KAPITEL 4
Miles rief den leitenden Sanitätsoffizier der Basis über den Kommunikator des Scatcats an und ersuchte dringend um sein Erscheinen mit forensischer Ausrüstung, Leichensack und Sanitätstransporter. Miles und seine Leute blockierten dann das obere Ende des Abzugskanals mit einem Plastikschild, das sie auf einem der leeren Übungsplätze irgendwo abgerissen hatten. Da er jetzt sowieso schon völlig nass und kalt war, so dass es keinen Unterschied mehr machte, kroch Miles wieder in den Durchlass, um ein Seil an den unbekannten gestiefelten Füßen zu befestigen. Als er wieder ans Tageslicht kam, waren der Sanitätsoffizier und sein Sanitäter schon eingetroffen.
Der Arzt, ein großer, fast glatzköpfiger Mann, guckte unsicher in das Abflussrohr. »Was konnten Sie da drinnen sehen, Fähnrich? Was ist passiert?«
»Von diesem Ende aus kann ich nichts anderes sehen als Beine, Sir«, berichtete Miles. »Der hat sich da drin ganz schön eingeklemmt. Und oberhalb von ihm hat sich vermutlich Dreck aus dem Abfluss angesammelt. Mal sehen, was mit ihm da alles herausgespült wird.«
»Was, zum Teufel, hat der da drinnen gemacht?« Der Arzt kratzte sich an seinem mit Sommersprossen übersäten Schädel.
Miles breitete die Hände aus. »Scheint eine seltsame Methode zu sein, Selbstmord zu begehen. Langsam und unsicher wenn es darum geht, sich zu ertränken.«
Der Sanitätsoffizier hob zustimmend die Augenbrauen. Miles und der Arzt mussten mit ihrem Gewicht Olney, Pattas und den Sanitäter beim Ziehen am Seil unterstützen, bevor der festgeklemmte steife Körper herauszurutschen begann.
»Der hängt aber fest«, knurrte der Sanitäter. Schließlich schoss die Leiche mit einem Schwall schmutzigen Wassers heraus.
Pattas und Olney beobachteten die weiteren Maßnahmen aus der Entfernung, Miles blieb an der Seite des Arztes. Die schwarze Arbeitsuniform des Toten war ganz durchnässt, sein Gesicht wächsern und blau. Anhand der Rangabzeichen am Kragen und des Inhalts seiner Taschen identifizierten sie ihn als einfachen Soldaten vom Nachschub. Sein Körper wies keine offensichtlichen Verletzungen auf, außer Abschürfungen an den Schultern und Kratzer an den Händen.
Der Arzt diktierte erste knappe negative Befunde in seinen Recorder: Keine Knochenbrüche, keine Blasen von Nervendisruptorfeuer.
Vorläufige Hypothese: Tod durch Ertrinken oder Unterkühlung oder beides, innerhalb der letzten zwölf Stunden. Er schaltete seinen Recorder aus und fügte, über die Schulter gewandt, hinzu: »Sicher werde ich es erst sagen können, wenn wir ihn im Lazarett aufgebahrt haben.«
»Passiert so etwas hier oft?«, erkundigte sich Miles behutsam.
Der Arzt warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Ich schicke jedes Jahr ein paar Idioten ins Leichenschauhaus. Was erwarten Sie denn, wenn man fünftausend Kinder zwischen achtzehn und zwanzig Jahren zusammen auf eine Insel schickt und ihnen sagt, sie sollten Krieg spielen? Ich gebe zu, der hier scheint eine völlig neue Methode entdeckt zu haben, um sich ins Leichenschauhaus zu bringen. Anscheinend gibt es immer wieder etwas, das man noch nicht gesehen hat.«
»Sie glauben also, er hat sich das selbst angetan?« Es wäre allerdings wirklich umständlich, einen Mann umzubringen und dann da hineinzustecken.
Der Sanitätsoffizier ging zu dem Durchlass hinüber, kauerte sich nieder und starrte hinein. »Das darf man wohl annehmen. Ach, würden Sie noch mal einen Blick hineinwerfen, Fähnrich, für alle Fälle?«
»Jawohl, Sir.«
Miles hoffte, dass dies sein letzter Ausflug in das Abflussrohr war. Er wäre nie darauf gekommen, dass das Reinigen der Kanalisation sich als ein solcher Nervenkitzel erweisen würde. Er rutschte die ganze Strecke unter der Straße hindurch bis zu dem undichten Plastikschild und überprüfte dabei jeden Zentimeter, fand aber nur das Handlicht des Toten, das auf den Boden gefallen war. Also war der Soldat offensichtlich vorsätzlich in das Rohr gekrochen. Mit Absicht. Welche Absicht? Warum kriecht einer mitten in der Nacht bei heftigem Regen in ein Abflussrohr? Miles kroch wieder heraus und übergab dem Arzt das Licht.
Er half dem Arzt und dem Sanitäter, die Leiche in dem Sack zu verstauen und aufzuladen, dann ließ er Olney und Pattas das blockierende Schild wieder hochholen und an seinen ursprünglichen Platz zurückbringen. Braunes Wasser strömte rauschend aus dem unteren Ende des Durchlasses und floss den Graben entlang davon. Der Arzt blieb neben Miles stehen, lehnte sich über das Straßengeländer und beobachtete, wie das Wasser in dem kleinen See sank.
»Glauben Sie, dass da auf dem Grund noch ein anderer liegen könnte?«, forschte Miles mit geheimem Schauder.
»Beim Morgenappell wurde nur er als vermisst gemeldet«, erwiderte der Arzt, »also wird vermutlich kein anderer mehr dort liegen.« Er sah allerdings dabei nicht so aus, als würde er darauf wetten.
Das einzige, was auftauchte, als der Wasserspiegel sank, war der durchnässte Parka des Soldaten. Er hatte ihn offensichtlich auf das Geländer geworfen, bevor er in den Durchlass gekrochen war, und von dort war er ins Wasser gefallen oder geweht worden. Der Sanitätsoffizier nahm ihn an sich.
»Sie nehmen das ganz schön cool«, bemerkte Pattas, als Miles sich von dem Sanitätswagen abwandte und der Arzt und der Sanitäter wegfuhren.
Pattas war nicht viel älter als Miles selbst.
»Haben Sie noch nie eine Leiche anfassen müssen?«
»Nein. Sie?«
»Ja.«
»Wo?«
Miles zögerte. Erinnerungen an Ereignisse, die sich vor drei Jahren zugetragen hatten, blitzten in seinem Gedächtnis auf. Die wenigen Monate, in denen er in einen verzweifelten Kampf fern der Heimat verwickelt gewesen war, nachdem er sich zufällig einer Truppe von Weltraumsöldnern angeschlossen hatte, waren ein Geheimnis, das er hier nicht erwähnen, ja nicht einmal andeuten durfte.
Die regulären kaiserlichen Truppen verachteten Söldner sowieso, ob lebendig oder tot. Aber die Tau-Verde-Kampagne hatte ihn sicherlich den Unterschied zwischen ›Übung‹ und ›Wirklichkeit‹ gelehrt, zwischen Kriegsspiel und Krieg, und dass der Tod subtilere Ansteckungswege hatte als nur die direkte Berührung.
»Früher«, sagte Miles zurückhaltend, »ein paarmal.«
Pattas zuckte die Achseln. »Nun ja«, gab er widerwillig zu, »zumindest haben Sie keine Angst, sich Ihre Hände schmutzig zu machen, Sir.«
Miles runzelte nachdenklich die Stirn. Nein. Davor habe ich keine Angst.
Miles markierte den Bachdurchlass auf seinem Berichtspanel als ›gereinigt‹, lieferte das Scatcat, die Geräte sowie Olney und Pattas, die sehr kleinlaut geworden waren, wieder bei Sergeant Neuve in der Wartungsabteilung ab und machte sich dann auf den Weg zu den Offiziersunterkünften. Noch nie hatte er in seinem ganzen Leben so sehr eine heiße Dusche nötig gehabt.
Er patschte den Korridor in Richtung auf sein Quartier entlang, als ein anderer Offizier seinen Kopf aus der Tür streckte. »Ah, Fähnrich Vorkosigan?«
»Ja?«
»Sie haben vor einer Weile einen Vid-Anruf bekommen. Ich habe die Bestätigung für Sie eingegeben.«
»Anruf?« Miles blieb stehen. »Von wo?«
»Aus Vorbarr Sultana.«
Miles fühlte ein Frösteln im Bauch. Ein Notfall zu Hause? »Danke.« Er drehte sich um und ging schnurstracks auf die Zelle mit der Vidkonsole zu, die sich die Offiziere auf diesem Stockwerk teilten.
Feucht wie er war, ließ er sich auf den Sitz fallen und rief die Nachricht auf. Die Nummer erkannte er nicht. Er gab sie ein, zusammen mit seinem Gebührencode, und wartete. Es läutete einige Male, dann erwachte die Vidscheibe zischend zum Leben. Das gutaussehende Gesicht seines Cousins Ivan erschien und grinste ihn an.
»Aha, Miles. Da bist du ja.«
»Ivan! Wo, zum Teufel, bist du? Was bedeutet das?«
»Oh, ich bin zu Hause. Und das heißt nicht, bei meiner Mutter. Ich dachte, du möchtest vielleicht mal meine neue Wohnung sehen.«
Miles hatte die vage, verwirrende Empfindung, irgendwie auf eine Leitung in eine Parallelwelt oder zu einer anderen Astralebene gestoßen zu sein. Vorbarr Sultana, ja. Er hatte selbst einmal in der Hauptstadt gelebt, in einer früheren Inkarnation. Vor einer Ewigkeit.
Ivan nahm sein Vid-Aufnahmegerät hoch und machte damit eine Runde durch seine Wohnung. »Sie ist voll eingerichtet. Den Mietvertrag habe ich von einem Hauptmann vom Planungszentrum übernommen, der nach Komarr versetzt wurde. Eine wirklich günstige Gelegenheit. Gestern bin ich eingezogen. Siehst du den Balkon?«
Miles sah den Balkon. Er war in das honigfarbene Licht der Spätnachmittagssonne getaucht. Dahinter erhob sich, im Sommerdunst verschwimmend, die Silhouette von Vorbarr Sultana wie eine Märchenstadt.
Scharlachrote Blumen quollen über die Balustrade der Terrasse, so rot in dem gleichmäßigen Licht, dass Miles’ Augen fast schmerzten. Er hatte das Gefühl, er müsste gleich in seine Hemdtasche sabbern oder in Tränen ausbrechen. »Hübsche Blumen«, würgte er hervor.
»Ja, eine Freundin hat sie mir gebracht.«
»Freundin?« Ach ja, menschliche Wesen hatte es ja einmal in zwei Geschlechtern gegeben, vor langer Zeit. Das eine roch viel besser als das andere. Viel besser. »Welche?«
»Tatya.«
»Habe ich sie schon kennengelernt?« Miles versuchte, sich zu erinnern.
»Nö, sie ist neu.«
Ivan hörte auf, das Vid-Gerät herumzuschwenken, und erschien wieder auf der Vidscheibe. Miles’ verwirrte Sinne beruhigten sich etwas. »Na, wie ist das Wetter dort oben bei euch?« Ivan guckte ihn näher an. »Bist du nass geworden? Was hast du so gemacht.«
»Forensische … Klempnerarbeit«, brachte Miles nach einer Pause hervor.
»Was?« Ivan zog seine Stirn kraus.
»Ach, hat nichts zu sagen.« Miles nieste. »Schau her, ich bin froh, ein vertrautes Gesicht zu sehen und so weiter«, er war wirklich froh – auf eine schmerzhafte, seltsame Weise, »aber ich bin hier mitten im Dienst.«
»Ich habe schon seit ein paar Stunden schichtfrei«, merkte Ivan an. »Und bald führe ich Tatya zum Dinner aus. Du hast mich gerade noch erwischt. Also sag mir schnell, wie ist das Leben in der Infanterie?«
»Oh, großartig. Basis Lazkowski ist das einzig Wahre, weißt du.« In welchem Sinn, erklärte er besser nicht. »Keine Bewahranstalt für überzählige Vor-Herrchen wie das Kaiserliche Hauptquartier.«
»Ich erledige meinen Job!«, sagte Ivan, und es klang leicht pikiert. »Wirklich, dir würde mein Job gefallen. Wir verarbeiten Informationen. Es ist erstaunlich, worauf das Planungszentrum alles an einem Tag zugreift. Eine ganz tolle Sache. Das wäre genau dein Fall.«
»Komisch. Ich dachte, Basis Lazkowski wäre genau das Richtige für dich, Ivan. Stell dir mal vor, vielleicht hat man unsere Marschbefehle vertauscht?«
Ivan tippte sich an seine Nase und kicherte. »Das würde ich niemandem verraten.« Seine Stimmung wurde wieder nüchtern, mit einem Unterton echter Besorgnis. »Du, also, gib auf dich acht dort oben, ja? Du schaust wirklich nicht sonderlich gut aus.«
»Ich hatte einen strapaziösen Vormittag. Wenn du Schluss machen würdest, dann könnte ich mich unter die Dusche begeben.«
»Einverstanden. Also, pass auf dich auf.«
»Viel Spaß bei deinem Dinner.«
»Jawohl. Adieu.«
Eine Stimme aus einer anderen Welt. Dabei war Vorbarr Sultana nur ein paar Stunden suborbitalen Fluges entfernt. Theoretisch. Irgendwie war es tröstlich für Miles, daran erinnert zu werden, dass nicht der ganze Planet auf die bleigrauen Horizonte von Kyril zusammengeschrumpft war, auch wenn es für ihn so aussah.
Miles hatte den Rest dieses Tages Schwierigkeiten, sich auf das Wetter zu konzentrieren. Glücklicherweise schien dies sein Vorgesetzter nicht sehr zu bemerken. Seit dem Versinken des Scatcats neigte Ahn dazu, ein schuldbewusstes, nervöses Schweigen um Miles herum zu bewahren, außer wenn er direkt um spezifische Informationen angegangen wurde. Als der Dienst zu Ende ging, machte sich Miles direkt auf den Weg zum Lazarett.
Der Arzt arbeitete noch oder saß zumindest an der Konsole auf seinem Schreibtisch, als Miles seinen Kopf durch die Tür streckte. »Guten Abend, Sir.«
Der Sanitätsoffizier blickte auf. »Ja, Fähnrich? Um was geht es?«
Miles nahm dies als ausreichende Einladung, obwohl die Stimme des Arztes wenig ermutigend klang, und schlüpfte ins Zimmer. »Ich habe mich dauernd gefragt, was Sie über den Burschen herausgefunden haben, den wir heute morgen aus dem Durchlass zogen.«
Der Arzt zuckte die Achseln. »Da gab es nicht so viel herauszufinden. Seine Identität wurde überprüft. Er starb durch Ertrinken. Alle physikalischen und metabolischen Spuren – Stress, Unterkühlung, Hämatome – stimmen damit überein, dass er etwas weniger als eine halbe Stunde vor seinem Tod dort drinnen steckenblieb. Ich habe auf Unglücksfall mit tödlichem Ausgang entschieden.«
»Ja, aber warum?«
»Warum?« Der Arzt hob die Augenbrauen. »Er hat sich selber zur Leiche gemacht, da werden Sie schon ihn selbst fragen müssen, oder?«
»Wollen Sie das nicht herausfinden?«
»Zu welchem Zweck?«
»Nun ja … um es zu wissen, nehme ich an. Um sicher zu sein, dass Sie recht haben.«
Der Arzt blickte ihn gleichgültig an.
»Ich stelle nicht Ihre medizinischen Feststellungen in Frage, Sir«, fügte Miles hastig hinzu. »Aber es war doch so verdammt sonderbar. Sind Sie nicht neugierig?«
»Nicht mehr«, sagte der Arzt. »Ich bin zufrieden, dass es kein Selbstmord war und kein Verbrechen, also, wie auch immer die Einzelheiten aussehen mögen, es läuft am Ende auf Tod durch Dummheit hinaus, nicht wahr?«
Miles fragte sich, ob dies auch das endgültige Verdikt des Arztes über ihn selber gewesen wäre, wenn er sich mit dem Scatcat versenkt hätte.
»Vermutlich, Sir.«
Als er danach in dem feuchten Wind vor dem Lazarett stand, zögerte Miles. Die Leiche war schließlich nicht sein persönliches Eigentum.
Hier galt nicht: wer etwas findet, der darf es für sich behalten. Er hatte die Angelegenheit der zuständigen Instanz übergeben. Sie war jetzt nicht mehr in seinen Händen. Und dennoch …
Es waren noch einige Stunden Tageslicht übrig. Miles hatte sowieso Schwierigkeiten einzuschlafen, an diesen fast endlosen Tagen. Er kehrte in seine Unterkunft zurück, zog Trainingshosen, Hemd und Sportschuhe an und ging joggen.
Die Straße war einsam, draußen bei den leeren Übungsplätzen. Die Sonne krebste dem Horizont zu. Miles fiel aus dem Joggen wieder ins Gehen, dann in einen noch langsameren Schritt. Seine Beinschienen scheuerten unter den Hosen. Irgendwann sehr bald würde er sich die Zeit nehmen, um sich die spröden Hauptknochen in den Beinen durch synthetische Knochen ersetzen zu lassen. Dabei wäre eine elektive Operation eine quasi legitime Methode, um sich von Kyril hinwegzuhebeln, wenn das Ganze vor dem Ablauf seiner sechs Monate zu hoffnungslos würde. Allerdings erschien ihm das wie Schummeln.
Er blickte sich um und versuchte, sich seine gegenwärtige Umgebung in Dunkelheit und heftigem Regen vorzustellen. Wenn er der Soldat gewesen wäre, der nachts auf dieser Straße dahinstapfte, was hätte er wohl gesehen? Was hätte möglicherweise die Aufmerksamkeit des Mannes auf den Graben gelenkt? Warum, zum Teufel, war er denn überhaupt mitten in der Nacht hier herausgekommen? Diese Straße führte nirgendwohin, außer zu einem Hindernisparcours und einem Schießplatz.
Da war der Graben … nein, sein Graben war der nächste, ein Stückchen weiter. Vier Bachdurchlässe durchbohrten den erhöhten Straßendamm auf dieser geraden Strecke von einem halben Kilometer Länge. Miles fand den richtigen Graben, lehnte sich auf das Geländer und starrte auf das jetzt träge Rinnsal aus abfließendem Wasser. Jetzt hatte es nichts Anziehendes an sich, das war sicher. Warum, warum, warum …?
Miles schlenderte auf der hohen Seite der Straße entlang, untersuchte die Oberfläche der Straße, das Geländer, den nassen braunen Farnwuchs dahinter. Er kam zu der Kurve und machte kehrt, um die andere Seite zu untersuchen. Er kam wieder am ersten Graben an, an dem der Basis zugewandten Ende der geraden Strecke, ohne dass er irgend etwas entdeckt hätte, das einen Reiz hatte oder Interesse weckte.
Miles hockte sich auf das Geländer und dachte nach. Na schön, jetzt war der richtige Zeitpunkt, um es mit ein bisschen Logik zu versuchen. Welche überwältigende Emotion hatte den Soldaten dazu veranlasst, sich trotz der offensichtlichen Gefahr in das Abwasserrohr zu klemmen? Wut? Wen hatte er verfolgt? Angst? Wer konnte ihn verfolgt haben? Irrtum? Miles wusste Bescheid über Irrtümer. Wie, wenn der Mann sich den falschen Durchlass ausgesucht hatte …?
Einem Impuls folgend schlitterte Miles in den ersten Graben hinab. Entweder hatte der Mann seinen Weg systematisch durch alle Durchlässe gemacht – falls ja, hatte er dann vorwärts von der Basis aus begonnen oder rückwärts von dem Trainingsgelände? – oder aber er hatte sein beabsichtigtes Ziel in der Dunkelheit und im Regen verfehlt und war in den falschen geraten.
Miles hätte sie alle durchkrabbelt, wenn es nötig gewesen wäre, aber er zog es vor, schon beim ersten auf den richtigen zu treffen. Selbst wenn niemand ihn beobachtete. Dieser Durchlass war ein wenig weiter als der zweite, der tödliche. Miles zog sein Handlicht aus dem Gürtel, ging geduckt hinein und begann Zentimeter um Zentimeter zu untersuchen.
»Aha«, atmete er auf halbem Wege unter der Straße befriedigt auf. Da war seine Beute, mit einem Klebeband an der Oberseite des Durchlassbogens befestigt. Ein Päckchen, in wasserfestes Plastik gewickelt. Wie interessant. Er rutschte hinaus und setzte sich am Ausgang des Durchlasses nieder, ohne auf die Feuchtigkeit zu achten, aber sorgsam darauf bedacht, dass ihn niemand von oben, von der Straße her, sah.
Er platzierte das Päckchen in seinem Schoß und studierte es mit wohliger Vorfreude, als wäre es ein Geburtstagsgeschenk. Was konnte das sein? Drogen, Schmuggelware, geheime Dokumente, schmutziges Geld?
Miles persönlich hoffte, es wären geheime Dokumente, obwohl er sich schwer vorstellen konnte, dass irgend jemand irgendwas auf Kyril für geheim erklären würde, außer vielleicht die Leistungsberichte.
Drogen wären schon gut, aber ein Spionagering wäre geradezu wunderbar. Dann würde aus ihm ein Held der Sicherheit – sein Geist eilte schon voran, dachte sich schon die nächsten Maßnahmen bei seinen verdeckten Ermittlungen aus. Aufgrund subtiler Hinweise den Spuren des Toten zu einem Rädelsführer zu folgen, der wer weiß wie hoch oben in der Hierarchie saß? Die dramatischen Verhaftungen, vielleicht ein Lob von Simon Illyan selbst … Das Päckchen war klumpig, raschelte aber leicht – Plastikfolien? Sein Herz klopfte, als er es vorsichtig öffnete – und dann folgten Verblüffung und Enttäuschung. Ein gequälter Laut, halb Lachen, halb Stöhnen, kam von seinen Lippen.
Gebäck. Ein paar Dutzend Lisetten, eine Art Miniaturdampfnudeln, glasiert und mit kandierten Früchten gefüllt, traditionell wurden sie für die Feier des Mittsommertages hergestellt. Gebäck, das anderthalb Monate alt war. Was für ein triftiger Grund, um dafür zu sterben …
Miles Phantasie, angeregt von seiner Kenntnis des Kasernenlebens, konnte den Rest leicht genug ergänzen. Der Soldat hatte das Päckchen von der Freundin/Mutter/Schwester bekommen und versuchte, es vor seinen gefräßigen Kameraden zu schützen, die alles binnen Sekunden verschlungen hätten. Vielleicht hatte der Mann, nach Leckerbissen von zu Hause lechzend, sie sich Stück um Stück rationiert in einem sehnsüchtigen, masochistischen Ritual, bei dem Genuss und Schmerz in jedem Bissen gemischt waren. Oder vielleicht hatte er sie nur für irgendeinen besonderen Anlass aufgehoben.
Dann kamen die zwei Tage mit ungewöhnlich heftigem Regen, und der Mann hatte begonnen, den … hm … Wasserstand bei seinem geheimen Schatz zu fürchten. Er war herausgekommen, um seine versteckten Vorräte zu retten, hatte im Dunkeln den ersten Graben verfehlt, war – als das Wasser stieg – mit äußerster Entschlossenheit in den zweiten hinabgestiegen, hatte seinen Fehler zu spät erkannt … Traurig. Grässlich. Aber nicht nützlich.
Miles seufzte, packte die Lisetten wieder zusammen und trottete davon, mit dem Päckchen unter dem Arm, zurück zur Basis, um es dem Sanitätsoffizier zu übergeben. Der einzige Kommentar des Arztes, als Miles ihn aufgesucht und ihm seinen Fund erklärt hatte, war: »Ja, Tod aus Dummheit, ganz richtig.«
Geistesabwesend biss er in eine Lisette und rümpfte die Nase.
Miles’ Zeit beim Sondereinsatz in der Wartungsabteilung endete am nächsten Tag, ohne dass er in den Abwasserkanälen etwas fand, das noch interessanter gewesen wäre als der Ertrunkene. Vermutlich war das auch ganz gut so.
Am darauffolgenden Tag kam Ahns Bürokorporal von seinem langen Urlaub zurück. Miles entdeckte, dass der Korporal, der in dem Wetterbüro ungefähr zwei Jahre gearbeitet hatte, ein bereitwilliges Reservoir für den größten Teil derjenigen Informationen war, die er in den letzten zwei Wochen seinem Gehirn einzutrichtern versucht hatte. Allerdings hatte der Korporal nicht Ahns Nase.
Ahn verließ Camp Permafrost tatsächlich nüchtern und stieg aus eigener Kraft die Transportrampe hinauf. Miles ging zum Landeplatz des Shuttles, um Ahn zu verabschieden, wobei er sich nicht sicher war, ob er froh oder traurig darüber sein sollte, den Wettermann abreisen zu sehen. Ahn schaute jedoch glücklich aus, sein sonst so kummervolles Gesicht strahlte fast.
»Wo werden Sie denn jetzt hingehen, sobald Sie Ihre Uniform abgegeben haben?«, fragte Miles ihn.
»Zum Äquator.«
»Aha. Und wo am Äquator?«
»Irgendwo am Äquator«, erwiderte Ahn mit Inbrunst.
Miles hoffte, dass er sich wenigstens einen Ort mit einer geeigneten Landmasse aussuchen würde.
Ahn zögerte auf der Rampe und blickte auf Miles herab.
»Hüten Sie sich vor Metzov«, riet er ihm zuletzt.
Diese Warnung schien bemerkenswert spät zu kommen, ganz abgesehen davon, dass sie irritierend vage war. Miles blickte Ahn mit hochgezogenen Augenbrauen unwillig an. »Ich glaube nicht, dass ich oft in seinem privaten Terminkalender stehe.«
Ahn wand sich verlegen. »Das habe ich nicht gemeint.«
»Was meinen Sie dann?«
»Naja … ich weiß nicht. Ich habe einmal gesehen …«
»Was?«
Ahn schüttelte den Kopf. »Nichts. Es ist schon lange her. Damals geschahen eine Menge verrückter Dinge, am Höhepunkt der Revolte von Komarr. Aber es ist besser, wenn Sie ihm aus dem Weg gehen.«
»Ich hatte schon früher mit alten Schleifern zu tun.«
»Oh, er ist nicht gerade ein Schleifer. Aber er hat so einen Anflug von … er kann auf eine komische Art gefährlich sein. Bedrohen Sie ihn nie wirklich, ja?«
»Ich Metzov bedrohen?« Miles verzog verblüfft sein Gesicht.
Vielleicht war Ahn doch nicht so nüchtern, wie er roch.
»Kommen Sie, er kann nicht so schlimm sein, sonst hätte man ihn nie über die Rekruten gesetzt.«
»Er hat keinen Befehl über die Rekruten. Die haben ihre eigene Kommando-Struktur, die mit ihnen mitkommt – die Instruktoren unterstehen ihrem eigenen Kommandanten. Metzov ist nur zuständig für die permanente Infrastruktur der Basis. Sie sind ein aufdringlicher kleiner Kerl, Vorkosigan. Sie sollten ihn einfach … nicht in die Ecke drängen, sonst würde es Ihnen leidtun. Und das ist alles, was ich sagen werde.« Ahn machte entschlossen den Mund zu und stieg die Rampe hinauf.
Es tut mir schon jetzt leid, wollte Miles ihm nachrufen. Nun gut, seine Strafwoche war jetzt vorbei. Vielleicht war es Metzovs Absicht gewesen, Miles mit dem Sondereinsatz zu demütigen, aber in Wirklichkeit war es ja sehr interessant gewesen. Dass er sein Scatcat hatte versinken lassen, na ja – das hatte ihn gedemütigt. Aber das hatte er sich ja selbst eingebrockt.
Miles winkte ein letztes Mal Ahn zu, als der in dem Transportshuttle verschwand, zuckte dann die Achseln und machte sich auf den Rückweg über das Rollfeld zu dem inzwischen schon vertrauten Verwaltungsgebäude.
Nachdem sein Korporal das Wetterbüro verlassen hatte, um zum Mittagessen zu gehen, dauerte es noch ein paar Minuten, bis Miles der Versuchung nachgab, die Fährte aufzunehmen, auf die Ahn ihn gebracht hatte. Er rief Metzovs öffentlich zugängliche Daten an der Komkonsole auf. Die bloße Auflistung der Lebensdaten, Versetzungen und Beförderungen des Stützpunktkommandanten war nicht sonderlich informativ, obwohl man mit ein bisschen historischem Wissen manches zwischen den Zeilen lesen konnte.
Metzov war vor etwa fünfunddreißig Jahren in die Streitkräfte eingetreten. Seine schnellsten Beförderungen hatten, das war nicht überraschend, während der Eroberung des Planeten Komarr vor fünfundzwanzig Jahren stattgefunden.
Das an Wurmlöchern reiche Komarr-System war Barrayars einziges Tor zum größeren galaktischen Geflecht von Wurmlochrouten. Komarr hatte seine immense strategische Bedeutung für Barrayar früher in diesem Jahrhundert bewiesen, als seine herrschende Oligarchie bestochen worden war, um eine cetagandanische Invasionsflotte durch ihre Wurmlöcher passieren und Barrayar überfallen zu lassen.
Die Cetagandaner wieder zu vertreiben hatte fast eine ganze barrayaranische Generation aufgerieben. Barrayar hatte in den Tagen von Miles’ Vater die Konsequenzen aus dieser blutigen Lektion gezogen. In einem unvermeidbaren Nebeneffekt der Sicherung der Tore von Komarr war Barrayar von einer rückständigen Sackgasse zu einer nicht unbedeutenden galaktischen Macht geworden und rang jetzt immer noch mit den Folgen dieser Entwicklung.
Vor zwanzig Jahren, bei Vordarians Usurpation, einem rein barrayaranischen Versuch, dem fünfjährigen Kaiser Gregor und seinem Regenten die Macht zu entreißen, war es Metzov irgendwie gelungen, am Ende auf der richtigen Seite zu stehen – dass er bei diesem Bürgerkrieg die falsche Seite gewählt hätte, wäre Miles erste Vermutung gewesen, warum ein anscheinend so fähiger Offizier schließlich seine späten Jahre im Eis auf Kyril verbrachte. Aber der fatale Knick in Metzovs Karriere schien während der Revolte von Komarr stattgefunden zu haben, vor nun etwa sechzehn Jahren.
In dieser Datei gab es keinen Hinweis auf den Grund, aber einen Verweis auf eine andere Datei. Mit einem Code des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes, wie Miles erkannte. Da endete die Spur. Oder vielleicht auch nicht. Miles presste nachdenklich die Lippen zusammen und tippte an seiner Komkonsole einen anderen Code ein.
»Planungszentrum, Büro von Kommodore Jollif«, begann Ivan formell, während sein Gesicht auf der Vidscheibe der Komkonsole erschien, dann fuhr er fort: »Oh, hallo, Miles. Was gibt’s?«
»Ich stelle ein paar Nachforschungen an. Dachte, du könntest mir dabei aushelfen.«
»Ich hätte wissen sollen, dass du mich nicht im Hauptquartier nur deshalb anrufen würdest, um mit mir ein bisschen zu plaudern. Also, was willst du?«
»Ach … bist du im Augenblick im Büro allein?«
»Ja, der Alte steckt in einer Sitzung. Ein nettes kleines Problem – ein auf Barrayar registrierter Frachter wurde in der Hegen-Nabe auf der Station von Vervain beschlagnahmt, wegen Verdacht auf Spionage.«
»Können wir nicht dort hin? Und mit gewaltsamer Befreiung drohen?«
»Nicht an Pol vorbei. Barrayaranische militärische Raumschiffe dürfen nicht durch polianische Wurmlöcher springen, basta.«
»Ich dachte, wir wären irgendwie mit Pol befreundet.«
»Irgendwie schon. Aber die Vervani haben damit gedroht, die diplomatischen Beziehungen zu Pol abzubrechen, deshalb sind die Polianer besonders vorsichtig. Die komische Sache dabei ist, dass der fragliche Frachter nicht einmal einer unserer wirklichen Agenten ist. Scheint eine völlig fabrizierte Anschuldigung zu sein.«
Politik der Wurmlochrouten. Sprungschifftaktik. Gerade die Art von Herausforderung, für die Miles in seinen Kursen auf der Kaiserlichen Akademie trainiert worden war. Außerdem war es auf diesen Raumschiffen und Raumstationen vermutlich warm. Er seufzte neidisch.
Ivan kniff in verspätetem Misstrauen die Augen zusammen. »Warum fragst du, ob ich allein bin?«
»Ich möchte, dass du für mich eine Datei rausholst. Alte Geschichte, keine aktuellen Ereignisse«, beruhigte Miles ihn und rasselte die Code-Nummer herunter.
»Aha.« Ivan fing an, sie einzutippen, dann hielt er inne. »Bist du verrückt? Das ist eine Datei des Sicherheitsdienstes. Das kann ich nicht machen.«
»Natürlich kannst du das machen, du bist doch direkt dran, oder nicht?«
Ivan schüttelte selbstgefällig den Kopf. »Nicht mehr. Das ganze Dateisystem des Sicherheitsdienstes wurde supersicher gemacht. Du kannst aus ihm keine Daten mehr übertragen außer durch ein codiertes Filterkabel, das physikalisch angeschlossen werden muss. Und wofür ich eine Unterschrift leisten müsste. Und dann eine Erklärung abgeben müsste, warum ich es haben will, und dann noch eine Genehmigung vorzulegen hätte. Hast du eine Genehmigung dafür? Ha. Ich dachte mir’s doch, dass du keine hast.«
Miles runzelte frustriert die Stirn. »Sicherlich kannst du die Datei auf dem internen System aufrufen.«
»Auf dem internen System, ja. Was ich nicht tun kann, ist das interne System mit einem externen System für eine Datenübertragung zu verbinden. Also hast du kein Glück.«
»Hast du eine Komkonsole für das interne System in eurem Büro?«
»Sicher.«
»Also«, sagte Miles ungeduldig, »dann ruf die Datei auf, dreh dein Pult herum, und lass die beiden Vids miteinander reden. Das kannst du doch machen, nicht wahr?«
Ivan kratzte sich am Kopf. »Würde das funktionieren?«
»Versuch es!« Miles trommelte mit den Fingern, während Ivan das Pult herumdrehte und an der Fokussierung rumfummelte. Das Vidbild war schwächer, aber lesbar.
»Ja, so habe ich es mir gedacht. Blättere für mich weiter, ja?«
Faszinierend, äußerst faszinierend. Die Datei enthielt eine Sammlung von geheimen Berichten einer Untersuchung des Sicherheitsdienstes über den mysteriösen Tod eines Gefangenen, für den Metzov zuständig gewesen war, einen komarranischen Rebellen, der seinen Wächter getötet hatte und selber getötet wurde, als er zu fliehen versuchte. Als der Sicherheitsdienst die Leiche des Komarraners für eine Autopsie anforderte, hatte Metzov Asche aus einem Kremation geschickt, zusammen mit einer Entschuldigung: wenn man ihm nur ein paar Stunden früher gesagt hätte, dass die Leiche gewünscht würde usw.
Der untersuchende Offizier wies auf Anschuldigungen wegen illegaler Folter hin – vielleicht aus Rache für den Tod des Wächters? –, aber er konnte nicht genügend Beweise zusammenbringen, um die Genehmigung zu erhalten, die barrayaranischen Zeugen, darunter auch einen gewissen Fähnrich Ahn, unter Schnell-Penta zu vernehmen. Der untersuchende Offizier hatte einen formellen Protest eingelegt gegen die Entscheidung seines Vorgesetzten, den Fall abzuschließen, und das war das Ende. Anscheinend. Wenn es noch mehr Informationen zu dieser Geschichte gab, so existierten sie nur in Simon Illyans bemerkenswertem Kopf, einer geheimen Datei, die Miles nicht anzapfen konnte. Und doch war damals Metzovs Karriere abrupt zu einem Halt gekommen.
»Miles«, unterbrach Ivan zum vierten Mal, »ich glaube, wir sollten das wirklich nicht tun. Das ist ein Zeug, von dem man hier sagt: Schlitz dir die Kehle auf, bevor du es liest.«
»Wenn wir es nicht tun sollten, dann sollten wir es auch nicht können. Du müsstest doch immer noch das Kabel für Direktübertragung dazu haben. Kein wirklicher Spion wäre dumm genug, dort stundenlang im Kaiserlichen Hauptquartier zu sitzen und solches Zeug von Hand durchzublättern und darauf zu warten, dass er erwischt und erschossen wird.«
»Jetzt reicht’s.« Ivan brach mit einem Schlag seiner Hand auf die Tastatur die Anzeige der Datei des Sicherheitsdienstes ab. Das Vidbild schwankte heftig, als Ivan sein Pult wieder herumdrehte, dann hörte man ein schrubbendes Geräusch, denn er rieb hektisch mit seinem Stiefel über die Spuren auf dem Teppich.
»Ich habe nichts getan, hörst du?«
»Ich habe doch nicht dich gemeint. Wir sind doch keine Spione.« Miles sank bedrückt zusammen. »Trotzdem … ich nehme an, irgend jemand sollte Illyan von dem kleinen Loch erzählen, das man in seinen Sicherheits-Vorkehrungen übersehen hat.«
»Ich nicht!«
»Warum nicht du? Bring es als eine brillante theoretische Anregung ein. Vielleicht verdienst du dir eine lobende Erwähnung. Sag ihm natürlich nicht, dass wir es tatsächlich gemacht haben. Oder vielleicht haben wir nur deine Theorie getestet, was meinst du?«
»Du«, sagte Ivan streng, »bist Gift für meine Karriere. Verdunkle nie wieder meine Vidscheibe. Ausgenommen zu Hause, natürlich.«
Miles grinste und erlaubte seinem Cousin, sich auszuklinken. Er saß noch eine Weile in dem Büro, beobachtete, wie die bunten Wetterholos flimmerten und sich veränderten, und dachte über den Kommandanten der Basis nach und über die Arten von Unfällen, die trotzigen Gefangenen widerfahren konnten.
Nun gut, das war alles vor sehr langer Zeit gewesen. In fünf Jahren würde Metzov vielleicht in den Ruhestand treten, mit seinem Status als Mann mit einer Dienstzeit von zweimal zwanzig Jahren und mit einer Pension, und damit in die Bevölkerungsgruppe der unangenehmen älteren Männer überwechseln. Also nicht so sehr ein Problem, das unbedingt gelöst werden musste, sondern einfach überstanden, ausgestanden, zumindest was Miles anging. Er rief sich ins Gedächtnis, dass sein Endziel auf Basis Lazkowski darin bestand, von Basis Lazkowski zu verschwinden, so still wie ein Rauchwölkchen. Wenn der Zeitpunkt kam, würde er Metzov einfach zurücklassen.
In den nächsten Wochen fand Miles zu einer erträglichen Routine. Zunächst einmal kamen die Rekruten an. Insgesamt fünftausend Mann. Auf ihren Schultern erhielt Miles fast den Status eines Menschen. Basis Lazkowski erlebte den ersten echten Schnee der Saison, als die Tage kürzer wurden, und ein sanftes Wahwah, das fast einen halben Tag dauerte. Miles gelang es, beides genau vorherzusagen.
Noch mehr Glück hatte Miles, dass er vom Rang des berühmtesten Idioten der Insel (ein unerwünschter Ruhm, den er sich mit dem Versenken des Scatcats erworben hatte) verdrängt wurde durch eine Gruppe von Rekruten, denen es in einer Nacht gelang, ihre Kaserne in Flammen aufgehen zu lassen, während sie Furzlichter anzündeten.
Beim Brandsicherheitstreffen der Offiziere am nächsten Tag gab Miles die strategische Anregung, sie sollten das Problem durch einen logistischen Angriff auf die Brennstoffvorräte des Feindes lösen, d.h. den Eintopf aus roten Bohnen vom Speiseplan streichen. Das wurde jedoch mit einem einzigen eisig zornigen Blick von General Metzov verworfen. Allerdings hielt später ein ernster Hauptmann von der Artillerie Miles in der Vorhalle an und dankte ihm für seinen Vorstoß. Soviel also zum Glanz der Kaiserlichen Streitkräfte.
Miles gewöhnte sich an, viele Stunden allein im Wetterbüro zu verbringen, er studierte dabei die Chaostheorie, seine Computeranzeigen und die Wände. Drei Monate hatte er schon geschafft, drei Monate musste er noch hinter sich bringen. Es wurde immer dunkler.