Kapitel neunzehn
TEHERAN, IRAN
17. November, 13:03 Uhr GMT+3:30
Mehrak Omidi saß schweigend hinten im Van, den Blick auf eine kleine Reihe von Monitoren gerichtet, die den Mob zeigten, der sich mitten im Herzen von Teheran zusammengerottet hatte.
Die Demonstration war viel größer, als sie erwartet hatten; inzwischen war nicht nur der Azadi-Platz verstopft, sondern auch die umgebenden Straßen, sodass der Verkehr durch das Stadtzentrum zum Erliegen gekommen war. Es war schwer zu sagen, ob seine Leute einfach versagt hatten, weil sie die Anzeichen für diese verräterischen Umtriebe falsch eingeschätzt hatten, oder ob sich viele Passanten ganz spontan dem Protest angeschlossen hatten. Die sorgfältige Organisation ließ eher das Erstere vermuten.
Auf der Westseite des Platzes, wo die Sicherheitskräfte am schwächsten waren, wurde die Menge immer dreister. Ein großer Stein flog durch die Luft und prallte an einem Plexiglasschild ab. Als keine Reaktion kam, flog eine Flasche.
Internationale Medien waren ohnehin nicht mehr zugelassen, doch im Zeitalter der Handys und Videokameras konnte jeder zum Reporter werden. Als Leiter des Geheimdienstministeriums hatte Omidi alles versucht, um ein nationales Kommunikationssystem einzurichten, das sich gezielt sperren ließ. Die Technologie war mittlerweile allerdings so komplex und vielfältig geworden, dass keine Regierung sie noch hundertprozentig kontrollieren konnte. Außerdem musste er sich eingestehen, dass seine Leute im Umgang mit den neuen Medien längst nicht so geschickt waren wie die Widerstandskämpfer. Irans Jugend schien sich – so wie die Jugend überall – jeden technischen Fortschritt sofort zu eigen zu machen.
Die Menge schob sich auf den Polizeikordon zu, und er sah, wie die Polizisten Tränengas sprühten. Die Getroffenen wichen zurück, doch die Demonstration löste sich keineswegs im Chaos auf, wie es noch vor einigen Monaten der Fall gewesen wäre. Einige Männer trugen eine verletzte Frau mit Tschador weg, während ihre Landsleute ihnen den Weg freimachten. Diese Proteste zeigten etwas Neues – eine ruhige und effiziente Vorgangsweise, die auf Vorbereitung schließen ließ.
Sie hatten das zum ersten Mal vor einem Jahr beobachtet, als kleine Gruppen in der Menge sich nicht mehr einschüchtern ließen und andere ermutigten und ihnen die Angst nahmen, auf die die zahlenmäßig hoffnungslos unterlegene Polizei setzte. Nun bildeten diese Gruppen bereits mehr als die Hälfte der Demonstranten, und mit ihrem zahlenmäßigen Anwachsen hatte sich auch so etwas wie eine Kommandostruktur herausgebildet – eine unsichtbare Hand, die diese Kriminellen anführte, als wären sie Soldaten.
Doch jetzt war diese Hand nicht mehr unsichtbar – es war die Hand von Farrokh. Und mit der Hilfe des allmächtigen Gottes würde man diese Hand bald abtrennen können.
Die Menge drängte wieder nach vorne, mit verblüffender Präzision auf den schwächsten Punkt der Absperrung zu. Omidis Finger verharrte über dem Knopf, mit dem er die Polizei ermächtigen würde, tödliche Gewalt einzusetzen. Dann würden sie ihre Schlagstöcke fallen lassen und zu den Maschinenpistolen greifen. Die Menge marschierte weiter und forderte in Sprechchören Freiheit und Demokratie, doch es kamen keine gewalttätigen Provokationen mehr, die ein Einschreiten der Sicherheitskräfte gerechtfertigt hätten.
Wie erwartet, klingelte das Telefon in seiner Brusttasche, und er holte tief Luft, ehe er den Anruf entgegennahm.
»Ja, Exzellenz?«
Die Stimme von Ayatollah Khamenei, dem obersten Führer des Landes, verriet eine Spur von Panik, was Omidis Zorn aufs Neue entfachte. Khamenei war ein großer Mann, der von Gott auserwählt war, um die Islamische Republik anzuführen. Und diese Leute verspotteten ihn mit ihrem lächerlichen Protest.
»Warum handelst du nicht, Mehrak? Dieser Mob hat unsere Männer angegriffen, sie haben die Reihen durchbrochen. Es ist deine Pflicht, sie aufzuhalten.«
»Ja, Exzellenz. Ich verstehe. Aber unsere Pol…«
»Sie wollen uns vernichten – unsere Republik durch eine Regierung ersetzen, die auf westlicher Sünde und Korruption begründet ist – und du siehst zu und tust nichts! Wir müssen diesen Leuten zeigen, dass die Gläubigen bis zum Tod kämpfen werden, um diese Gotteslästerung zurückzudrängen!«
Seit der Wiederwahl des Präsidenten war die Unzufriedenheit gewachsen. Er selbst war gegen die Art und Weise gewesen, wie die Regierung das Wahlergebnis präsentierte, doch er hatte sich nicht durchsetzen können. Seiner Ansicht nach sollte das Ergebnis nah genug an der Wahrheit sein, um legitim zu wirken, doch Khamenei sah es anders. Er wollte nicht den kleinsten Zweifel daran aufkommen lassen, dass seine Regierung die überwältigende Unterstützung des Volkes genoss.
Das Chaos, das in der Folge ausbrach, hätte sich vermeiden lassen; erst in dieser Situation konnte jemand wie Farrokh groß werden – ein junger Teufel, der genau wusste, wie man die modernen Technologien für seine Zwecke nutzte, und der die gefährliche Fähigkeit besaß, die Jugend zu verderben und seine subversiven Ideen zu verbreiten.
Bisher war es ihnen nicht gelungen, ihn zu finden. Ja, bis vor Kurzem waren sie nicht einmal sicher gewesen, dass es ihn wirklich gab. Vor einem Monat schnappten sie zufällig eine unverschlüsselte E-Mail einer jungen Frau auf, die zum engeren Kreis von Farrokhs Mitarbeitern gehörte, die ihn persönlich kannte und viel über sein Netzwerk wusste.
Es hatte einiger Überzeugungsarbeit bedurft, bei der mehrere ihrer Angehörigen vor ihren Augen getötet wurden, ehe sie schließlich alles erzählte.
»Gib den Befehl, in die Menge zu schießen«, beharrte Khamenei.
»Nichts würde mir mehr Freude bereiten, als diese Feiglinge sterben zu sehen«, antwortete Omidi. »Ihr Widerstand ist eine Beleidigung Gottes. Aber eine Eskalation zum jetzigen Zeitpunkt wäre kontraproduktiv.«
»Warum? Willst du es vielleicht deshalb nicht tun, weil uns die Welt beobachtet? Welche Welt? Amerika? Die Juden? Du tust jetzt, was ich dir sage!«
Omidi seufzte leise. Er hatte es ihm immer wieder erklärt, aber der alte heilige Mann konnte einfach nicht verstehen, dass sie diese Proteste nutzten, um sich von Farrokhs Kommunikation zu ihm führen zu lassen. Wenn sie die Menge zerstreuten, würden sie die Ratte in ihr Loch zurückscheuchen.
»Exzellenz, bitte …«
Die Hecktür des Vans wurde plötzlich aufgerissen, und sein Leutnant, dem er von allen am meisten vertraute, stand im Licht der Nachmittagssonne vor ihm. Omidi lächelte und sprach ein stilles Dankgebet. »Wir haben ihn, Exzellenz.«
Mehrak Omidi betrachtete das stattliche Haus auf dem bewaldeten Hügel und richtete sein Fernglas zuerst auf eine Satellitenschüssel, die aus dem Dach ragte, dann auf die Bögen und Säulen, die so anmutig französische mit persischer Architektur verbanden.
Er war zwischen den Bäumen verborgen, nur wenige Meter vom Straßenrand entfernt, und lauschte über seinen Ohrhörer den Stimmen seiner Männer, die rund um das Haus in Position gingen. Er hatte gehofft, dass Farrokh sich im Stadtzentrum aufhalten würde, was es ihm leichter gemacht hätte, unbemerkt zuzuschlagen. Die Vorbereitung der Operation war nun zwar etwas aufwendiger, dafür hatte sein Opfer weniger Möglichkeiten, zu entwischen. Alle Straßen waren abgesperrt, Hubschrauber überwachten die Luft, und der Verkehr wurde umgeleitet. In Teheran hätte Farrokh vielleicht im allgemeinen Chaos untertauchen können. Hier war er allein und relativ schutzlos.
Als die dreißig Mann, die die Operation durchführten, in Position waren, sprintete Omidi los, zwischen den Bäumen und Büschen hindurch den Hügel hinauf. Er hörte die viel jüngeren Männer hinter ihm keuchen, während sie Schritt zu halten versuchten. In ihrem Alter hatte er einer Eliteeinheit der Revolutionären Garde angehört, und er lebte so, als wäre er immer noch dabei; er trainierte seinen Körper und Geist, um Gott damit zu dienen, und seinem Stellvertreter auf Erden, Ayatollah Khamenei.
Als er den makellos gepflegten Rasen rund um das Haus erreichte, blieb Omidi stehen und hob sein Funkgerät an den Mund. »Jetzt!«
Er hörte den Motor eines Autos aufbrüllen, das über die lange Auffahrt gebraust kam, und sprang auf den Rasen, während das Fahrzeug wenige Meter vor dem Hauseingang schlitternd zum Stillstand kam. Die Pistole mit beiden Händen haltend, lief er zu seinen Männern, die einen Rammbock aus dem Wagen zogen.
Die verzierte Doppeltür flog beim ersten Anprall auf, und Omidi folgte seinen Männern ins Innere.
Normalerweise leitete er eine Operation von seinem Van aus, wo er jederzeit auf eine veränderte Situation reagieren konnte. Aber nicht diesmal. Diesmal wollte er dabei sein. Er wollte den Moment erleben, wenn Farrokh endlich in die Knie gezwungen wurde.
Eine Frau in unzüchtigen westlichen Kleidern erschien am Ende des mit Marmor ausgelegten Eingangsbereichs. Sie stieß einen erschrockenen Schrei aus, dann fragte sie, wer sie seien. Ein Gewehrkolben brachte sie rasch zum Schweigen, und Omidi stieg über die reglose Frau, als er durch einen Torbogen trat. Zwei kleine Kinder tauchten zehn Meter weiter vorne auf und verschwanden eilig durch eine Tür.
Er folgte ihnen und sprintete durch den kunstvoll verzierten Durchgang. Über ein Jahr seines Lebens, das er damit zugebracht hatte, ein Phantom zu jagen, fand seinen Abschluss. Farrokh war da, das spürte er.
Omidi kam zum Ende des Flurs und bedeutete seinen Männern, ihm Deckung zu geben, ehe er in den angrenzenden Raum sprang und ihn mit der Pistole in den Händen überblickte.
»Wer sind Sie?«, rief ein junger Mann und versuchte sich von den Kindern zu befreien, die sich an seine Beine klammerten. »Was tun Sie hier?«
Er war Anfang dreißig, stämmig und auf eine Weise gekleidet, die nicht unbedingt modisch, aber eindeutig teuer war. Sein rundes Gesicht hatte nichts Auffälliges und offenbarte seine Angst deutlich, auch wenn er sie zu verbergen versuchte. Der große Farrokh wirkte unglaublich klein und wehrlos, wenn er sich nicht mehr hinter einer elektronischen Illusion verstecken konnte.
»Keine Bewegung!«, blaffte Omidi.
»Wer sind Sie?«, fragte der Mann noch einmal. »Was haben Sie …«
»Ruhe!«
Omidi trat näher heran, packte eines der schreienden Kinder und zog es von ihm weg, die Pistole weiter auf das Gesicht des Mannes gerichtet.
»Wenn sich der große Farrokh nicht mehr hinter einem Computerbildschirm verstecken kann – versteckt er sich dann hinter Kindern?«, blaffte Omidi, während sich seine Männer rund um den gottlosen Terroristen verteilten.
»Farrokh? Sind Sie verrückt? Ich bin …«
Die Elektroschockpistole traf ihn mitten im Rücken, und er brach zusammen und lag zuckend am Boden.
Omidi schob die schreienden Kinder weg und kniete sich zu dem Mann; er packte ihn an den Haaren und hob seinen Kopf. »Ich weiß genau, wer du bist. Und Gott weiß es auch!«