Kapitel sechs
SOUTH DAKOTA, USA
12. November, 08:30 Uhr GMT-7
Dr. Jonathan Smith sah langsam einen Stapel Krankenblätter durch, während die Schwester ihm schilderte, was sich im Zustand seiner jungen Patienten verändert hatte. Er blickte alle paar Sekunden zu ihr auf – vor allem um ihr zu zeigen, dass er noch zuhörte, aber auch, um ihre rote Haarpracht zu bewundern, die über ihre Schultern und ihre makellose elfenbeinfarbene Haut fiel.
»Jon Boy!«
Dr. Derek Cantor tauchte am Ende des Ganges auf und eilte schnaufend zu ihm herüber. Der graue Haarkranz auf seinem kahlen Kopf hüpfte mit seinem Bauch im Takt und ließ ihn zusammen mit seinen großen Schuhen ein bisschen wie einen Clown außer Dienst aussehen. Das war einer der vielen Gründe, warum ihn vor allem die jüngeren Patienten liebten.
»Derek. Genau der Mann, den ich sprechen wollte«, sagte Smith. »Ich war gestern im Lebensmittelladen, aber sie lassen mich immer noch nicht bezahlen.«
»Ich hab mit ihnen gesprochen, alter Junge, aber es ist nun mal so, dass keiner Geld von dir nimmt. Verdammt, wenn ich das sehe, dann bin ich richtig froh, dass ich noch meine Steuer zahlen darf.«
Smith zog die Stirn in Falten. Die Sache wurde langsam unheimlich. Der Inhaber des alten Cowboy-Motels, in dem er sich einquartiert hatte, brachte ihm jeden Abend eine selbst gekochte Mahlzeit, und als er gestern das Stoppschild direkt vor der Polizeiwache überfahren hatte, lächelte ihm der Sheriff nur zu und hielt den Daumen hoch.
Cantor zeigte auf die Schwester, die hinter Smith stand. »Also, wie sieht’s aus, Stace?«
»Ich glaube, wir sind über den Berg.«
»Auch Tina?«
»Hat sich deutlich gebessert seit gestern Abend.«
Cantor klatschte laut in die Hände und eilte weiter. »Ich frag mich, ob man auch Trinkgeld in die Steuererklärung reinnehmen kann. Ruft doch mal einer meinen Steuerberater an!«
Smith wandte sich wieder dem Krankenblatt zu, schüttelte den Kopf und lachte leise.
»Es fängt an zu schneien«, sagte Stacy. Ihre Stimme klang so beunruhigt, dass Smith durch das Fenster auf die nicht allzu dichten Schneeflocken hinaussah. Kein Unwetter, das einem Mädchen Angst machen sollte, das in dieser kleinen Stadt in South Dakota aufgewachsen war.
»Die Straße wird glatt sein«, fuhr sie fort. »Das kann ziemlich gefährlich sein für jemanden, der nie bei solchen Straßenverhältnissen fährt. Ich könnte Sie heute Abend zurück ins Hotel fahren …«
Er warf das Krankenblatt auf die Theke zwischen ihnen und suchte in ihrem Gesicht nach irgendeinem kleinen Fältchen. Er fand keines und schätzte ihr Alter auf ungefähr fünfundzwanzig – ganze neunzehn Jahre jünger als er.
»Und wissen Sie, Jon, mein Bruder hat das beste Restaurant in der Stadt. Es liegt auf dem Weg – wir könnten ja kurz reingehen und ein bisschen was essen.«
Es war durchaus möglich, dass sie ihn für deutlich jünger hielt, als er tatsächlich war. Seine Schultern waren immer noch breit und seine Hüften schmal, doch sie konnte nicht wissen, dass es ihn immer mehr Mühe kostete, in Form zu bleiben. Sein kurzes schwarzes Haar war immer noch dicht, und seiner relativ dunklen Haut sah man noch nicht an, wie hart seine Einsätze manchmal waren.
Smiths erster Reflex war, nein zu sagen – private Abenteuer vertrugen sich nicht gut mit seinem Beruf. Andererseits war ein Abendessen mit einer klugen schönen Frau eine angenehmere Aussicht, als wieder einmal vor dem Fernseher zu hocken und sich irgendeine Wiederholung auf dem einzigen Sender anzusehen, den man in dem Hotel reinbekam.
»Gibt‘s auch Steak dort?«
Sie lächelte breit, und nicht einmal jetzt tauchte in ihren Augenwinkeln das kleinste Fältchen auf. »So ein gutes haben Sie noch nie gegessen.«
Er nickte und drehte sich um, um in die provisorische Quarantänestation zu gehen, die man im hinteren Teil des Krankenhauses eingerichtet hatte. »Dann bin ich dabei.«
Am Ende des Ganges schlüpfte Smith durch ein Absperrband und einen Plastikvorhang, ehe er durch die Doppeltür eintrat.
»Okay, wie geht’s euch allen?«
Acht Kinder lagen in den Betten, die vor der Wand aufgereiht waren. Einige waren mit Videospielen beschäftigt und sahen aus, als dürften sie bald nach Hause, während andere noch Mühe hatten, aufrecht zu sitzen.
»Guten Morgen, Colonel Smith«, grüßten sie im Chor, so wie man es ihnen beigebracht hatte.
Er setzte sich auf einen Rollschemel und stieß sich vom Boden ab, sodass er direkt zum Bett eines jungen Mädchens glitt, das gerade in die fünfte Klasse gekommen war. »Ich hab gehört, dir geht’s schon wieder prächtig, Tina.«
Sie hustete und bemühte sich sichtlich, es besser klingen zu lassen, als es war. »Ich fühle mich schon viel besser als gestern.«
»Das freut mich sehr«, sagte er, dann streifte er Handschuhe über und überprüfte ihre Lymphknoten.
In einer kleinen Stadt aufzuwachsen, wo jeder jeden kannte, konnte etwas Wunderbares sein, aber so wie alles im Leben hatte es auch seine Nachteile. So gab es zufällig in dieser Stadt eine sehr charismatische Frau, die davon überzeugt war, dass der Autismus ihres Sohnes von Impfungen verursacht worden war. Seither führte sie eine erschreckend erfolgreiche Kampagne gegen das Impfen und versuchte alle, die sie kannte, dazu zu bewegen, ihre Kinder nicht mehr impfen zu lassen.
Der erste Masernfall war vor einem Monat aufgetreten – ein sechsjähriger Junge, der auf einer Ranch im Norden wohnte; er hatte auch seine Klassenkameraden in der einzigen Schule des Städtchens angesteckt. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Krankheit ausbreitete, überraschte alle; es lag wohl vor allem daran, dass die Impfrate nicht mehr hoch genug war, um die sogenannte Herdenimmunität zu sichern und eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern.
Als ein kleines Mädchen an Komplikationen im Verlauf der Krankheit starb, wandten sich die überforderten Ärzte in ihrer Verzweiflung an die Regierung und die Centers for Disease Control. Die Nachricht gelangte schließlich bis Fort Detrick, wo Smith als Army-Spezialist für Infektionskrankheiten tätig war. Es war schon viel zu lange her, dass er selbst am Krankenbett eines Patienten gestanden hatte, und so erklärte er sich sofort bereit, sich der Sache anzunehmen.
»Wie fühlt sich mein Hals an?«, fragte Tina und sah ihn hoffnungsvoll an.
»Sehr gut. Bald bist du wieder auf den Beinen.«
»Wirklich?«
»Ich schwör’s.«
Sein Handy klingelte, und er griff in seine Tasche, um nach der Nummer des Anrufers zu sehen. Mit einem Stirnrunzeln blickte er auf das winzige Verschlüsselungssymbol, das auf dem Display erschien.
»Wer ist es denn?«, wollte Tina wissen.
»Meine Mom«, log Smith, ohne zu zögern – eine Fähigkeit, die er sich in seiner Zeit beim Geheimdienst angeeignet hatte. »Und seine Mom kann man nicht warten lassen, stimmt’s?«