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Sechs Monate später, am 19. April 1865, ergab sich General Lee im Appotamox Courthouse in North Carolina. Der Krieg, in dem Brüder gegeneinander gekämpft hatten und der die Erde mit dem Blut ihrer Söhne getränkt hatte, war endlich vorbei.
Als Brian und Noah nach Hause zurückkehrten, zog Charlotte wieder mit ihrem Bruder in die Arch Street.
Professor Watson, der erst in den Ruhestand gehen wollte, wenn er sicher sein konnte, dass sein Posten dem richtigen Mann übertragen würde, bot Noah an, Chefchirurg im General Hospital zu werden. Doch Noah zögerte. Er hatte sich während des Krieges einen guten Ruf als Arzt erarbeitet und überlegte, seine eigene Praxis zu eröffnen. Das Gehalt im Krankenhaus wäre eher bescheiden, obwohl er mehr Arbeit hätte. Trotz allem konnte Noah nicht vergessen, dass er nur an diesem Ort eine Chance bekommen hatte. Als er ein einfacher, schwarzer Medizinstudent gewesen war, hatte außer dem Professor niemand an ihn geglaubt. Er hatte eine Schuld bei ihm zu begleichen. Außerdem würde die Arbeit im Krankenhaus ihn daran erinnern, wo seine Wurzeln waren. Er würde sein Leben den Armen und Ausgestoßenen widmen, zu denen er bis vor kurzem noch selbst gehört hatte. Noah bedankte sich bei seinem Mentor und nahm das Angebot an.
Kurz nachdem Charlotte aus Washington zurückgekehrt war, hatte sie eine Nachricht von Scott erhalten. Richard war wohlbehalten in Virginia angekommen. In der Zwischenzeit hatte sie nichts mehr von Scott gehört, aber sie erfuhr von Hortensia, dass Scott nach Boston zurückgekehrt war. Zu Beatriz’ großer Erleichterung war ihr Sohn zu ihnen in die Beacon Street gezogen und hatte angefangen, für seinen Vater zu arbeiten. Im Gegenzug hatte Raymond O’Flanagan sich verpflichtet, die Arbeitsbedingungen in seinen Fabriken zu verbessern. Außerdem würde er in Zukunft regelmäßig eine großzügige Summe an das General Hospital zahlen, damit seine Arbeiter und ihre Familien das Recht auf freie ärztliche Versorgung bekamen.
«Was ist los mit dir?», fragte Charlotte Noah, als er eines Abends von der Arbeit zurückkam. «Schon seit Wochen spüre ich, dass du beunruhigt bist. Ist im Krankenhaus irgendetwas nicht in Ordnung?»
«Nein, alles läuft bestens. Ich glaube, es ist das, was ich mir immer erträumt habe.»
«Aber da ist doch etwas, was dir Sorgen macht.»
«Ach, Charlotte, seit Jahren habe ich keine Nachrichten von meiner Mutter. Und man hört, dass Virginia im Krieg vollkommen zerstört wurde.»
Charlotte schwieg. Auch sie hatte Gerüchte darüber gehört, wie schwierig das Leben im Süden zurzeit war, und hatte oft an ihre Freunde gedacht.
«Es wird ihr sicher gutgehen. Velvet war immer eine starke Frau.»
«Ich kann es nicht mehr weiter aufschieben, Charlotte. Ich muss sie holen.»
Allein die Vorstellung, dass Noah in diese vom Krieg verwüstete Gegend reiste, in der der Hass gegenüber den Farbigen stärker war als je zuvor, erfüllte sie mit Angst.
«Das geht nicht. Es ist zu gefährlich. Auch wenn die Sklaven befreit wurden, die Leute haben es noch nicht akzeptiert. Du darfst nicht fahren. Bitte Brian darum, Velvet zu holen. Ich bin sicher, dass er es gern für dich tut.»
«Ich muss selbst fahren.»
«Dann bitte ihn wenigstens, dich zu begleiten.»
«Nein, Charlotte. Er ist gerade erst nach Hause zurückgekehrt, nach vier Jahren im Krieg. Ich kann ihn nicht darum bitten. Ich kann nicht riskieren, dass ihm etwas zustößt. Hortensia hat schon genug gelitten.»
«Dann komme ich mit.»
Noah lächelte. Charlotte ließ einfach niemals locker.
«Ich bin dir dankbar, dass du das für mich tun würdest, aber ich muss allein fahren. Außerdem weiß ich, dass du ihn lieber nicht wiedersehen willst.»
Bei der Erwähnung ihres Vaters stiegen Gefühle in Charlotte auf, die sie längst begraben geglaubt hatte. Sie verstummte.
«Ich muss nur noch ein paar Angelegenheiten im Krankenhaus regeln, dann fahre ich.»
Als Scott erfuhr, was sein Freund vorhatte, bot auch er sich an, ihn zu begleiten. Aber Noah lehnte ab. Es gab Dinge im Leben, denen ein Mann allein entgegentreten musste. Und David Parrish gehörte definitiv dazu.
***
Jedes Mal wenn Velvet den Blick hob und über die brachliegenden, vom Feuer gezeichneten Felder schweifen ließ, fiel es ihr schwer, ihr Zuhause wiederzuerkennen. Die Tiere waren von den Soldaten der Union beschlagnahmt worden. Die Felder und das Herrenhaus waren zu Asche verbrannt. Nur die Marmorsäulen vor der Veranda hatten den Flammen widerstehen können. Velvet warf den Hühnern eine Handvoll Mais hin und hob dann die vier Eier auf, die die Hühner über Nacht gelegt hatten. Eine der Hennen war schon zu alt, um noch Eier zu legen. Sie würden sie schlachten müssen, obwohl sich nicht mehr viel Fleisch unter Haut und Federn verbarg.
Velvets Leben war immer hart gewesen, aber nach dem Krieg war es noch schlimmer geworden. Nachdem Charlotte und Hortensia geflohen waren, hatte der Master sich verändert. Er war bitter und geizig geworden. Manchmal wurde er jähzornig und war dann beinahe gefährlich. Die Sklaven fürchteten ihn, und selbst seine Nachbarn begannen, ihn zu meiden. Als am Ende des Krieges die Befreiung der Sklaven verkündet worden war, hatten viele Schwarze die Plantagen verlassen. Auf Delow waren einige von ihnen bei ihren alten Herren geblieben, nicht so auf New Fortune. Bei der ersten Gelegenheit waren alle verschwunden. Velvet war die Ausnahme. Sie wäre ja gern mit den anderen gegangen, aber sie konnte nicht. Wie würde ihr Sohn sie sonst je wiederfinden?
Nachdem die Soldaten das Herrenhaus abgebrannt hatten, war David in das Waldhäuschen gezogen, in dem früher die Gouvernante gewohnt hatte. Damals war es ein gemütliches, hübsches Häuschen gewesen, von Bäumen und Rosensträuchern umgeben. Aber jetzt kletterte Unkraut die Wände hinauf. Die Veranda fiel fast in sich zusammen, die Farbe war abgeblättert, und das Dach hätte längst repariert werden müssen. Auch Velvet lebte in diesem Haus, aber sie hatte keine Angst. Seit Noahs Geburt hatte der Herr sich nicht wieder zu ihr gelegt. Sie kochte, wusch, kümmerte sich um den kleinen Garten, der gerade genug abwarf, dass die beiden nicht verhungern mussten, und gehorchte widerspruchslos den Befehlen des Mannes, den sie nach wie vor «Herr» nannte.
Während sie den Hühnern dabei zusah, wie sie den letzten Rest Mais aufpickten, bückte sie sich nach einem kleinen Behälter mit ein wenig Ziegenmilch, die sie vorher gemolken hatte, und ging zum Haus. Master Parrish würde bald aufstehen, und wenn sein Frühstück nicht fertig war, würde er wütend werden. Gerade wollte sie ins Haus gehen, als sie eine Kutsche hörte. Sie drehte sich um, konnte aber die Gestalt auf dem Kutschbock im Gegenlicht nicht erkennen. Sie konnte nur sehen, dass es ein Mann war. Ein schwarzer, sehr gut gekleideter Mann. Sie dachte noch, dass sie noch nie einen schwarzen Mann in einem so eleganten Anzug gesehen hatte. Jetzt ließ der Mann das Pferd anhalten und stieg vom Kutschbock hinunter. Noch immer konnte Velvet sein Gesicht nicht erkennen.
«Guten Tag», sagte sie und ging ein paar Schritte, um sich in den Schatten zu stellen.
«Hallo, Mama.»
Velvet blieb beinahe das Herz stehen. Eigentlich musste sie den Mann, der jetzt näher gekommen war, gar nicht mehr ansehen. So tief hatte sich der Klang dieser Stimme in ihrem Herzen eingegraben.
«Noah!», rief sie zaghaft und fürchtete, dass dieses Trugbild verschwinden könnte, sobald sie seinen Namen aussprach.
«Ich bin es, Mutter!»
Fassungslos ließ Velvet den Behälter mit der Milch auf den Boden fallen und lief ihm entgegen.
«Mein Junge», sagte Velvet immer wieder und umschloss das Gesicht ihres Sohnes mit beiden Händen. Tränen rollten ihr die Wangen hinunter. «Du bist zurückgekommen.»
«Ich habe es doch versprochen», antwortete er. Bewegt entdeckte er ein paar Fältchen in den Augenwinkeln seiner Mutter und streichelte ihr Gesicht. «Du bist wunderschön.»
Noah hatte sich verändert. Seine Augen, sein ehrliches und schönes Lächeln. Er war ein Mann geworden.
«Du siehst so anders aus», sagte sie und staunte über die elegante Bekleidung.
«Ich bin jetzt Arzt.»
«Arzt!», wiederholte sie, als könnte sie kaum fassen, dass ein Sklave Arzt sein könnte. «Für Sklaven?»
Noah lächelte. «Für freie Menschen, Mutter.»
Wieder umarmte Velvet ihren Sohn. Sie wollte ihn spüren. Sie wollte sicher sein, dass er wahrhaftig da war.
«Lass uns fahren, Mutter. Hol deine Sachen. Wir haben eine lange Reise vor uns.»
«Wohin fahren wir?»
«Nach Hause.»
«Ich muss nichts holen. Alles, was ich brauche, trage ich am Leib.»
«Dann komm.»
Noah half seiner Mutter dabei, in den Einspänner zu steigen. Gerade wollte er sich neben sie setzen, als sich die Tür des Häuschens öffnete.
David Parrish stellte sich mitten auf die Veranda. Er war alt geworden. Seine Kleider waren zerschlissen, das Haar ungekämmt, und er trug einen mehrere Tage alten Bart. Trotzdem hatte seine Haltung nichts von ihrem Hochmut eingebüßt, und in seinem Blick lag der gleiche Hass, den Noah immer gefürchtet hatte.
«Du willst dich also nicht einmal verabschieden», sagte sein Vater.
Velvet senkte den Kopf.
«Undankbare Negerin», schimpfte er. «Und du?», schrie er Noah an. «Was willst du auf meinem Land?»
Einen Moment lang überkam Noah eine fast lähmende Angst. Er war zwar ein erwachsener Mann, und David war auch nur ein Mann, allein und unbewaffnet. Trotzdem spürte er, wie die unsichtbaren Ketten eines Lebens in Unterwerfung schwer auf ihm lasteten.
«Ich bin gekommen, um meine Mutter zu holen.»
Velvet wurde unruhig an seiner Seite.
«Treu wie ein Hund ist er, dein Sprössling. Meinetwegen kannst du sie mitnehmen», sagte er verächtlich. «Sie ist sowieso zu nichts nütze.»
Am liebsten hätte Noah kein Wort mit diesem Mann gewechselt, aber die Verachtung, mit der er über seine Mutter gesprochen hatte, konnte er nicht hinnehmen.
«Bilden Sie sich nichts ein, Sir. Sie braucht Ihre Erlaubnis nicht, um zu gehen. Sie ist frei und kann tun, was sie will. In diesem Land gibt es keine Sklaven mehr.»
«Ah, ich verstehe. Du denkst, dass die teuren und eleganten Kleider etwas aus dir machen. Aber du bist immer noch ein Nichts. Du bist nur ein Sklave mit den Allüren eines Herrn.»
«Bitte, Noah, lass uns fahren. Kümmere dich nicht um ihn», bat ihn Velvet.
«Nein, Mutter. Warum sollten wir zulassen, dass dieser Mann uns weiter demütigt?», erklärte Noah. «Was glaubt er denn, wer er ist? Wo sind seine Freunde? Seine Familie? Er soll sich doch nur einmal ansehen. Er kann einem leidtun. Nichts weiter als ein einsamer Tyrann ist aus ihm geworden. Alle, die ihn einmal geliebt haben, haben ihn verlassen.»
Davids Augen funkelten vor Zorn.
«Verdammter Neger!»
Aber Noah ließ sich nicht mehr einschüchtern.
«Sieh ihn dir gut an, Mutter. Er hat niemanden. Wer wird bei seinem Begräbnis weinen? Wo hat sein Stolz ihn hingeführt?»
«Es ist genug, Noah!», bat ihn seine Mutter. «Vergiss nicht, dass er dein Vater ist.»
«Das vergesse ich keineswegs. Ich habe es nie vergessen können. Mein ganzes Leben lang habe ich eine freundliche Geste von ihm erwartet, irgendein Zeichen der Anerkennung. Erst jetzt begreife ich, dass ich das nie bekommen werde. Niemals. Ob ich ein reicher Mann bin oder Arzt, er wird mich nicht akzeptieren.»
«Noah …», sagte seine Mutter sanft.
«So ist es doch, Vater?», stieß er voller Schmerz aus.
David antwortete nicht. Aber sein hasserfüllter Blick bestätigte jedes einzelne von Noahs Worten.
Noah hielt Davids Blick stand. Er ließ sich nicht mehr einschüchtern. Auf einmal fühlte er weder Trauer noch Angst. Endlich hatte dieser Mann die Macht über ihn verloren.
Noah kehrte ihm den Rücken zu und stieg auf den Kutschbock. Er war frei und hatte die Fesseln seiner Vergangenheit zerrissen. Ihm blieb nur noch die Zukunft. Eine neue, offene Zukunft an der Seite seiner Mutter und seiner Schwestern.
***
Velvet zog zu Noah und Charlotte in die Arch Street. Obwohl sie es nicht erwartet hätte, fiel es ihr schwer, frei zu sein. Noch immer kam es ihr komisch vor, das Haus zu verlassen, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten. Auch konnte sie sich nicht daran gewöhnen, dass Charlotte und Hortensia plötzlich Mitglieder ihrer Familie waren, nicht mehr ihre jungen Herrinnen. Sie fühlte sich unwohl bei den gemeinsamen Mahlzeiten oder wenn sie im gleichen Raum saßen. Aber alle schienen sie gern zu haben, und Noahs Anwesenheit machte alles einfacher. Eines Tages ging Charlotte mit ihr einkaufen. Schließlich brauchte die Mutter des besten Chirurgen der Stadt eine angemessene Garderobe. Noch dazu wo Beatriz O’Flanagan in Kürze ein großes Fest geben würde, um das Ende des Krieges und die Heimkehr ihrer Söhne zu feiern. Auch Gaston Lacroix würde aus New Orleans anreisen und sogar den Rest der Familie mitbringen.
Nachdem sie mehr Kleider in Auftrag gegeben hatten, als Velvet glaubte, je anziehen zu können, kauften sie ein paar Krapfen und aßen sie auf dem Weg nach Hause. Charlotte hörte keine Sekunde auf zu reden. Eigentlich war Velvet an gesellschaftlichem Klatsch über Leute, die sie nicht kannte, nicht interessiert, nun aber nickte sie zu jedem Wort. Sie mochte die Lebendigkeit, mit der Charlotte alles in ihrem Leben anging. Charlotte schwieg einen Moment, biss ein Stück von ihrem Krapfen ab und lächelte Velvet an. Auch Noahs Mutter lächelte. Sie war glücklich.
***
Das Fest bei den O’Flanagans sollte das herausragendste gesellschaftliche Ereignis des Jahres werden. Es wurde bis ins letzte Detail geplant. Die Einladungen mit Goldrand und schönster Schrift waren zwei Wochen vorher verschickt worden. Nur die beste Bostoner Gesellschaft würde kommen.
Am Abend vor dem Fest wusste Charlotte noch immer nicht, was sie anziehen wollte. Auf dem Fußboden ihres Zimmers war ein Haufen Schuhe verstreut, und auf dem Bett lagen mindestens vier Kleider.
Sie hielt sich ein Kleid vor den Körper und betrachtete sich prüfend im Spiegel. Obwohl es ihr gut stand, war es nicht spektakulär. Darin könnte sie vielleicht zu den Nachbarn zum Tee gehen, aber nicht auf ein Fest, auf dem die Juwelen der Damen selbst die Mittagssonne überstrahlen würden.
Charlotte warf ihrem Spiegelbild einen letzten Blick zu und verzog das Gesicht. Dann ließ sie das Kleid auf den Boden fallen und wollte gerade das nächste probieren, als es klopfte.
«Verdammt!», schimpfte sie ärgerlich, als ihr einfiel, dass Noah und Velvet spazieren gegangen waren. «Ich komme schon!», rief sie, als es zum zweiten Mal klopfte.
Ihre Hand drehte bereits den Türknauf, als Charlotte entsetzt feststellte, dass sie im Unterrock dastand.
«O mein Gott!», rief sie und lehnte sich mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers gegen die Tür. «Einen Moment!» Schnell riss sie das erste Kleidungsstück von der Garderobe, das sie zu fassen bekam, und zog es sich über.
Sobald sie sich bedeckt hatte, setzte sie ein freundliches Lächeln auf und öffnete die Tür, gegen die schon wieder geklopft wurde.
«Hallo, Charlotte», grüßte Scott, den man in seinem eleganten neuen Anzug kaum wiedererkannte.
Durch den unangekündigten Besuch überrumpelt, konnte Charlotte ihre Emotionen und den Impuls, ihn zu umarmen, nicht zurückhalten. Sie hatte Scott so sehr vermisst … Aber als sie die Arme um ihn legte, spürte sie, wie Scotts Körper sich versteifte. Sofort ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. Sie schluckte.
«Ich freue mich, dich zu sehen», brachte sie heraus, bemüht, die Trauer zu verbergen, die seine Abwehr in ihr ausgelöst hatte. «Du siehst so anders aus.»
«Auch du siehst irgendwie anders aus», antwortete er und sah sie von oben bis unten an.
In der Eile hatte Charlotte sich Noahs Mantel gegriffen. Er reichte bis zum Boden, und die Schultern hingen ihr bis auf die Ellbogen hinab. Sie zog ihn etwas enger um sich.
«Ich war gerade dabei, Kleider für morgen anzuprobieren …»
Scott grinste.
«Das ist nicht besonders witzig», bemerkte sie ärgerlich.
«Ein bisschen schon», erwiderte er und gab sich keine Mühe, seine Belustigung zu verbergen.
«So sehr hast du dich wohl trotzdem nicht verändert, trotz deines vorbildlichen Aufzugs.»
«Jetzt wo ich für meinen Vater arbeite, muss ich ein bisschen vorbildlich aussehen. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich es bin», bemerkte er amüsiert.
«Willst du hereinkommen?»
Scotts Gesicht verdüsterte sich erneut.
«Nein danke. Ich brauche nur einen Moment», sagte er und betrachtete wehmütig das Haus, in dem er die schönsten Momente seines Lebens verbracht hatte.
Charlotte wurde unruhig. Warum war er so ernst? Was wollte er ihr sagen? Wollte er etwa noch einmal um ihre Hand bitten?
«Ich möchte dich nicht lange stören», entschuldigte er sich und sah ihr in die Augen. «Ich bin nur vorbeigekommen, um dir zu sagen, dass Richard morgen auf das Fest kommt.»
Bei diesen Worten hellte Charlottes Miene sich auf. «Richard? Kommt er nach Boston?»
«Er wird heute Abend ankommen. Er und mein Freund Klaus Fritz wohnen im Haus meiner Eltern. Ich dachte, du würdest das gern wissen.»
Dann wandte Scott sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um. «Übrigens, Richards Frau, Camille, ist vor ein paar Monaten gestorben.»
Noch bevor sie etwas erwidern konnte, war Scott gegangen. Langsam schloss Charlotte die Tür.
Durch dieses Unglück war Richard wieder frei. Jetzt war für sie beide wieder alles möglich, aber trotzdem verspürte Charlotte Traurigkeit. Sie hatte Camille nie besonders gemocht, aber sie war noch so jung gewesen … Wie konnte Scott ihr all das sagen und dann einfach fortgehen, dachte sie wütend. Plötzlich hatte sie überhaupt keine Lust mehr, ein Kleid anzuprobieren. Das Fest war ihr vollkommen egal geworden. Sie ging in ihr Zimmer hoch und warf sich aufs Bett. Und während die Tränen über ihre Wangen rollten, schlief sie ein. Ihre Träume führten sie nach Delow, in die Nacht, in der Richard sie geküsst hatte. Sie hörte die Grillen zirpen und spürte die frische Abendbrise auf ihrer Haut, während Richard sie in seinen Armen hielt. Aber es war gar nicht Richard, der sie in ihrem Traum küsste. Es waren nicht seine Küsse, die sie erbeben ließen. Als Charlotte schweißgebadet erwachte, war es schon fast zehn Uhr. Sie trat vor den Spiegel und sah sich an. Eigentlich hatte sie es immer gewusst. Sie hatte es gespürt, als Scott sie umarmt und geküsst hatte. Sie liebte ihn, und wenn Scott dachte, dass er sie einfach so an Richard weiterreichen könnte, dann kannte er sie schlecht.
Schnell zog sie eines der Kleider an, die noch auf dem Boden lagen, warf sich einen Schal über die Schultern und ging aus dem Haus. Sie musste unbedingt mit Scott reden.
Obwohl es schon dunkel war, nahm Charlotte die Abkürzung durch den Park. Sie hatte es eilig, und das war der kürzeste Weg zu den O’Flanagans.
«Guten Abend, Miss Lacroix», wurde sie vom Butler begrüßt. Dann forderte er sie auf einzutreten.
«Guten Abend. Könnten Sie bitte Scott sagen, dass ich ihn sehen muss?»
Noch bevor der Diener ihr mitteilen konnte, dass Scott noch nicht wieder zurück war, erschien er hinter ihr in der Haustür.
Sie drehte sich um, und die beiden sahen sich an. Charlotte lächelte und wollte gerade auf ihn zulaufen, als plötzlich auch Richard und Klaus hinter ihm auftauchten.
«Charlotte!», rief Richard aus und ließ vor Überraschung seine Tasche fallen.
Schnell wandte Scott seinen Blick ab und trat zur Seite. «Charlotte», sagte Richard wieder und ging auf sie zu.
«Richard, ich habe mir solche Sorgen gemacht», sagte sie und fiel ihm um den Hals. «Scott hatte mir eine Nachricht geschickt, dass du wohlbehalten angekommen warst, aber …»
«Mir geht es gut», sagte er glücklich lächelnd.
«Ich bin so froh», sagte Charlotte bewegt. «Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen.»
Richard, der den Blick nicht von Charlotte wenden konnte, schien sich erst jetzt darauf zu besinnen, dass sie nicht allein waren.
«Ich weiß nicht, ob du dich an meinen Freund Klaus Fritz erinnerst.»
«Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen, Miss Charlotte», sagte Klaus. Als er ihr zulächelte, erinnerte Charlotte sich an den hochgewachsenen, blonden jungen Mann, der Richards Gast auf Delow gewesen war.
«Ganz meinerseits, Mr. Fritz.»
Behutsam ergriff Richard Charlottes Hände.
«Ich kann mir vorstellen, dass ihr viel miteinander zu besprechen habt», unterbrach Scott sie brüsk. «Wenn ihr uns entschuldigt, wir werden uns zurückziehen. Gute Nacht, Charlotte.»
«Aber ich … ich wollte …»
Noch bevor sie den Satz beenden konnte, hatte er Klaus schon ein Zeichen gegeben.
«Gute Nacht», verabschiedete Klaus sich höflich.
Richard konnte nicht aufhören zu lächeln und ließ auch ihre Hand nicht los. Charlotte fühlte sich unfähig, ihn zu enttäuschen. Wie hätte sie ihm sagen können, dass sie eigentlich zu Scott wollte?
«… Gute Nacht», brachte sie schließlich heraus. Dann sah sie, wie Klaus seinem Freund zuzwinkerte und Scott hinterherlief, der bereits verschwunden war, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Nach all dem vergangenen Leid standen Richard und Charlotte sich nun wieder gegenüber. So viel Zeit war verflossen.
«Es tut mir leid, dass Camille gestorben ist», sagte Charlotte.
Richards Gesichtsausdruck verriet, dass sie ein schmerzhaftes Kapitel angesprochen hatte.
«Sofort nach unserer Hochzeitsreise bin ich in See gestochen. Dann kam der Krieg. Ich habe nur ein paar Monate an ihrer Seite verbracht. Niemals hätte ich sie heiraten dürfen. Ich dachte, dass ich ein guter Ehemann werden könnte, aber sie hätte einen Mann verdient, der sie liebte. Obwohl ich trotz allem glaube, dass Camille glücklich war.» Seine Stimme klang schuldbewusst.
Sanft legte Charlotte ihm die Hand auf die Lippen. «Sprich nicht weiter. Sie hat dich geliebt, das weiß ich. Und ich bin sicher, dass sie glücklich war. Sie hätte keinen besseren Mann finden können.»
«Ich habe nie aufgehört, mich zu fragen, ob ich das Richtige getan habe. Vielleicht hätte ich die Drohungen meines Onkels einfach nicht beachten sollen. Nun, wenigstens ist dir nichts geschehen.»
Offensichtlich wusste Richard nicht, dass das Schicksal, vor dem er sie bewahren wollte, sie doch noch getroffen hatte.
«Du hast das Richtige getan. Zweifle niemals daran. Du bist ein Ehrenmann, und ich glaube, genau deswegen habe ich mich auch in dich verliebt. Du hattest deiner Familie gegenüber eine Verpflichtung und hast dein Glück für das Wohl der anderen geopfert.»
«Sag das nicht.»
«Aber es stimmt. Wenn du deine Verpflichtung missachtet hättest, wenn wir weggelaufen wären … Du hättest deine Familie sehr enttäuscht. Und wenn die Wahrheit ans Licht und Schande über die Deinen gekommen wäre, hättest du dich immer schuldig gefühlt. Wir hätten niemals glücklich werden können. Und du hast dich für mich geopfert, Richard. Du hast es getan, um mich zu beschützen. In diesem Moment gab es keine andere Möglichkeit.»
«Ich werde dich nie wieder gehen lassen», sagte er und hob leicht ihr Kinn, damit sie ihm in die Augen sah.
Doch als er sie küssen wollte, wandte Charlotte das Gesicht ab.
«Es ist zu spät, Richard.»
Er hielt inne.
«Das ist es nicht. Wir sind frei. Es ist mir egal, ob deine Mutter eine Sklavin ist …»
Richard legte seine Arme um sie.
«Ich liebe dich.»
Charlotte sah ihm in die Augen.
Erst jetzt bemerkte er, dass ihr Licht sich verändert hatte. Er sah Zuneigung und Schmerz, aber sosehr er auch suchte, er konnte in diesen smaragdgrünen Augen nicht mehr die Leidenschaft entdecken, nach der er sich so lange gesehnt hatte. Langsam ließ er seine Arme sinken.
«Es ist zu spät, Richard», sagte sie noch einmal.
«Zu spät?», fragte er verwirrt.
Sie trat einen Schritt zurück.
«Es tut mir so leid», sagte sie und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Es war so schwer, dem Mann, den sie ihr ganzes Leben lang geliebt hatte, die Wahrheit zu sagen.
Richard schwieg.
«Ich weiß nicht, wie und wann es geschehen ist. Ich verstehe es nicht einmal. Wenn mein Leben anders verlaufen wäre. Wenn ich …» Charlotte wagte nicht weiterzusprechen, aber Richard erriet, was sie sagen wollte.
«… Scott.»
«Woher weißt du?»
«Das ist nicht schwer. Zuerst habe ich es nicht begriffen, aber jetzt … Obwohl er sich über unser Wiedersehen gefreut hat, habe ich gespürt, dass ihn etwas tief beunruhigte. Dann habe ich bemerkt, wie du ihn angesehen hast und wie er deinem Blick auswich. Dieses ‹Etwas› warst du.»
«Ich möchte dir nicht wehtun, Richard.»
Charlotte sah ihn ängstlich an.
Richard spürte einen tiefen Schmerz in seiner Brust. Noch vor einer Sekunde war alles möglich gewesen. Das Leben hatte ihm eine zweite Chance geschenkt. Und nun musste er wieder machtlos zusehen, wie die Frau, die er liebte, von ihm ging.
Richard atmete tief ein und schwieg, während er versuchte, Ordnung in das Chaos seiner Gefühle zu bringen.
«Wie sonderbar», flüsterte er nach einer Weile. «Der Mann, dem ich mein Leben zu verdanken habe, nimmt mir jetzt das Wertvollste, was es darin gab … Aber wenn es einen Mann gibt, der deine Liebe verdient, dann ist es Scott.» Ruhig ergriff er nun Charlottes Hände und sah ihr in die Augen. «Ich kann dich verstehen. Und ich weiß, dass er sich nie zwischen uns gedrängt hat, obwohl er dich geliebt hat.» Lächelnd schüttelte Richard den Kopf. «Als er erfuhr, dass Camille gestorben war, hat er mir geschrieben und darauf bestanden, dass ich ihn besuchen komme. Jetzt verstehe ich, warum. Er weiß nicht einmal, dass du in ihn verliebt bist.»
Charlotte hatte einen Kloß im Hals.
«Es tut mir leid», sagte sie wieder. «Verzeih mir.» Tränen füllten ihre Augen. Dann gab Richard ihr einen Kuss, und Charlotte verabschiedete sich schweigend von dem Mann, den sie schon als Kind geliebt hatte.
***
Scott hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht, während Klaus sich einen Whisky einschenkte.
«Auch einen?», fragte er.
«Einen doppelten.»
«Du scheinst es ja zu brauchen», antwortete Klaus und schüttete Whisky in ein zweites Glas. «Wasser?»
Scott schüttelte den Kopf, und Klaus hielt ihm das Glas hin.
«Du bist so still. Ich verstehe nicht, was mit dir los ist», fragte Klaus neugierig. «Du bist komisch, ich meine, noch komischer als sonst.»
Lächelnd hob Scott sein Glas.
«Auf Richards Gesundheit!», prostete Klaus seinem Freund zu und setzte sich neben ihn.
Als Raymond O’Flanagan in den Salon trat, stand Klaus auf. «Setzen Sie sich bitte», sagte O’Flanagan zu seinem Gast gewandt. «Ich möchte Ihnen nur für einen kurzen Moment meinen Sohn entführen.»
«Natürlich, Sir.»
Nachdem Scott den Whisky hinuntergestürzt hatte, stand er auf und folgte seinem Vater.
Nachdenklich drehte Klaus das Glas in seinen Händen und sah Scott nach. Dann hörte er den hohlen Klang der Eingangstür. Charlotte war gegangen. Klaus wartete darauf, dass Richard in den Salon kam, um mit ihm sein Wiedersehen mit Charlotte zu feiern. Er wollte ihm gratulieren und mit ihm anstoßen. Aber Richard tauchte nicht auf. Achselzuckend schenkte Klaus sich ein weiteres Glas ein. Dann musste ihm eben dieser edle Scotch Gesellschaft leisten.
Nach dem Gespräch mit Charlotte war Richard wie betäubt. Er wollte allein sein und hatte gerade dem ersten Stock erreicht, als er hinter einer Tür Raymond O’Flanagans Stimme erkannte. Richard hörte, dass Charlottes Name fiel, und blieb stehen. Eigentlich wollte er nicht lauschen, aber die Tür war nur angelehnt, und er konnte jedes Wort verstehen.
«Ich habe gerade Charlotte gesehen. Sie hat sich mit Richard unterhalten», sagte Scotts Vater.
Scott schwieg, also sprach er weiter. «Ich habe nie mit dir darüber gesprochen, aber ich weiß, dass da zwischen euch etwas ist. Ich weiß, dass du leidest, und es tut mir weh, dich so zu sehen, mein Sohn. Was willst du tun? Wirst du sie gehen lassen?»
«Sie liebt mich nicht.»
«Hast du sie gefragt?»
«Das habe ich schon vor langer Zeit getan.»
«Und du willst aufgeben? Du warst immer ein Kämpfer, Scott. Und gerade sie willst du nun einfach ohne Kampf gehen lassen?»
«Ja. Ich kann nichts tun. Ich bin nicht der, den sie liebt.»
«Hast du sie denn noch einmal gefragt?»
Mutlos legte Scott sich die Hände vor das Gesicht. Als Charlotte ihn vorhin angesehen hatte, hatte er einen Moment lang geglaubt, dass auch sie etwas für ihn empfand, aber es war zu spät.
«Ich kann nicht, Vater!»
Scott nahm einen tiefen Atemzug. Er konnte seine Gefühle kaum unter Kontrolle halten.
«Richard liebt sie», gestand er schließlich. «Ich könnte doch niemals … Schon einmal hat er auf sie verzichten müssen, um sie zu schützen. Aber jetzt ist seine Frau gestorben, und er ist wieder frei. Richard verdient es, glücklich zu werden, Vater. Er ist mein Freund. Und selbst wenn ich die Frau verliere, die ich liebe, die einzige, die ich jemals geliebt habe, ich werde ihn nicht hintergehen.»
Raymond O’Flanagan hörte den Worten seines Sohnes aufmerksam zu. Gern hätte er ihm gesagt, dass er Richard vergessen solle, dass er für sein eigenes Glück kämpfen müsse, aber er tat es nicht. Scott war nicht so wie er selbst. Auf Kosten anderer würde er nicht glücklich werden können. Und Raymond O’Flanagan wollte seinem Sohn nicht das nehmen, was ihn immer zu etwas Besonderem gemacht hatte. Er legte Scott seine Hand auf die Schulter und schwieg.
«Es ist gut, Sohn. Diese Entscheidung musst du allein treffen. Aber eines Tages wirst du auch an dein eigenes Glück denken müssen. Nicht immer nur an die anderen.»
«Ich könnte nicht glücklich sein, wenn mir ständig bewusst wäre, dass ich meinen Freund hintergangen habe. Bitte versteh das, Vater.»
«Das tue ich, mein Sohn.»
Richard hatte genug gehört. Leise machte er sich auf die Suche nach seinem Zimmer. Er musste nachdenken und die Gefühle ordnen, die in seinem Inneren miteinander rangen.