Kapitel drei

NORDUGANDA

12. November, 06:09 Uhr GMT+3

 

 

Das Licht der Morgendämmerung sickerte allmählich durch das Blätterdach und vertrieb die Dunkelheit, die sich als sehr angenehm erwiesen hatte. Lieutenant Craig Rivera schlüpfte an dem Mann vor ihm vorbei; er wollte selbst die Führung übernehmen, bis die verwirrende Dämmerung schließlich dem Tag wich.

Der Tau auf den Blättern begann bereits zu verdunsten und erfüllte die Luft mit dieser drückenden Feuchtigkeit, die einem das Atmen schwer machte. Er stieg einen steilen felsigen Abhang hinauf, an dessen Spitze er sich in Bauchlage begab. Mehr als eine Minute lang suchte er das Gewirr von Blättern und Zweigen nach einer menschlichen Gestalt ab. Nichts. Nur das endlose Schimmern feuchter Blätter.

Er wollte schon weitergehen, als ihn ein Knacken in seinem Ohrhörer erstarren ließ, gefolgt von einer Stimme. »Behaltet den Himmel im Auge.«

Rivera drückte sich an einen dicken Baumstamm und blickte nach oben, während seine Hand zu seinem Kehlkopfmikro ging. »Was gibt’s?«

»Bahame könnte jederzeit zuschlagen und Kugelblitze aus seinem Arsch abschießen.«

Das leise Kichern seiner Männer durchzog die Stille, und er ging weiter und überlegte, was er antworten sollte. »Funkdisziplin, Leute. Vergessen wir nicht, was mit den anderen passiert ist.«

Eine Einheit der Afrikanischen Union hatte vor sechs Monaten einen Hinweis auf Bahames Aufenthaltsort bekommen und die Verfolgung aufgenommen. Eine Audioaufnahme war alles, was noch von ihnen übrig war.

Rivera würde es seinen Männern nie erzählen, aber das ruhige Geplauder am Lagerfeuer, die plötzlichen Schüsse und automatisches Gewehrfeuer, die Schreie der Angreifer, die nichts Menschliches an sich hatten, gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Und schließlich der brutale Kampf Mann gegen Mann, das Stöhnen, das Röcheln der Sterbenden.

Seine Leute hatten den Vorfall als etwas abgetan, was ihnen selbst nie passieren hätte können. Diese Truppen der Afrikanischen Union – waren das nicht die Typen, die einen Stoffpudel als Maskottchen hatten? Jede Pfadfindergruppe sei schlagkräftiger, meinten sie abschätzig.

Als Teamführer hatte Rivera jedoch die Akten der toten Soldaten gesehen. Das waren keine Politessen aus dem Kongo, wie einer seiner Männer nach ein paar Bieren gescherzt hatte.

Rivera reckte eine Faust in die Höhe und duckte sich, während er sein AK-47 zwischen den Bäumen auf einen braunen Fleck richtete, der in dem grünen Meer auftauchte. Hinter sich hörte er nichts, doch er wusste, dass seine Männer bereits ausschwärmten und in Verteidigungsposition gingen.

Er kroch langsam vorwärts und konzentrierte sich darauf, gleichmäßig zu atmen und keine Blätter über sich zu bewegen. Fünf Minuten und zwanzig Meter später lichtete sich der Wald und sie hatten den Rand eines kleinen Dorfes erreicht.

Die Strohwand der Hütte vor ihm war so ziemlich das Einzige, was nicht verbrannt war – und das schloss die Dorfbewohner mit ein. Es war schwer zu sagen, wie viele verkohlte Leichen neben den Überresten eines Fußballtors aufgestapelt waren, aber vierzig waren es bestimmt. Offenbar waren sie nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt. Sie waren auf Bahames Territorium angekommen.

Hinter sich hörte er ein leises Stöhnen und etwas, das so klang als würde ein Körper auf die weiche Erde fallen. Er stieß einen leisen Fluch hervor und eilte zu dem Geräusch zurück, den Finger am Abzug seiner Waffe.

 

»Sorry, Boss. Ich hab sie auch erst im letzten Moment gesehen.«

Die Frau kauerte sich gegen einen Baum, die Hände in erstarrter Panik gehoben. Ihre Augen sprangen hin und her, als seine Männer aus dem Buschwerk auftauchten.

»Was glaubt ihr, wer sie ist?«, fragte einer von ihnen leise.

»Da vorne ist ein Dorf«, antwortete Rivera. »Oder zumindest war da eins. Bahame war hier. Sie muss ihm entwischt sein. Wahrscheinlich lebt sie schon ein paar Tage allein hier draußen.«

Sie hatte eine klaffende Wunde am Arm, die offensichtlich infiziert war, und ihr Fußknöchel war nach rechts verdreht, die Knochen drückten gegen die Haut, ohne sie jedoch ganz zu durchstoßen. Rivera versuchte ihr Alter zu schätzen, doch da waren zu viele widersprüchliche Merkmale; ihre Haut sah aus wie ein alter Reifen, sie hatte kräftige drahtige Arme und gerade weiße Zähne. Er musste sich eingestehen, dass er in Wahrheit gar nichts über sie wusste und auch nie etwas wissen würde.

»Was machen wir mit ihr?«, fragte einer seiner Männer.

»Sprechen Sie Englisch?«, fragte Rivera langsam und deutlich.

Sie begann in ihrer Muttersprache zu reden, und die Männer erschraken angesichts ihrer lauten Stimme. Rivera drückte ihr eine Hand auf den Mund und hob einen Finger an die Lippen. »Sprechen Sie ein bisschen Englisch?«, wiederholte er.

Als er die Hand wegnahm, sprach sie leiser, aber immer noch in ihrer Sprache.

»Was meinst du, Boss?«

Rivera trat einen Schritt zurück, und ein paar salzige Schweißtropfen liefen ihm über die Oberlippe und in den Mund. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er wollte die Kommandozentrale anrufen, aber er wusste, was Admiral Kaye sagen würde – dass er nicht selbst vor Ort war. Dass er das nicht entscheiden könne.

»Sie ist keine Anhängerin von Bahame – nach dem, was er mit ihrem Dorf gemacht hat.«

»Ja«, stimmte einer seiner Männer zu. »Aber die Leute haben Angst vor ihm und wollen ihn nicht ärgern. Sie halten ihn für einen Zauberer.«

»Also, was meint ihr?«, fragte Rivera.

»Wenn wir sie laufen lassen – woher sollen wir wissen, dass sie nicht redet? Verdammt, wir können ihr ja nicht einmal sagen, dass sie nichts von uns erzählen soll.«

Er hatte recht. Was hatte ihr Kontaktmann gesagt? Dass Bahame durch die Augen der Leute sehen konnte? Legenden hatten ihre Wurzeln meistens in der Realität. Vielleicht hatten die Menschen solche Angst vor ihm, dass sogar diejenigen, die ihn hassten, ihm alles erzählten, damit er sie in Ruhe ließ.

»Wir könnten sie an den Baum fesseln und knebeln«, schlug ein anderer vor.

Was sie hier machten, war Wahnsinn. Sie standen schutzlos herum und vergeudeten wertvolle Zeit.

»Boss, das können wir nicht machen. Sie würde verdursten oder ein wildes Tier würde sie sich holen.«

Der Mann, der direkt hinter ihr stand, zog sein Messer. »Sie wird sowieso nicht überleben, ganz allein. Wir würden ihr einen Gefallen tun.«

Rivera stand wie versteinert da – viel zu lange für einen Teamführer. Unentschlossenheit zu zeigen war in seiner Position nicht unbedingt ratsam. Die logische Reaktion war immer, es so zu machen, wie man es in der Ausbildung gelernt hatte – aber die ganze Ausbildung half einem wenig, wenn man in einer solchen Situation war, wenn man ganz real vor der Frage stand, ob man das Leben einer unschuldigen Frau beenden sollte, nur weil es die Sache vielleicht vereinfacht hätte.

»Wir gehen weiter«, beschloss er und schlug einen Weg ein, der um das ausgebrannte Dorf herumführte. Er würde ohnehin schon genug zu erklären haben, im unwahrscheinlichen Fall, dass er eines Tages vor der Himmelstür stehen würde. Einen Mord an einer wehrlosen Frau wollte er nicht auch noch auf seiner Liste haben.

Die Ares Entscheidung
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