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In nur wenigen Tagen war Neumond, dann würde die Mondscheibe vollkommen vom Erdschatten verschluckt werden. Jetzt gab sie gerade noch genügend Licht ab, damit Scott sich auf seinem Weg orientieren konnte.

Auf jeden Laut achtend, ritt er durch die Nacht. Vor ein paar Stunden hatte er die gegnerischen Linien überquert, und er wollte vermeiden, dass eine verirrte Kugel ihn erledigte, bevor seine Mission überhaupt begonnen hätte. Langsam kroch der Gedanke in ihm hoch, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, mitten in der Nacht durch feindliches Gebiet zu reiten, aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Und Richard würde nicht viel Zeit bleiben.

In diesem Moment erklang das unverwechselbare Klicken eines Abzugshahns im Gebüsch am Wegesrand. Rasch zügelte Scott sein Pferd und riss die Hände nach oben. «Nicht schießen!», rief er. «Ich bin unbewaffnet!»

«Keine Bewegung!», befahl jemand mit Südstaatenakzent, der kurz darauf aus dem Gebüsch kam und sich Scott näherte, sein Gewehr auf ihn gerichtet. Fast gleichzeitig erschien ein zweiter, ebenfalls bewaffneter Mann. Es waren konföderierte Soldaten.

«Steigen Sie ab», befahl der erste grimmig und stieß ihm den Gewehrlauf in die Seite.

Scott gehorchte. Mit langsamen, deutlichen Bewegungen stieg er vom Pferd. Er wollte ihnen auf keinen Fall einen Grund geben, auf ihn zu schießen. Beide standen hinter ihm, und er konnte sie nicht sehen, aber er nahm deutlich ihren Gestank wahr. Selbst ein Stinktier hätte entsetzt das Weite gesucht.

Während der zweite Mann sein Gewehr auf Scott gerichtet hielt, durchsuchte der erste ihn.

«Er ist wirklich unbewaffnet», sagte er ungläubig zu seinem Kameraden und trat ein paar Schritte zurück, um aus sicherem Abstand auf ihn zielen zu können. «Was willst du hier, Yankee?»

Mit dem größer gewordenen Abstand wurde der strenge Geruch etwas abgemildert. Dankbar atmete Scott auf.

«Ich muss Leutnant Klaus Fritz sprechen.»

Die beiden Männer warfen sich einen Blick zu. Dann fesselten sie ihm die Hände und führten ihn in den Wald.

Etwa eine Stunde später waren sie in ihrem Lager angekommen und banden Scott an einen Baum.


Klaus hatte sich in seinem Zelt ausgestreckt, als zwei Soldaten vor dem Eingang auftauchten und salutierten.

«Verzeihen Sie, Sir», sagte der eine. «Aber wir haben einen Gefangenen gemacht.»

«Einen Gefangenen?»

«Einen Yankee, Sir. Er sieht wie ein Zivilist aus, zumindest ist er nicht bewaffnet.»

Klaus richtete sich verärgert auf. Er würde nachsehen müssen, um wen es sich handelte.

«Er hat nach Ihnen gefragt, Sir.»

«Nach mir?»

«Ja, Sir», antworteten die Männer wie aus einem Munde.

Klaus stand von seinem Feldbett auf und zog die Stiefel über ein Paar Strümpfe, das dringend geflickt werden musste. Er suchte nach seiner Jacke, überprüfte, ob seine Pistolen geladen waren, und setzte den Hut auf.

«Bringen Sie mich zu ihm.»

Die Soldaten eskortierten ihren Kommandanten zu dem Ort, wo sie den Gefangenen gefesselt hatten. Als Klaus Scott erkannte, konnte er seine Überraschung nicht verbergen.

«Binden Sie ihn los!», befahl er sofort den beiden Soldaten. «Ich hoffe, er ist unversehrt», fügte er drohend hinzu.

«Zu Befehl, Sir», antwortete einer der beiden nervös, während er mit einem Messer Scotts Fesseln durchtrennte. «Wir haben ihn nur gefesselt, damit er nicht abhaut.»

«Komm schon her!», rief Klaus grinsend und breitete seine Arme aus. Scott rieb sich die Handgelenke und ließ sich von Klaus umarmen.

«Du bist unglaublich! Ich hätte niemals erraten, wer das sein könnte. Allerdings, wenn man ernsthaft darüber nachdenkt», sagte Klaus, «wer sonst wäre so verrückt, unbewaffnet die feindlichen Linien zu durchqueren.»

«Was soll ich sagen, Klaus. Du weißt ja, dass ich für Waffen nicht viel übrighabe.»

Klaus lachte vergnügt.

«Komm. Wir setzen uns ans Feuer. Und Sie können auf Ihren Wachtposten zurückkehren.»

Die Soldaten gehorchten sofort und waren schon wieder im Wald verschwunden, als die beiden Freunde sich auf ein paar Steine um ein Lagerfeuer setzten.

«Wie ich sehe, kommandierst du die Leute immer noch gern herum, Leutnant.»

«Oberst», verbesserte Klaus ihn und zeigte auf die Streifen auf seiner Uniformjacke. «Willst du einen Schluck?», fragte er und bot ihm einen Flachmann an, den er aus seiner Innentasche zog.

Dankend nahm Scott das Angebot an. Als ihm die Flüssigkeit die Kehle hinunterlief, hatte er das Gefühl, er hätte Feuer verschluckt.

«Mein Gott», hustete er und spuckte aus, während ihm die Tränen in die Augen traten. Sofort gab er Klaus die Flasche zurück. «Woraus zum Teufel macht ihr dieses Gebräu?»

«Das sage ich dir lieber nicht», lachte Klaus und nahm gelassen einen Schluck.

Da die Konföderation kaum Kriegsschiffe hatte, war sie gezwungen gewesen, viele der Marineoffiziere an der Landfront einzusetzen. Prüfend betrachtete Scott seinen Freund. Er war sorgfältig rasiert und gekämmt, aber man sah ihm an, dass er abgenommen hatte, und seine Uniform war zerschlissen. Als er sich umblickte, stellte Scott fest, dass die meisten Zelte kaputt waren. Einige der Pferde waren so mager, dass man ihre Rippen sehen konnte, und auch die Männer wirkten müde und erschöpft.

«Wir werden nicht mehr lange durchhalten», sagte Klaus, der Scotts Gedanken erriet.

«Das tut mir leid.»

«Mir nicht. Dieser absurde Krieg muss endlich vorbei sein. Das verstehe ich jetzt. Wir können ihn nicht gewinnen. Ohne Munition und Essen sind die Baumwollfelder und der Kampfgeist der Leute nichts wert. Ich sage dir etwas», gestand er, «diesen Monat habe ich fünfzehn Männer durch das Fieber verloren. Nur weil wir keine Decken haben. Wenn es nicht bald zum Kampf kommt, sind keine Soldaten mehr übrig, die noch kämpfen könnten. Einen weiteren Winter überstehen wir nicht.»

Scott schwieg. Er hatte immer gewusst, dass der Süden den Krieg nicht gewinnen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Auch wenn der Süden große Generäle hatte und die Männer von der Sache überzeugt waren, so fehlte es ihm doch an der notwendigen Industrie. Im Süden wurde nichts von dem produziert, was man für einen langen Feldzug brauchte. Die Fabriken standen im Norden, und der Strom der Einwanderer, die aus Europa kamen, um in diesen Fabriken zu arbeiten, würde für eine lange Zeit nicht abreißen.

«Ich nehme an, du hast dich nicht rekrutieren lassen?», fragte Klaus, um das Thema zu wechseln.

«So ist es», nickte Scott.

«Freut mich. Aber sag, was führt dich hierher? Ich glaube kaum, dass du mich einfach besuchen wolltest. Was denkst du dir überhaupt dabei, mit deinem unverwechselbaren Akzent hier einfach vor meinen Männern aufzutauchen?», schimpfte Klaus. «Und dann noch unbewaffnet! Sie hätten dich töten können.»

«Haben sie aber nicht.»

«Eingebildeter Idiot. Ich sehe, die Zeit hat nicht ein einziges Körnchen gesunden Menschenverstand in diesen Sturkopf geprügelt.»

Scott grinste.

«Weshalb bist du also hier?»

Plötzlich wurde Scotts Gesichtsausdruck so ernst, wie Klaus ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Nicht einmal, als er durch sein Verschulden von der Marineakademie geflogen war. Scott rieb sich die Hände, und Klaus wandte den Blick verlegen ab. Noch immer fühlte er sich schuldig, wenn er Scotts vernarbte Haut sah.

«Ich brauche deine Hilfe, mein Freund», gestand Scott und sah Klaus an. «Es geht um Richard. Er ist verletzt und befindet sich im Gefängnis in Maryland.»

Scott brauchte den Namen dieser Hölle nicht auszusprechen. Jeder konföderierte Soldat hatte von dem Fort gehört, in dem die Gefangenen zu Hunderten an den Folgen von Hunger, Kälte und Krankheiten starben.

«Wenn wir ihn da nicht rausholen, wird er bald sterben.»

Klaus nahm noch einen Schluck und starrte ins Feuer.

«Und was können wir tun? Du erwartest hoffentlich nicht, dass ich mit meinen Männern die Front durchbreche und das Fort angreife. Ich habe nur vierhundert Leute, und die meisten würden nicht einmal mehr einen Tagesmarsch überleben. Das wäre reiner Selbstmord.»

«Ich dachte an etwas ganz anderes. Ich glaube, zwei Mann allein könnten es schaffen.»

«Zwei Mann? Bist du verrückt geworden?»

«Nein. Ich habe es mir gut überlegt. Mit ein bisschen Glück sind wir schon wieder auf und davon, bevor sie überhaupt merken, dass Richard verschwunden ist, und zwar ohne einen Schuss abgefeuert zu haben.»

«Bist du sicher, Scott?»

«Ja. Ich weiß, dass wir das schaffen können. Vertrau mir.»

Klaus sah wieder ins Feuer. Deutlich erinnerte er sich an den Mann, der fähig gewesen war, in einen brennenden Schuppen zu gehen, um ihm das Leben zu retten, ihm, der ihn gehasst hatte. Er spürte einen Kloß im Hals. Erst damals hatte er wirklich verstanden, was Mut bedeutete. Und jetzt kam der gleiche Mann, tauchte mitten im gegnerischen Gebiet auf, um ihn um Hilfe zu bitten und wieder sein Leben für einen Freund aufs Spiel zu setzen.

Für ihn und Richard würde Klaus alles tun. «Gut», sagte er. «Ich weiß nicht, wie dein Plan aussieht, aber wenn auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg besteht, müssen wir es wagen. Und wenn jemand aus so einem Wahnsinn heil wieder herauskommt, dann bist wohl du es. Ich bin dabei, Scott.»

***

Am nächsten Morgen, nachdem Klaus seinen Offiziersstab über die Einzelheiten der Operation informiert und dem höchstrangigen Offizier für die Zeit seiner Abwesenheit die Befehlsgewalt übertragen hatte, brachen sie in Richtung Norden auf.

Das Schwierigste war es, die Frontlinie zu passieren, aber Klaus’ Männer überwachten die Landstraßen, und er kannte sich gut in der Gegend aus.

Erst spät in der Nacht hielten sie und versteckten sich in einer verlassenen Hütte im Wald, wenige Meilen vom Gefängnis entfernt.

Während Klaus die Decken ausbreitete, verstaute Scott sorgsam die beiden Fässchen mit Schwarzpulver, die er unbedingt hatte mitnehmen wollen. Sie hätten gern eine Tasse heißen Kaffee getrunken, um sich in der eiskalten Novembernacht aufzuwärmen, aber der Schein eines Feuers wäre zu weit sichtbar gewesen. Auf keinen Fall wollten sie den halben Staat Maryland darauf aufmerksam machen, dass sie am nächsten Morgen das sicherste Fort auf dem Gebiet der Union angreifen würden.

Scott zog ein paar Linien auf dem Boden. Grob skizzierte er die Lage des Flusses und ihres Zielobjekts und erläuterte seinen Plan.

«Wir nähern uns von der Westseite. Der Wald ist hier sehr dicht, da sind wir besser geschützt. Danach überqueren wir an diesem Punkt den Fluss und dringen in das Gefängnis ein.»

«Ich weiß nicht, ob dir aufgefallen ist, dass es zwischen diesen beiden Punkten keinen einzigen Baum gibt», sagte Klaus und deutete auf die Zeichnung. «Hier ist alles offenes Gelände, und nicht einmal ein Eichhörnchen würde unbemerkt dort entlanglaufen können. Die Konstrukteure des Forts haben gute Arbeit geleistet und alles weggeschafft, was als Schutzwall dienen könnte.»

«Ich weiß.»

«Du weißt? Großartig. Und wie willst du also diese zweihundert Meter überwinden, ohne entdeckt zu werden?»

«Unter der Erde.»

«Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt. Wir würden Jahre brauchen, um einen solchen Tunnel zu graben.»

«Wer hat gesagt, dass wir graben müssen?»

«Aber …»

«Wir werden über das Abwassersystem in das Fort kommen. Es war zwar nicht ganz einfach, aber ich habe die Lösung im Tagebuch eines englischen Offiziers gefunden, der während des Unabhängigkeitskriegs gedient hat. Dieser Soldat war Ingenieur, und man hat ihn mit dem Bau eines Geheimgangs beauftragt, der die Befestigungsanlage mit dem Fluss verbindet. Als die Engländer sich ergaben, haben sie die Existenz des Tunnels nicht preisgegeben, deshalb ist er in Vergessenheit geraten. Und erst Jahre später wurde über den Ruinen jenes Forts das jetzige Gefängnis errichtet.»

«Und wie zum Teufel hast du dieses Tagebuch gefunden? Ich wusste gar nicht, dass du so ein Bücherwurm bist.»

«Es gehörte meinem Großvater. Er hat es mir bei seinem Tod vermacht.»

«Woher wissen wir, ob es den Gang noch gibt?»

«Ich hoffe, dass es ihn gibt und er noch begehbar ist, aber ganz sicher können wir erst sein, wenn wir ihn gefunden haben. Wir müssen das Flussufer absuchen, der Eingang zum Tunnel müsste dort in der Nähe liegen, wahrscheinlich am Waldrand. Man kann ihn vom Fort aus nicht sehen. Mit ein bisschen Glück kommen wir von dort aus in das Abwassersystem.»

«Der alte Fluchtweg der Engländer dient uns also für einen Angriff. Welch Ironie», bemerkte Klaus.

«Nicht wahr? Wenn wir einmal drin sind, brauchen wir nur der Karte zu folgen.»

«Was für eine Karte?»

Scott holte eine Papierrolle hervor und breitete sie über der Skizze auf dem Boden aus.

«Wo hast du das her?»

«Sagen wir, ich habe es geliehen. Du machst dir keine Vorstellung davon, was man alles in der Kongressbibliothek findet.»

Die Karte zeigte das verzweigte Abwassersystem, das unter dem Fort verlief.

«Wenn ich die Stellen im Tagebuch richtig deute, dann müsste der Tunnel etwa hier mit dem Hauptnetz verbunden sein», sagte Scott und zeigte auf einen Punkt auf der Karte. «Wenn wir dort angekommen sind, gehen wir unterirdisch bis zu dem Zellenkomplex, wo Richard untergebracht ist. Und hier», er deutete auf ein Kreuz, das er in den Plan eingezeichnet hatte, «müsste es einen Abflussschacht geben.»

Beeindruckt sah Klaus ihn an.

«Woher weißt du, wo Richard sich befindet?»

Die genauen Angaben hatte er von Noah bekommen, dem es gelungen war, Richard bis zu seinem neuen Aufenthaltsort zu begleiten.

«Sagen wir, ich habe so meine Quellen.»

«Schon verstanden.»

«Wir klettern den Schacht hoch und kommen so in das Gefängnis. Zurück müssen wir den gleichen Weg benutzen. Wenn die Soldaten bemerken, dass Richard verschwunden ist, sind wir schon weit weg.»

«Gut. Das sieht alles ganz einfach aus. Aber was machen wir, wenn wir die Wachhabenden auf ihrem Rundgang treffen?»

«Gar nichts. Wir werden nämlich niemanden treffen. Richard ist in einer der am tiefsten gelegenen Zelle des Gefängnisses untergebracht, das Quartier der Wachen ist weit entfernt», erklärte Scott und zeigte ihm den Platz auf der Karte. «Hier siehst du, dass es ein Stockwerk darüber liegt. So früh am Morgen und bei der Kälte wird keiner von ihnen auf die Idee kommen, einen Rundgang zu machen.»

Klaus war überrascht. Scott hatte alles bis ins letzte Detail geplant, die Rettungsaktion schien fast etwas zu einfach.

«Ich bin froh, dich nicht zum Feind zu haben», gestand er. «Wenn du dich mit nur zwei Mann in das sicherste Fort des Landes wagst, will ich lieber nicht wissen, was du mit einem Regiment anstellen würdest.»

«Zum Glück werden wir beide das nie erfahren.»

Dann gingen sie den Plan noch einmal sorgfältig durch.

Sie benötigten eine weitere Nacht, um den Eingang des Tunnels zu finden. In der Nacht darauf kehrten sie dorthin zurück. Es war Neumond, und ein dünnes Wolkenband verdeckte die Sterne. Perfekt. In dieser Dunkelheit konnte man nur zwei Meter weit sehen.

Der Eingang des Tunnels war von Unkraut überwuchert. Scott bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp, das in den letzten achtzig Jahren ein Geheimnis bewahrt hatte. Klaus, der zunächst ein wenig zurückgeblieben war, um die Pferde hinter den Bäumen zu verstecken, stieß zu ihm und bot ihm eine seiner Pistolen an.

Scott lehnte ab. «Ich werde sie nicht brauchen.»

«Bitte», drängte ihn Klaus.

«Gib dir keine Mühe, Klaus. Ich möchte keine Waffe. Ich habe alles, was ich brauche.»

Erst jetzt bemerkte Klaus den schweren Rucksack, den Scott auf dem Rücken trug.

«Gut. Wie du willst», sagte er und steckte die Waffe wieder in den Gürtel. «Geh du vor.»

Sobald sie ein paar Meter tief im Tunnel waren, holte Scott zwei Fackeln aus dem Rucksack, zündete sie an und gab eine davon Klaus, der wegen der geringen Höhe des Gangs gebückt gehen musste. Von der Decke und den Wänden des Tunnels hingen Flechten herab und streiften ihre Gesichter.

Nach etwa zehn Minuten endete der Gang plötzlich.

«Verdammt», rief Klaus. «Ich wusste ja, dass es nicht so einfach sein kann.»

Aber Scott holte nur stumm eine kleine Spitzhacke aus dem Rucksack und begann den Erdwall zu bearbeiten, der ihnen den Weg versperrte.

«Da kommen wir niemals durch», beklagte sich Klaus. «Wir haben ja nicht einmal eine Vorstellung davon, wie weit es noch bis zu den Kloaken ist.»

«Merkst du nichts?», fragte Scott, der unermüdlich weiter auf die Erde einhackte.

«Was soll ich bemerken?»

«Den Geruch.»

Ein weiterer kräftiger Schlag löste einen kleinen Erdrutsch aus, und eine rote Mauer kam zum Vorschein.

«Das ist Backstein», sagte Klaus. «Der Tunnel ist zugemauert worden.»

Aber Scott gab nicht auf. Er hieb auf die Mauer ein, und ein paar Schläge später klaffte ein Loch in der Wand, durch das die beiden Männer problemlos passen würden.

«Igitt, wie das stinkt!»

«Wir haben es geschafft, Klaus!», rief Scott. «Das sind die Abwasserkanäle!»

Scott zwängte sich als Erster durch das Loch. Klaus folgte ihm.

Der Gestank war widerwärtig. Schmutziges Wasser stand ihnen bis zu den Knien. Am Rand entdeckten sie ein paar Ratten, die rasch untertauchten, als Licht auf sie fiel.

«Verdammte Biester», schrie Klaus und spürte, wie ihn eine Gänsehaut überlief.

Scott wirkte keinen Moment lang unsicher. Er hatte sich die Karte gut eingeprägt und bewegte sich mit einer solchen Leichtigkeit durch den Tunnel, dass Klaus ihn fast im Verdacht hatte, früher schon einmal dort gewesen zu sein.

Als sie an einer Abzweigung ankamen, blieb er dann aber doch stehen und leuchtete in beide Tunnel hinein.

«Was ist los?»

«Das hier ist nicht eingezeichnet.»

«Was soll das heißen, es ist nicht eingezeichnet?»

«Warte hier. Ich bin gleich zurück.»

«Das rate ich dir auch …», protestierte Klaus. Er hätte schwören können, dass er Scott kurz lachen hörte, aber dann war sein Freund schon in einem der Tunnel verschwunden.

«Verdammter besserwisserischer Yankee!», schimpfte er innerlich.

Zu allem Überfluss spielte eine Ratte zwischen seinen Beinen herum. Als er versuchte, sie mit der Fackel zu vertreiben, machte er eine so jähe Bewegung, dass die Fackel im Wasser landete, wo sie zischend verglühte.

Als Scott endlich zurückkam und Klaus aus der Dunkelheit erlöste, war dieser am Rand eines Nervenzusammenbruchs.

«Das wurde auch Zeit», schimpfte er leise.

«Alles in Ordnung, Klaus?»

«Wenn wir hier raus sind, wird alles wieder in Ordnung sein.»

«Es ist nicht mehr weit. Komm.»

Am Ende des Ganges war eine Eisenleiter in die Wand eingelassen.

«Kletter da hoch», sagte Scott und beleuchtete die Sprossen. «Ich bin hinter dir.»

Misstrauisch beäugte Klaus die Leiter. Sie war verrostet und sah nicht so aus, als könnte sie das Gewicht eines Mannes seiner Statur aushalten. Aber die Leiter hielt. Drei Meter weiter oben hob Klaus den Kanaldeckel hoch und schob ihn beiseite. Vorsichtig streckte den Kopf in den Gang. Niemand war zu sehen. Genau wie Scott vorausgesagt hatte, war kein Wachmann in der Nähe. Schnell kletterte er ganz aus dem Schacht. Lieber hätte er sich einem ganzen Regiment entgegengestellt, als eine Sekunde länger in diesem Rattenloch zu verweilen. Nachdem er sich ein wenig umgesehen hatte, gab er Scott ein Zeichen nachzukommen.

Obwohl der Gang gut beleuchtet war, war er doch eng und feucht. Zu beiden Seiten befanden sich Zellen. Die Türen waren aus massivem Holz, in denen sich kleine rechteckige Öffnungen befanden.

Auf der Suche nach ihrem Freund spähten sie der Reihe nach in alle Zellen.

«Hier ist er!», rief Klaus endlich.

Schnell rannte Scott zu ihm und sah durch die Öffnung. Dann holte er eine Zange aus dem Rucksack und gab sie Klaus, der das Vorhängeschloss ohne große Schwierigkeiten aufbrechen konnte. Scott betrat den Raum und näherte sich Richard. Regungslos lag sein Freund auf dem Boden.

«Richard!», rief Scott erschrocken aus und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Er war schweißgebadet und glühte. Seine Haut war gelblich blass, und durch das Fieber waren seine Lippen rissig geworden. Richards Lider zitterten, bevor er die Augen öffnete.

«Schon wieder habe ich Visionen», lächelte er.

«Kannst du gehen?», fragte Scott, als er bemerkte, dass Richard blutete. Seine Wunden mussten wieder aufgegangen sein.

«Ich kann es versuchen», sagte er, schaffte aber nicht einmal, sich zum Sitzen aufzurichten. Seufzend sank er zurück auf den Boden. «Es tut mir leid, mein Freund. Du hättest nicht kommen dürfen. Ich kann nicht. Geh!»

Klaus, der an der Tür Wache gehalten hatte, näherte sich den beiden.

«Du glaubst doch nicht, dass ich die Ratten zwischen meinen Füßen ertragen habe, um dich dann hier zurückzulassen!»

Mit Scotts Hilfe lud Klaus sich den Verletzten auf die Schultern und trug ihn aus der Zelle. Es würde schwierig werden, ihn durch den Schacht zu den Kanälen hinunterzubringen, aber zum Glück hatte Scott ein Seil mitgebracht, das er Richard nun fest um die Brust band. Dann stieg er selbst in den Schacht, und Klaus ließ Richard langsam hinunter.

Der Abstieg über die Leiter war schwierig und dauerte lange, aber mit vereinten Kräften ließen die beiden Männer ihren geschwächten Freund vorsichtig hinunter. Als Scott und Richard unten angekommen waren, kletterte Klaus schnell hinterher, nachdem er den Schachtdeckel an seinen Platz zurückgezogen hatte. Unten lud er sich Richard erneut auf den Rücken. Dann holte Scott eine weitere Fackel aus seinem Rucksack und übernahm wieder die Führung.


Weil Richard sich kaum aufrecht halten konnte, setzten sie ihn hinter Klaus aufs Pferd und banden ihn mit dem Seil an ihm fest.

Sie kamen nur langsam voran und gelangten erst im Morgengrauen zu einer Brücke, die über die Schlucht führte. Im Schritttempo überquerten sie den Fluss, der fünfzehn Meter unter ihnen in der Tiefe lag.

Plötzlich wurde die Stille von Kanonendonner zerrissen.

«Das kommt vom Fort!»

«Ich weiß», sagte Scott. «Ich dachte, wir hätten etwas mehr Zeit, bis sie die Flucht entdecken würden. Anscheinend haben sie doch noch einen Rundgang gemacht.» Er ließ seinen Blick über den Horizont schweifen. Bisher sah man noch keine Spur von ihren Verfolgern.

«Wie viel Zeit haben wir?», fragte Klaus.

«Ich denke, wir haben eine Stunde Vorsprung. In zwei Stunden werden sie uns erreicht haben.»

«Zwei Stunden? Bei diesem Tempo brauchen wir mindestens drei bis zur Grenze. Wir werden es niemals schaffen.»

Jetzt hatten sie die andere Seite der Brücke erreicht, und Scott zügelte sein Pferd und saß ab.

«Was tust du da, Scott? Wir müssen weiter!»

«Wir brauchen mehr Zeit.»

«Aber woher sollen wir die nehmen?»

Scott drehte sich um und deutete auf die beiden Fässer mit Schwarzpulver.

«Ich werde die Brücke sprengen.»

«Damit? Du bist verrückt.»

Die Brücke bestand aus einer soliden Metallkonstruktion und spannte sich in einem einzigen Bogen, der von zwei Stützpfeilern gehalten wurde, über die Schlucht.

«Hast du dir das genau angesehen?», fragte Klaus. «Du brauchst mindestens doppelt so viel Pulver, um diese Pfeiler zu zerstören. Damit wirst du nicht einmal einen Kratzer verursachen.» Er war sichtlich ärgerlich.

«Mach dir keine Sorgen, vertrau mir einfach.»

«Ich will dich nicht beleidigen, Scott, aber das hier ist keine einfache Sache, und in der Akademie warst du nicht gerade der Klassenbeste.»

Scott grinste. «Nun, es ist nicht immer alles so, wie es scheint.»

«Meinetwegen», lenkte Klaus ein. Er musste zugeben, dass Scott diese ganze Rettungsaktion allein geplant hatte. «Versuch es. Außerdem haben wir kaum eine andere Möglichkeit.»

«Es wird funktionieren, ich habe es genau durchdacht. Die Brücke ist zwar solide konstruiert, aber wenn meine Berechnungen stimmen, müsste sie nachgeben. Und der nächste Übergang ist fast sechs Meilen weiter. Wenn sie die Schlucht zuerst an dieser Stelle zu überqueren versuchen, seid ihr in Sicherheit. Jetzt müsst ihr aber los.»

Klaus’ Gesichtsausdruck verriet seine Gedanken.

«Und du?»

«Mir wird nichts geschehen. Ich trage keine Waffen, und mein Akzent schützt mich. Selbst wenn ich auf Soldaten der Union treffe, kommen sie doch niemals auf den Gedanken, dass ich einem konföderierten Offizier zur Flucht verholfen habe. Mach dir keine Sorgen.»

Aber Klaus machte sich Sorgen. Richards Zustand verschlechterte sich zusehends. Immer wieder verlor er für längere Zeit das Bewusstsein, und Klaus wollte ihn so schnell wie möglich in Sicherheit bringen. Sollte Scotts Plan nicht funktionieren, dann würden die Soldaten die Brücke überqueren können, und ihrer aller Leben wäre in Gefahr.

In diesem Moment erwachte Richard für einen Moment aus der Bewusstlosigkeit und lächelte. «Vertrau ihm. Er wird es schaffen», flüsterte er Klaus ins Ohr.

«Seid ihr denn alle beide verrückt geworden?»

Langsam drehte Richard sich zu Scott um. «Danke, mein Freund», sagte er. Scott trat zu ihm und drückte ihm die Hand.

«Pass auf dich auf, Richard.»

Kraftlos schloss Richard die Augen und lehnte sich wieder gegen Klaus’ breiten Rücken.

Klaus warf Scott einen letzten Blick zu und gab seinem Pferd die Sporen. Worte waren nicht mehr notwendig. Beide würden ihr Leben geben, um ihren Freund zu retten.

Sobald Klaus und Richard ihren Weg wieder aufgenommen hatten, kletterte Scott über das Brückengeländer und ließ sich seitlich zu einem der Pfeiler hinunter. Dort brachte er geschickt die Pulverfässchen an. Dann hangelte er sich zurück ans Ufer, bereitete die Zündschnur vor und versteckte sich im Unterholz.

Eine halbe Stunde später war Klaus auf einem Hügel angelangt und hielt sein Pferd im Schutz einer Baumgruppe an. Richard hatte wieder das Bewusstsein verloren.

Klaus sah, wie sich die Soldaten von der anderen Seite des Flusses her mit hoher Geschwindigkeit näherten. Jetzt konnte er auch Scott ausmachen, der die Zündschnur angezündet hatte und sich hinter einen Felsen duckte. Es ertönte ein dumpfer, kurzer Laut. Nur eine Sekunde später wäre die ganze Kolonne von der Detonation erfasst worden, aber Scott hatte darauf geachtet, niemanden zu verletzen. Als der Rauch verflogen war, musste Klaus feststellen, dass die Metallstruktur nicht beschädigt war. Die Soldaten, die beim Knall zurückgewichen waren, gruppierten sich jetzt neu, um die Brücke zu überqueren.

«Das konnte ja nicht gutgehen», fluchte Klaus. Ihm war bewusst, dass man Scott gefangen nehmen würde, sobald die Soldaten die Schlucht überquert hatten. Fieberhaft dachte er nach. Am liebsten wäre er umgekehrt, um Scott zu Hilfe zu eilen, aber er konnte Richard nicht allein zurücklassen und würde ohnehin nicht rechtzeitig da sein.

Und dann plötzlich hörte er das Knarren. Es war, als würde die Brücke ein metallisches Klagen ausstoßen.

Vor seinen erstaunten Augen brach die Brücke wie ein Kartenhaus zusammen.

«Verfluchter Yankee! Du hast es mal wieder hingekriegt!», rief Klaus voller Freude. Von dem tosenden Krach war jetzt auch Richard aufgewacht. Für einen Moment schlug er die Augen auf und lächelte.

«Ich habe es dir gesagt, Klaus. Ich wusste, er würde es schaffen», flüsterte er kraftlos. «Er hat mich zwar gebeten, das Geheimnis zu bewahren, aber eigentlich war nicht ich der Klassenbeste.»

«Warum bloß überrascht mich das nicht», lachte Klaus. Er wendete sein Pferd und nahm den Weg wieder auf. Jetzt musste er sich nur noch darum kümmern, Richard in Sicherheit zu bringen.

Fesseln des Schicksals
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