Kapitel siebzehn

PRINCE GEORGE’S COUNTY, MARYLAND, USA

16. November, 14:48 Uhr GMT-5

 

 

»Was um alles in der Welt ist denn hier los?«, rief Fred Klein und blieb abrupt in der Tür stehen. Die ganze Reihe von Computern, mit denen Covert One arbeitete, stand still, die kinoähnlichen Bildschirme in den Wänden waren dunkel.

Jon Smith wickelte noch etwas Klebeband um einen Müllsack, der die Sicherheitskamera über ihm abdeckte, dann sprang er von dem Stuhl, auf dem er stand. »Marty ist der größte Computerexperte auf dem Planeten. Aber er ist auch ungewöhnlich neugierig. Sie wollen sicher nicht, dass er in Ihren Systemen herumschnüffelt.«

»Es ist doch nur eine Videokonferenz, Jon. Unser System ist in unabhängige Teile gegliedert, und die Sicherheitsvorkehrungen sind auf dem neuesten Stand. Man hat mir versichert, dass Hacker keine Chance haben.«

»Glauben Sie mir, das reizt diesen Kerl noch mehr. Wenn Sie wirklich sicher sein wollen, dass er nichts über Covert One herausfindet, dann dürfen Sie ihm keine Angriffsfläche bieten.«

Klein zuckte die Achseln und trat ein. Er sah Smith mit seltsam ernstem Blick in die Augen. »Wie geht es Ihnen, Jon? Es ist furchtbar, was mit Rivera passiert ist. Aber Sie wissen doch, dass es nicht Ihre Schuld ist, nicht wahr?«

Smith lächelte schwach. In Wahrheit war er sich da nicht so sicher. Vielleicht hätte er Kleins Anruf nicht entgegennehmen sollen. Vielleicht hätte er um einen Sekundenbruchteil schneller sein können.

»Ja, es geht schon, Fred. Danke.«

»Okay. Sind wir so weit?«

»So gut wie.«

Smith setzte sich und öffnete einen nagelneuen Laptop, den er an die riesigen Bildschirme im Raum angeschlossen hatte. Die eingebaute Kamera hatte er mit Klebeband abgedeckt. Er steckte einen Internetstick ein, um eine Verbindung zu bekommen, die unabhängig von Covert One war, dann drückte er den Einschaltknopf.

Es erschien nicht der Login-Screen, den er erwartet hatte, sondern ein großflächiges Bild des bösen Clowns aus dem Stephen-King-Roman Es.

»Wo steckst du denn die ganze Zeit, Jon?«, fragte Es. »Ich warte jetzt schon ein Jahr, dass du dich wieder mal meldest.«

Smith zog die Stirn in Falten, als sich der Clown in das rundliche Gesicht von Marty Zellerbach verwandelte. Wie stellte er das nur an?

»Sorry, Kumpel. Ich hatte ein paar Dinge, um die ich mich kümmern musste.«

»Was denn? Deinen Ofen putzen? Willst du mich veräppeln? Hast du dieses Video gesehen? Das ist irre, Mann. Und ich hab schon genug irre Sachen gesehen.«

Er und Zellerbach kannten sich schon seit der Mittelschule, wo der kränkliche Junge bereits seine erstaunlichen geistigen Fähigkeiten, aber auch eine gewisse mentale Instabilität gezeigt hatte, die ihm auch später noch zu schaffen machte. Dennoch entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Jungen; so sammelte Smith seine ersten Kampferfahrungen in den Situationen, in denen er das hilflose Genie gegen die Sportlertypen verteidigte, die seine etwas schrullige Art für Respektlosigkeit hielten.

»Hey, ich kann dich nicht sehen, Jon. Was ist denn mit deiner Kamera?«

»Die muss kaputt sein.«

Das Gesicht auf dem Bildschirm nahm einen erstaunten Ausdruck an. »Nach meinen Anzeigen sollte alles funktionieren, aber ich bekomme nur einen schwarzen Bildschirm. Moment, ich bring das in Ordnung.«

»Das ist jetzt nicht wichtig, Marty. Du weißt doch, wie ich aussehe.«

»Aber so was muss man doch reparieren«, jammerte er. »Ich finde den Fehler. Mit so einer läppischen Webcam werd ich allemal fertig.«

»Marty! Kommen wir bitte zur Sache, ja? Um die Kamera kümmern wir uns später. Was hast du mit dem Video anfangen können?«

»Das Video. Ja! Schrecklich! Faszinierend! So etwas ist noch nie von einer Kamera aufgenommen worden. Kannst du dir vorstellen …«

»Hast du irgendwelche Informationen daraus gewonnen?«

»Was für eine Frage! Natürlich! Dann lebst du jetzt also im Prince George’s County?«

Klein zog eine Augenbraue hoch und blickte nervös zu den Säcken hinauf, mit denen die Sicherheitskameras abgedeckt waren. Smith zeigte auf den Internetstick. »Handymast«, formte er lautlos mit den Lippen.

»Nein, ich bin nur heute Nachmittag hier. Wir waren beim Video.«

»Ja.« Zellerbachs Kopf verschwand, stattdessen sah man eine blutverschmierte Frau, die sich auf einen von Riveras Männern stürzte. Die Bildschärfe war deutlich erhöht, sodass die Bilder noch schockierender wirkten als vorher. Smith musste sich zwingen, nicht wegzusehen, als die Frau auf den Soldaten einprügelte, der sich verzweifelt wehrte.

»Hast du gesehen, wie schnell sie ihn eingeholt hat?«, sagte Zellerbach. »Es sieht so aus, als hätte sich Praman in Zeitlupe bewegt.«

Kleins Miene verfinsterte sich, und Jon zuckte hilflos die Achseln. Er hatte Zellerbach nicht gesagt, wer die Männer auf dem Video waren. Er hatte ihm nur ganz allgemein erklärt, was er von den Aufnahmen analysiert haben wollte. Wenn man sich an den besten IT-Experten wandte, dann musste man die unangenehme Tatsache in Kauf nehmen, dass er Dinge herausfand, die man lieber für sich behalten hätte.

»Ja, Marty. Es ist schwer zu übersehen. Ich habe mir gedacht, dass er vielleicht verletzt war, oder einfach sehr müde von dem langen Marsch.«

»Au contraire, mon frère. Der Typ war schnell wie der Blitz. Hast du gewusst, dass er in der Highschool-Zeit einer der besten Receiver im ganzen Land war? Er hätte auf jedes College gehen können und wäre wahrscheinlich ein erstklassiger Footballprofi geworden. Cheerleaders. Supermodels. Lamborghinis. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund wollte er lieber Soldat werden.«

»Gott allein weiß, warum manche Leute so dumm sind, zur Army zu gehen«, räumte Smith ein.

»Ja, aber das hier versteht nicht mal Gott, glaube ich. Was ich damit sagen will – diese Frau ist einfach zu schnell.«

»Wie meinst du das – zu schnell?«

»Ich habe Simulationen durchgeführt – und die Geschwindigkeit, mit der sie läuft, ist einfach absurd.«

»Die reale Welt lässt sich wohl kaum genau simulieren.«

»Irrtum – aber ich habe gewusst, dass du das sagen wirst, darum habe ich eine 3-D-Karte gemacht und sie einem Bauunternehmer gegeben. Er hat das Ganze als Hindernisstrecke auf einem Stück Land aufgebaut, das mir gehört.«

»Du hast was gemacht?«

»Ich hab das Stück Dschungel nachbauen lassen.«

»Du hast das Video nur drei Tage gehabt.«

»Na ja, wie heißt es im Autorennsport? Geschwindigkeit kostet Geld. Die Frage ist, wie schnell du fahren willst. Ach, übrigens. Wo soll ich denn die Rechnung hinschicken? Direkt an dich?«

»Sicher, Marty. Das geht in Ordnung.«

»Okay. Also, dann hab ich den besten Sprinter der West Virginia University angeheuert, damit er die Strecke läuft. Ich gab ihm so viele Versuche, wie er wollte, und habe seine schnellste Zeit herangezogen.«

»Und?«

Ein Gitter aus grünen Linien legte sich über das Video, dann begann es von vorne, und der Sprinter wurde durch ein Strichmännchen dargestellt. Er war ein klein wenig schneller als Praman, aber deutlich langsamer als die Frau.

»Das kann nicht stimmen, Marty.«

»Würd ich auch sagen. Das kann nicht sein. Aber es ist so. Diese nicht gerade schlanke Frau scheint da einen neuen Weltrekord über fünfzig Meter aufgestellt zu haben – und das auf unebenem Boden.«

Smith kaute einen Moment lang an seinem Daumennagel. Das war nicht das, was er hatte hören wollen. »Was ist mit dem Blut?«

»Es ist nicht aufgemalt, falls du das meinst.« Der Bildschirm wurde dunkel, dann erschien das Bild eines afrikanischen Mannes mit nacktem Oberkörper, der direkt auf die Kamera zulief.

»Sieh dir die Ausbreitung des Blutes an – es scheint vom Kopf über den Oberkörper zu rinnen und sich am Hosenbund zu stauen. Ich habe die Hitze in meinem Wohnzimmer raufgedreht und einen Luftbefeuchter eingeschaltet, um die Bedingungen zu simulieren, die an dem Tag in Uganda geherrscht haben – denn ich bin mir ziemlich sicher, dass sich das Ganze dort abgespielt hat –, dann habe ich mich noch mit Blut bemalt und bin herumgelaufen.«

Smith runzelte die Stirn, als er sich vorstellte, wie Marty Zellerbach halb nackt ein Stück rohes Fleisch über seinem Kopf ausdrückte und wie wild durch die Wohnung keuchte. Es war ein Bild, das etwas sehr Beunruhigendes an sich hatte.

»Weißt du, Jon, ich hab festgestellt, dass solche Experimente etwas ziemlich Aufregendes sein können. Ich hab immer gedacht, ihr Mikrobiologen mögt Computermodelle deshalb nicht, weil ihr als Gruppe nicht gerade die größten Leuchten seid. Aber jetzt sehe ich, dass reale Experimente auch ihren Reiz haben.«

»Das freut mich wirklich zu hören. Was hast du dabei herausgefunden?«

»Dass das Blut sich verdünnt, wenn man schwitzt, bis es ganz weg ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Leute aus der Kopfhaut bluten.«

»Kann es sein, dass sie sich selber Schnitte zufügen? Irgendeine Zeremonie?«

»Tut mir leid, Jon – das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Ich habe aus dem Video alles herausgeholt, aber die Auflösung reicht trotzdem bei Weitem nicht aus, um so kleine Wunden zu erkennen. Ruf mich das nächste Mal an, wenn ihr wieder so was macht, dann bau ich dir ein paar anständige Kameras.«

»Okay. Sonst noch etwas?«

»Eine Sache noch«, antwortete Zellerbach, während auf dem Bildschirm ein weiteres Video in Zeitlupe zu laufen begann. »Schau nach hinten – auf den großen Kerl mit der Sonnenbrille, die ihm ins Gesicht rutscht.«

Smith beobachtete, wie der Mann stürzte und reglos am Boden liegen blieb.

»Wurde er angeschossen?«

»Nein, er wurde nicht getroffen. Jetzt sieh dir diese Standfotos an, und die Zeitangabe.« Auf dem Bildschirm erschien eine Collage aus Standfotos, die den Mann am Boden über die ganze Zeitspanne des Angriffs zeigten.

»Ich habe sie ganz genau verglichen – der Typ hat sich keinen Millimeter bewegt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er tot ist. Das Interessante ist, dass ich dieses Phänomen insgesamt drei Mal gefunden habe. Das ist nur die beste Aufnahme davon.«

»Wenn es keine Kugel war – was dann?«

»Nichts, soweit ich das erkennen kann. Das ist ja das Eigenartige daran. Sie sind einfach tot umgefallen.«

Smith trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Das Bewusstsein verhinderte normalerweise automatisch, dass sich der Körper allzu sehr verausgabte, um Verletzungen oder Erschöpfung mit schwerwiegenden Folgen zu vermeiden. Es war zwar möglich, dieses Sicherheitsventil zu umgehen, aber das kam selten vor – zum Beispiel bei Müttern, die zu enormen Kraftanstrengungen fähig waren, um ihr Kind vor einer drohenden Gefahr zu retten, bei Leuten, die unter dem Einfluss bestimmter Drogen standen, oder in einem Zustand extremer Angst.

»Okay, danke, Marty.«

»Kein Problem. Wenn du wieder mal etwas in dieser Art hast, kannst du’s mir jederzeit schicken. Ich lass alles andere liegen. Unglaublich. Verrückt …«

»Mach ich. Jetzt hätte ich gern, dass du das Video und deine Analyse löscht.«

»Kein Problem.«

»Ich meine, nicht bloß löschen, sondern völlig auslöschen, sodass es sich auf deinem System nicht mehr wiederherstellen lässt.«

»Okay«, sagte Zellerbach wenig begeistert.

Der Bildschirm wurde dunkel, und Smith schaltete den Laptop aus.

»Was würden Sie …«, begann Klein, ehe Smith die Hand an die Kehle hob und seinen Chef mit einer schneidenden Geste unterbrach.

»Der Computer ist ausgeschaltet, Jon.«

Smith hob den Laptop hoch und schmetterte ihn mehrmals gegen die Tischkante, bis die Trümmer auf dem Fußboden herumlagen. »Man darf Marty Zellerbach nie unterschätzen.«

Die Ares Entscheidung
cover.html
e9783641091972_cov01.html
e9783641091972_fm01.html
e9783641091972_ata01.html
e9783641091972_toc01.html
e9783641091972_c01.html
e9783641091972_c02.html
e9783641091972_c03.html
e9783641091972_c04.html
e9783641091972_c05.html
e9783641091972_c06.html
e9783641091972_c07.html
e9783641091972_c08.html
e9783641091972_c09.html
e9783641091972_c10.html
e9783641091972_c11.html
e9783641091972_c12.html
e9783641091972_c13.html
e9783641091972_c14.html
e9783641091972_c15.html
e9783641091972_c16.html
e9783641091972_c17.html
e9783641091972_c18.html
e9783641091972_c19.html
e9783641091972_c20.html
e9783641091972_c21.html
e9783641091972_c22.html
e9783641091972_c23.html
e9783641091972_c24.html
e9783641091972_c25.html
e9783641091972_c26.html
e9783641091972_c27.html
e9783641091972_c28.html
e9783641091972_c29.html
e9783641091972_c30.html
e9783641091972_c31.html
e9783641091972_c32.html
e9783641091972_c33.html
e9783641091972_c34.html
e9783641091972_c35.html
e9783641091972_c36.html
e9783641091972_c37.html
e9783641091972_c38.html
e9783641091972_c39.html
e9783641091972_c40.html
e9783641091972_c41.html
e9783641091972_c42.html
e9783641091972_c43.html
e9783641091972_c44.html
e9783641091972_c45.html
e9783641091972_c46.html
e9783641091972_c47.html
e9783641091972_c48.html
e9783641091972_c49.html
e9783641091972_c50.html
e9783641091972_c51.html
e9783641091972_c52.html
e9783641091972_c53.html
e9783641091972_c54.html
e9783641091972_c55.html
e9783641091972_c56.html
e9783641091972_c57.html
e9783641091972_c58.html
e9783641091972_c59.html
e9783641091972_c60.html
e9783641091972_c61.html
e9783641091972_c62.html
e9783641091972_c63.html
e9783641091972_c64.html
e9783641091972_c65.html
e9783641091972_c66.html
e9783641091972_c67.html
e9783641091972_c68.html
e9783641091972_c69.html
e9783641091972_c70.html
e9783641091972_c71.html
e9783641091972_c72.html
e9783641091972_c73.html
e9783641091972_c74.html
e9783641091972_c75.html
e9783641091972_c76.html
e9783641091972_c77.html
e9783641091972_c78.html
e9783641091972_c79.html
e9783641091972_c80.html
e9783641091972_c81.html
e9783641091972_c82.html
e9783641091972_c83.html
e9783641091972_c84.html
e9783641091972_c85.html
e9783641091972_c86.html
e9783641091972_c87.html
e9783641091972_c88.html
e9783641091972_c89.html
e9783641091972_c90.html
e9783641091972_c91.html
e9783641091972_c92.html
e9783641091972_bm01.html
e9783641091972_bm02.html
e9783641091972_cop01.html