»

Gefühle von Schuld und Trauer legten sich schwer über Gaston Lacroix. Seine Enkelinnen hatten ihm nicht vertraut. Sie hatten gefürchtet, er wäre wie ihr Vater.

«Ihr seid meine Enkelinnen. Ich liebe euch. Ihr seid beide die Töchter meiner geliebten Katherine.»

«Alles wird gut, Großvater», versuchte Charlotte, ihn aufzumuntern. «Hortensia hat einen wunderbaren Mann gefunden, Noah wird Arzt werden, und ich … ich laufe durch die Stadt und stecke meine Nase überall hinein. Die Zeit hat die Wunden heilen lassen», flüsterte sie sanft und dankte leise dem Himmel.

«Mon Dieu», rief Gaston glücklich aus und streichelte das Gesicht seiner Enkelin. Das Leben hatte ihm eine zweite Chance gegeben.

***

Als Brian Hortensia verkündete, dass sie Besuch hatte, dachte sie im ersten Moment, es wären die Damen, mit denen sie eine Wohltätigkeitsveranstaltung organisierte und die sich in ihrem Haus versammeln wollten.

«Eigentlich wollten sie erst in einer halben Stunde da sein», sagte sie mit einem Blick auf die Uhr.

Brian konnte nicht aufhören zu lächeln.

«Du hattest doch einen Termin?», fragte sie neugierig, als ihr Mann wartend vor ihr stehen blieb.

«Ich denke, ich bleibe zu Hause und kümmere mich um den Besuch. Du solltest ihn nicht warten lassen», sagte er, nahm sie bei der Hand und zog sie hinter sich her.

«Du bist heute so geheimnisvoll.»

«Findest du, Liebling?», antwortete Brian, als sie die Treppe hinunter waren. Er nahm sie bei den Schultern und schob sie vor sich in den Salon.

Als Hortensia an der Seite von Charlotte ihren Großvater entdeckte, stieß sie einen Schrei aus und fiel ihm um den Hals. Lächelnd nahm Gaston Lacroix sie in die Arme.

«Ma petite Hortensia», flüsterte er glücklich.

«Großvater! Seit wann bist du hier?», fragte Hortensia, die sich nicht aus der Umarmung ihres Großvaters lösen wollte.

«Seit heute Morgen. Ich habe Charlotte eine Nachricht geschickt, sobald ich angekommen war.»

«Ich bin so froh, Großvater!»

«Mein liebes Mädchen. Wie lange habe ich diesen Moment herbeigesehnt!»

Plötzlich löste Hortensia sich ein wenig von dem alten Mann. Ein Schatten hatte sich über ihr Gesicht gelegt.

«Was ist los, ma petite

«Da ist etwas, das du wissen musst, Großvater. Wir hätten es dir schon längst erzählen sollen.»

Zärtlich hob Gaston Lacroix das Kinn seiner Enkelin hoch. «Da ist nichts, was ich wissen müsste, mein Mädchen. Nichts außer der Tatsache, dass meine Enkelinnen, die beiden Mädchen, die meine Tochter über alles geliebt hat und die ich für immer verloren glaubte, wieder an meiner Seite sind. Ich habe dich lieb, ma petite, meine süße Hortensia. Und ich werde dich immer lieb haben, was auch passieren mag.»

Der Großvater wusste Bescheid. Er wusste, dass sie die Tochter einer Sklavin war, und liebte sie trotzdem. Weinend vor Freude, ließ Hortensia sich erneut umarmen.

Einen ganzen Monat lang war Gaston Lacroix im Haus von Brian und Hortensia zu Gast, bevor er nach New Orleans zurückkehrte. Er versprach, im Sommer wiederzukommen und dann die ganze Familie mitzubringen.

Aber aus der Ferne hörte man schon die Trommeln des Krieges, und keiner von ihnen ahnte, dass vier lange Jahre vergehen müssten, bevor das launische Schicksal ihnen gestatten würde, sich wieder in die Arme zu schließen.

Fesseln des Schicksals
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