Kapitel elf
WESTKAP, SÜDAFRIKA
14. November, 01:02 Uhr GMT+2
Sarie van Keurens Blick fiel auf ihren Vater – die Latzhose, die an seinen breiten Schultern hing, der alte Cowboyhut, den er auf einer Reise nach Amerika gekauft hatte, die blassblauen Augen, die alles zu sehen und zu verstehen schienen.
Er stand vor der Scheune, irgendein scharfes Werkzeug in der Hand, das sie nicht genau erkennen konnte. Sie wollte zu ihm laufen, doch sie kam einfach nicht vorwärts. So als wäre die Schwerkraft zu schwach, sodass ihre Füße hilflos über die fruchtbare Erde rutschten.
Er kam ihr entgegen und sie streckte die Arme nach ihm aus, doch er blieb ein paar Meter vor ihr stehen. Sie sah auf ihre kleinen Hände hinunter, die glatt und makellos waren, trotz der jahrelangen Arbeit in der afrikanischen Wildnis.
Er hob die riesige Klinge hoch über den Kopf. Sie glitzerte einen Moment lang im Sonnenlicht, dann sauste sie herab, direkt auf ihren Hals zu, und sie riss die Arme hoch und schrie.
Sarie schreckte aus dem Schlaf hoch, sie konnte kaum atmen, bis sie das Zimmer im grünlichen Leuchten ihres Weckers erkannte. Sie hob die Hand und wischte sich zitternd den Schweiß von der Stirn, während sie ihren Herzschlag zu beruhigen versuchte.
Sie hatte den Traum seit Jahren nicht mehr gehabt, und er hatte nie so geendet. Ihr Vater hatte sich immer nur umgedreht und war gegangen, während sie nach ihm rief und verzweifelt zu ihm zu laufen versuchte – man musste kein Genie sein, um den Traum zu analysieren. Aber was zum Teufel hatte das jetzt zu bedeuten?
Sarie wusste, dass sie nicht so schnell wieder einschlafen würde, deshalb schlüpfte sie in eine Jogginghose und schlurfte zur Küche, um zu sehen, ob sie etwas Passendes im Kühlschrank fand. Ein paar Schlucke Orangensaft – nicht mehr ganz frisch – halfen ihr, sich zu beruhigen, doch es gelang ihr trotzdem nicht, wieder ganz in die Gegenwart zurückzukehren.
Sie schloss die Augen und versuchte, alle Gedanken auszublenden, so wie sie es gelernt hatte, doch es funktionierte nicht. Manchmal wollte die Vergangenheit einfach nicht ruhen.
Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater verzweifelt versucht hatte, den Waffenschrank aufzuschließen, an das grausame Lachen der Männer, die bei ihnen eingebrochen waren. Sie erinnerte sich, wie sie so brutal auf den Boden geworfen wurde, dass sie nicht einmal schreien konnte, als ihr die Kleider von ihrem jungen Körper gerissen wurden.
Ihr Vater versuchte, zu ihr zu gelangen, doch ein Schlag mit einem dicken Knüppel gegen den Hinterkopf schickte ihn zu Boden. Sie verprügelten ihn stundenlang, so kam es ihr vor, und als er sich nicht mehr rührte, spürte sie überhaupt nichts mehr. Ihre Mutter streckte die Arme nach ihr aus, während sie immer wieder vergewaltigt wurden. Sie hatte sich hilflos gefühlt wie in ihrem Traum.
Als die Männer schließlich gingen und alles mitnahmen, was sie tragen konnten, ließen sie sie am Boden liegen, weil sie dachten, sie wären tot. Sarie kam erst wieder zu Bewusstsein, als das Licht der Sonne durchs Fenster flutete. Sie blickte zu ihren Eltern hinüber und sah in ihre starren, toten Augen.
Sie hatte auch sterben wollen. Um bei ihnen in dem Himmel zu sein, von dem man ihr jeden Sonntag erzählt hatte. Aber ihr zwölf Jahre altes Herz wollte einfach nicht aufhören zu schlagen.
Schließlich schleppte sie sich aus dem Haus, nackt und blutend, unfähig, auf ihren Beinen zu stehen mit ihrer zertrümmerten Hüfte und dem verrenkten Knie. Als die Arbeiter schließlich kamen und sie sahen, waren sie so empört und schockiert, dass sie laut schreiend über die Felder liefen.
Ihre Farm in Namibia wurde wenig später verkauft, und sie kam zu ihrer Tante nach Kapstadt, die sie aufzog und sich um sie kümmerte. Aber jetzt war auch diese gütige, wunderbare Frau nicht mehr da.
Sie wurde von einer Einsamkeit überwältigt, wie es ihr nicht oft passierte, und merkte jetzt erst, wie still es im Haus war. Wo waren die Hunde? Wenn sie nachts aufstand, machten sie sich immer lautstark bemerkbar.
»Halla? Ingwe?«, rief sie, ging zur Hintertür und öffnete sie. »Ich hab noch Boerewors da. Kommt und holt euch einen kleinen Leckerbissen.«
Draußen in der Dunkelheit bewegte sich etwas, und sie ging in die Knie und streckte die Arme aus. Manchmal lösten sich alle Probleme in nichts auf, wenn einem nur eine Hundezunge übers Gesicht leckte.
Sie wurde ins Haus zurückgeschleudert, doch es waren nicht die Hunde, die sie umgeworfen hatten. Die Umrisse eines Mannes erschienen in der Tür, und sie rollte sich zur Seite und hatte genug Schwung, um das Wohnzimmer zu erreichen.
Er wollte sich auf sie werfen, verfehlte sie aber und landete hart auf dem alten Holzboden. Er stieß einen Fluch aus, als sie aufsprang.
Das Sofa war nur wenige Meter entfernt, und sie lief los und kippte nach vorn, als der Mann sie mit der Hand am Fuß traf. Sie versuchte gar nicht erst, das Gleichgewicht zu bewahren, stürzte zu Boden und rutschte mit ausgestreckter Hand weiter.
In dem Holster, das unten am Sofarahmen befestigt war, steckte eine von vielen Pistolen, die sie überall im Haus griffbereit hatte. Sie würde nicht denselben Fehler begehen wie ihr Vater.
Ihre Finger streiften das kalte Metall, doch bevor sie zugreifen konnte, schloss sich eine kräftige Hand um ihren Fußknöchel.
Sarie rollte sich sofort auf den Rücken und versuchte, dem Angreifer einen Tritt zwischen die Beine zu verpassen. Zu ihrer eigenen Überraschung fand ihr nackter Fuß sein Ziel, und er ließ sie erneut los und fluchte laut in der Sprache irgendeines Stammes, den sie nicht recht zuordnen konnte.
Ihr Herz hämmerte wie wild, als sie zu einem kleinen Beistelltisch hechtete, an dem eine noch kleinere Pistole, eine Kaliber .22, befestigt war. Nicht ihre erste Wahl, aber trotzdem wirkungsvoll, wenn einen die Kugel zum Beispiel im Gesicht traf.
Aber auch diesmal war sie einen Sekundenbruchteil zu langsam, und die Hand packte ihr Bein erneut. Im nächsten Augenblick wurde sie durch die Luft geschleudert. Der Deckenventilator lief immer noch, und sie streifte ihn mit der Schulter, als sie über das Sofa flog und auf einem alten Lehnstuhl landete, der mit einem berstenden Geräusch nach hinten kippte.
Der Mann, der ihr in dem dunklen Zimmer wie ein Geist erschien, war fast bei ihr, doch er rutschte auf den alten Holzdielen aus, die von den Schritten der Bewohner in über hundert Jahren geglättet waren.
Sarie war vom Rest des Hauses abgeschnitten, und so sprintete sie zur Kochinsel in der Mitte ihrer Küche und schnappte sich ein Messer aus dem Holzblock. Sie wirbelte herum, als er hinter ihr auftauchte, stieß zu und spürte, wie das Messer in sein Fleisch eindrang, bevor sein dicker Unterarm gegen ihren Hals schlug und sie mit dem Hinterkopf gegen die Arbeitsplatte krachte. Sie sank zu Boden und kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren, während er zurücktaumelte und auf das Messer hinunterstarrte, das zwischen seinen Rippen steckte. Sie sah, wie er es herauszog, und biss die Zähne zusammen, um die Schmerzen in ihrem Kopf zu unterdrücken. Ein Schälmesser. In ihrer Panik hatte sie nach dem kleinsten Messer im Block gegriffen.
Er stürzte sich auf sie, und sie versuchte aufzustehen, hatte aber nicht einmal mehr die Kraft, um den Arm zu heben und das blutige Messer abzuwehren, mit dem er auf sie zukam.
Er schrie sie an, und der Speichel spritzte ihr ins Gesicht, als er sie schüttelte und ihr die Klinge an den Hals drückte.
»Halt doch die Klappe und tu’s«, sagte sie, und ihre Stimme klang seltsam fern.
Er zog das Messer zurück – seine Wut war so groß, dass er Mühe zu haben schien, einen klaren Gedanken zu fassen. Er ließ das Messer fallen, schnappte sich eine Stehlampe und riss sie hoch, so wie ihr Vater es in ihrem Traum getan hatte. Doch anstatt sie ihr auf den Schädel zu schmettern, zögerte er und ließ sie auf den Boden fallen.
Im nächsten Augenblick wurde sie an den Haaren durch die Haustür ins Freie gezerrt, während sie mit den Händen kraftlos nach seinem Unterarm krallte.
Der Anblick ihrer beiden Hunde, die tot in der Auffahrt lagen, raubte ihr die allerletzte Kraft. Sie wehrte sich nicht mehr, als sie auf den Asphalt geschleppt und auf den Bauch gedreht wurde. Sie verlor immer wieder für Augenblicke das Bewusstsein und hörte wie von fern das Geräusch eines Klebebands, das von einer Rolle gerissen und um ihre Handgelenke gewickelt wurde.
Vielleicht war es ihr damals vor vielen Jahren schon bestimmt gewesen, mit ihren Eltern zu sterben. Vielleicht holte ihr Schicksal sie jetzt ein.