Kapitel vier

SÜDNAMIBIA

12. November, 13:58 Uhr GMT+3

 

 

Dr. Sarie van Keuren streckte die Hand aus und verzog das Gesicht, als sich ihre Finger um einen dornigen Zweig schlossen. Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet, und die Erde der Uferböschung, die sie hochkletterte, konnte ihre vierundfünfzig Kilo kaum tragen.

Sie ignorierte das Blut, das ihr über die schwitzenden Hände lief, und schleppte sich weiter, bis zu dem Stativ mit der Videokamera oben auf der Hügelkuppe.

Sie blies den Staub vom Objektiv und blickte in die Büsche, auf die die Kamera gerichtet war. Trotz der grellen afrikanischen Sonne brauchte sie einige Augenblicke, um zwischen den Beeren zu finden, was sie suchte – eine Ameise aus einer Kolonie ganz in der Nähe.

Normalerweise waren die Exemplare dieser Art zierlich und schwarz glänzend. Doch dieses Individuum war durch einen winzigen Parasiten verändert worden. Sein Hinterleib war angeschwollen und leuchtete rot, die perfekte Nachahmung der Beeren, zwischen denen sich die Ameise aufhielt. Der Parasit hatte jedoch auch das Gehirn der Ameise infiziert, sodass sie gezwungen wurde, in den Busch zu klettern, ihre Kiefer um einen Stängel zu schließen und den Hinterleib in die Luft zu strecken.

Zuerst hatte sie sich dagegen gewehrt und mit allen sechs Beinen versucht, sich von dem Stängel zu lösen. Doch jetzt schienen ihre Gliedmaßen gelähmt zu sein – wahrscheinlich weil der schlaue kleine Eindringling sich durch ihre Nerven fraß.

Sie blickte in das ausgewaschene Blau des Himmels, auf der Suche nach den Vögeln, die der Parasit anzulocken versuchte. Dieser spezielle Fadenwurm konnte sich nur im Darm eines Vogels vermehren und verfügte selbst über keine Möglichkeit der Fortbewegung. Die Ameise war der perfekte Partner, wenn auch unfreiwillig.

Van Keuren setzte sich hin und schlang die Arme um die Knie, um so viel wie möglich von sich in den Schatten des riesigen Huts zu bekommen, den sie aufhatte. Vor ihr erstreckte sich trockenes Land in allen Richtungen. Das Einzige, was sie daran erinnerte, dass es da draußen eine moderne Welt gab, war ihr Land Cruiser, der am Fuße des Hügels liegen geblieben war.

Sie versuchte auszurechnen, wie viele Spezies sie im Laufe der Jahre entdeckt hatte, doch ihre Gedanken schweiften schon bald zu ihrer allerersten Entdeckung. Es war vor fünfundzwanzig Jahren gewesen. Ihr Vater war mit einem leicht verbeulten Videorekorder und einer Schachtel Kassetten nach Hause gekommen – ein unbekannter Luxus in dem namibischen Bauerndorf, in dem sie aufwuchs. Sie war damals noch nicht einmal acht Jahre alt und fasziniert von den Kinderfilmen. Stundenlang saß sie vor dem Fernseher und nahm jedes Detail in sich auf, bis sie jedes gesprochene Wort auswendig wusste.

Nach einer Weile begannen ihr die Filme jedoch langweilig zu werden und sie wühlte erneut in der Kiste und fand ein abgenutztes Exemplar von Alien. Ihr Vater hatte sie gewarnt, dass sie davon Albträume bekommen würde, doch sie sah sich den Film trotzdem an und verfolgte wie gebannt die Geschichte von dieser krakenförmigen Kreatur, die sich an das Gesicht der Menschen klammerte und sich in ihren Körpern vermehrte.

Wer hätte gedacht, dass ein Horrorfilm, der ganz unten in einer alten Schachtel versteckt war, eine Besessenheit auslösen würde, die ihr ganzes zukünftiges Leben bestimmen sollte? Gott sei Dank hatte sie keine Kassette von Rocky gefunden, denn dann würde sie jetzt wahrscheinlich in irgendeinem Boxring verprügelt werden.

Die Sonne begann allmählich wieder mit ihrem Abstieg am Firmament, doch das änderte nichts an der drückenden Hitze, die, so schätzte sie, bei fünfundvierzig Grad liegen musste. Es war Zeit, sich in den Schatten ihres Wagens zurückzuziehen.

Hinunter ging es leichter, sie schlitterte einfach auf der lockeren Erde dahin. Als sie festen Boden unter sich hatte, beträufelte sie einen Lumpen mit etwas Wasser und sah in den Außenspiegel, um sich die blonden Haare, die an den Wangen klebten, aus dem Gesicht zu streichen und Staub und Salz abzuwischen.

Ihr Hut war fast so groß wie ein Sombrero, doch er konnte nicht verhindern, dass sich ihre Haut tiefrot verfärbte und sich auf ihrer Nase beinahe zu schälen begann. Obwohl ihre Familie schon seit Generationen in Namibia lebte, war sie mit der hellen Haut geschlagen, auf die ihre Mutter so stolz gewesen war.

Resignierend griff sie in die Kühlbox mit geschmolzenem Eis und nahm die Zutaten für einen Gin Tonic heraus. Vor sechs Tagen waren zwei Männer vorbeigekommen, die in der Gegend nach Bodenschätzen suchten, und sie hatten ihr versprochen, den Toyota-Leuten in Windhoek zu sagen, dass sie hier draußen war, doch jetzt bereute sie, dass sie ihr Angebot, mitzufahren, abgelehnt hatte. Ihre Beharrlichkeit war manchmal eine wertvolle Tugend, aber oft genug brachte sie ihr auch Ärger ein.

Sarie lehnte sich gegen das heiße Metall des Wagens und rutschte ein Stück zur Seite, bis sie den etwas kühleren Hinterreifen im Rücken spürte. Sie hatte nur noch Wasser für einen Tag, doch es gab eine Quelle wenige Kilometer entfernt. Mit den Essensvorräten sah es etwas besser aus, doch das machte ihr ohnehin keine Sorgen; sie hätte hier draußen jederzeit genug Nahrung zum Überleben gefunden. Das einzige echte Problem war der Gin. Nur noch wenige Zentimeter bedeckten den Boden der Flasche, und das war einfach unerträglich.

Sie zog die Stirn in Falten und seufzte leise. Wenn die Sonne unterging, würde sie losmarschieren müssen. Sie würde ungefähr zwei Tage bis zur Straße brauchen, und dann würde sie wahrscheinlich noch einen Tag warten müssen, bis jemand vorbeikam. Was war nur mit der Notiz passiert, die sie sich gemacht hatte, dass sie sich ein Satellitentelefon zulegen musste? Wahrscheinlich lag der Zettel im Handschuhfach, zusammen mit all den anderen ungelesenen Notizen.

Sie war gerade bei ihrem dritten Drink, als sie im fernen Hitzeflimmern etwas auftauchen sah. Zuerst dachte sie, sie hätte zu viel getrunken, doch bald erkannte sie, dass es eine menschliche Gestalt war. Sie griff nach hinten, zog ihr Gewehr aus dem Wagen und spähte durch das Zielfernrohr.

Es war ein Junge von ungefähr sechzehn Jahren, dessen Haut vom Leben im Freien fast schwarz verfärbt war. Er war barfuß und nur mit Khakishorts bekleidet; über der nackten Schulter trug er einen Leinensack.

Sie schenkte sich den letzten Rest Gin ein, um das Ereignis zu feiern, und nippte zufrieden die scharfe Flüssigkeit, während er allmählich näher kam.

»Howzit!«, rief sie, als er in Hörweite war. »Wenn du eine Lichtmaschine in deinem Sack hast, dann bist du mein Held.«

Er blieb vor ihr stehen und sah sie mit einem leicht verwirrten, aber konzentrierten Blick an. Sie versuchte es mit Afrikaans, aber genauso vergeblich, und hatte schließlich mit Ndonga Erfolg, das sie von den Leuten gelernt hatte, die auf der Farm ihrer Eltern gearbeitet hatten.

»Ja«, antwortete der Junge und nickte müde. »Die Autoleute in Windhoek haben sie meinem Vater gegeben, und er hat gesagt, ich soll sie hierherbringen.«

Sie holte eine Cola und etwas zu essen aus ihrer glühend heißen Kühlbox und reichte es ihm, dann kroch sie in ihren Wagen, um Werkzeug zu holen. »Ruh dich im Schatten aus. Wenn wir Glück haben, können wir fahren, bevor es dunkel wird.«

Die Ares Entscheidung
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