Kapitel zwanzig
IN DER NÄHE DES YOSEMITE-NATIONALPARKS, USA
17. November, 15:17 Uhr GMT-8
Jon Smith spürte, wie das Schneemobil abhob, und sah sich gezwungen, vom Gas zu gehen, als er landete. Pulverschnee wurde hochgewirbelt und drang ihm in den offenen Mund. Die hohen Gelbkiefern standen nun schon etwas dichter, und er verlangsamte seine Fahrt noch weiter, während sich seine Augen an den Übergang von strahlendem Sonnenlicht zu tiefem Schatten anpassen mussten.
Er änderte seine Fahrtrichtung ein klein wenig, indem er sich am Gipfel des fast 4000 Meter hohen Mount Dana orientierte, während er sich seinen Weg durch die Wildnis am Rand des Yosemite-Nationalparks in Kalifornien bahnte.
Ein paar Rehe beobachteten, wie er zwischen den Bäumen hervorschoss und auf eine ferne Rauchsäule am Horizont zuhielt. Er war noch nie in der Sierra gewesen, wenn hier Schnee lag, und bedauerte, die Gegend nicht schon früher besucht zu haben. Auf seinen vielen Reisen hatte er manche Naturschönheit gesehen, aber nur wenig, was sich mit dieser Landschaft vergleichen ließ, mit ihren massiven Granitwänden, den eingefrorenen Wasserfällen, dem unberührten Wald.
Andererseits wäre es noch stark untertrieben gewesen, zu sagen, dass die Gegend abgelegen war. Die nächste Tasse Kaffee war bei gutem Wetter eine Tagesreise entfernt. Bei schlechtem Wetter konnte es leicht sein, dass man in einer Schneewehe landete und nie wieder herauskam.
Die kleine Blockhütte, aus der der Rauch aufstieg, wurde in der Ferne sichtbar, und Smith zog die Kapuze herunter und nahm die Sonnenbrille ab, damit ihn der Mann, der ihn bestimmt beobachtete, gleich erkannte.
Als er nur noch einen halben Kilometer entfernt war, hielt er das Schneemobil an und ging zu Fuß weiter. Während er durch den Schnee stapfte, hielt er nach dem tiefen Graben Ausschau, der, wie er wusste, den Zugang zu dem Stück Land versperrte.
Es dauerte nicht lange, bis er den Rand des Abgrunds erreichte. Von hier aus wandte er sich nach Westen und kam schließlich zu einer schmalen Brücke. Man sah keine menschlichen Fußabdrücke darauf, dafür aber die Spur eines Berglöwen. Peter Howell hatte vor einigen Jahren eine eigenartige Freundschaft mit der Katze geschlossen – zwei gefährliche Geschöpfe, die einander gelegentlich ein wenig Gesellschaft leisteten, ohne ihre Unabhängigkeit aufzugeben.
Smith kam an einem Schneehaufen vorbei, unter dem sich der Form nach Howells Pick-up befinden musste, und überquerte die rutschige Brücke in dem Wissen, dass ein falscher Schritt einen so tiefen Absturz zur Folge haben würde, dass er genug Zeit hätte, sein Leben zweimal an sich vorbeiziehen zu sehen, bevor er unten ankam.
Die Gegend war vor Kurzem von einem der schwersten Winterstürme der jüngeren Geschichte heimgesucht worden. Der Schnee war vom Dach der Blockhütte gerutscht und hatte die ganze Nordseite unter sich begraben. Die ramponierten Überreste einer Satellitenschüssel guckten aus den Schneemassen hervor; das erklärte, warum er seinen Freund nicht auf einfachere Weise hatte erreichen können.
»Irre ich mich oder ist das wirklich Jon Smith? Also, das nenn ich ein seltenes Vergnügen«, ertönte zu seiner Linken eine Stimme mit englischem Akzent. »Dass man dich auch wieder mal sieht.«
Als sich Smith umdrehte, sah er einen dünnen, wettergegerbten Mann Anfang fünfzig hinter einem Baum auftauchen. Die Kälte schien ihm nichts auszumachen – er war nur mit Jeans, einem weißen T-Shirt und einem alten Cowboyhut bekleidet. In einer Hand hielt er ein Gewehr.
Als Smith ihn so sah, hatte er das Gefühl, in der Zeit um hundert Jahre zurückversetzt worden zu sein. In mancher Hinsicht schien Howell wirklich besser in längst vergangene Zeiten zu passen. Er hatte einen großen Teil seines Lebens beim britischen Special Air Service (SAS) verbracht und in fast jedem Krisenherd dieser Erde gekämpft, bevor er die Spezialeinheit verließ und eine »Beratungstätigkeit« begann, wie er es etwas euphemistisch ausdrückte. Smith wusste, dass einer seiner Klienten der Geheimdienst MI6 war, weil sie sich durch seine Arbeit für diese Organisation begegnet waren. Für wen Howell – abgesehen vom britischen Geheimdienst – noch arbeitete, lag ein wenig im Dunkeln. Es waren wohl Regierungsbehörden verschiedener Länder dabei und wahrscheinlich auch private Unternehmen. Smith fragte ihn nicht nach seiner Arbeit, und im Gegenzug akzeptierte Howell seine Rolle als einfacher Militärarzt, ohne sie zu hinterfragen.
»Ist eine Weile her, Peter. Du siehst gut aus.«
»Also, wenn du mir mit Schmeicheleien kommst, dann mach ich mir wirklich Sorgen. Ich hab ein Feuer im Kamin – wir könnten reingehen und ein bisschen plaudern.«
Sobald man die Blockhütte betrat, konnte man kaum mehr sagen, in welchem Land man sich befand. Der riesige Kamin war das Einzige, was in die Gegend passte. Die Einrichtung war englischer Landhausstil, die Holzwände waren fast vollständig mit Regimentsfahnen, alten Waffen und Erinnerungsstücken aus verschiedenen Gefechten überall auf der Welt bedeckt.
Howell zeigte auf einen Lederstuhl, der vom Licht der Flammen erhellt wurde, und Smith schlüpfte aus seinem Overall, ehe er sich auf den Stuhl sinken ließ und seine Hände am Feuer wärmte.
»Kann ich davon ausgehen, dass das kein Höflichkeitsbesuch ist?«, fragte Howell, während er ihm ein Glas reichte und aus einer Whiskyflasche einschenkte.
»Kann man nicht einfach mal einen alten Freund besuchen und einen Tag zusammen verbringen?«
»Wenn ich mich richtig erinnere, dann sind uns beim letzten Mal, als wir einen Tag zusammen verbrachten, die Kugeln nur so um die Ohren gepfiffen, und wir wären beinahe mit dem Hubschrauber abgestürzt.«
»Das mit dem Hubschrauber war aber nicht meine Schuld. Schließlich hast du das Ding geflogen.«
»Natürlich, du hast recht.«
Smith lehnte sich in seinem Stuhl zurück, streifte seine Schuhe ab und spürte, wie das Blut wieder bis zu den Zehen zu strömen begann. »Es gibt da eine kleine Sache in Afrika, um die ich mich kümmern muss. Ich dachte mir, vielleicht hättest du ja Lust, für zwei Wochen aus dem Schnee herauszukommen.«
»Ein bisschen Sonne und Sand?«, erwiderte der Brite mit einer Spur Sarkasmus. »Könnte ja nicht schaden.«
Smith lächelte und hob seine Jacke vom Boden auf. Er zog einen USB-Stick heraus und hielt ihn seinem Freund hin. »Das Passwort ist Ares.«
Der ehemalige Soldat steckte den Speicherstick in einen Laptop und startete das Video aus Uganda; er verfolgte die Bilder hoch konzentriert, während Smith an seinem Whisky nippte.
»Da war wirklich der Kriegsgott am Werk«, sagte Howell etwas perplex, als er fertig war. »SEALs?«
»Ein Spezialkommando, aus verschiedenen Einheiten zusammengestellt.«
»Gibt’s Überlebende?«
Smith überlegte einen Augenblick, ob er ihm vom Selbstmord des Teamführers erzählen sollte, entschied sich aber dagegen. »Nein.«
Howell schüttelte ernst den Kopf. »Afrika.«
Da war eine Schicksalsergebenheit in seiner Stimme, wie Smith sie noch nie an ihm gehört hatte – ein Unterton, der fast nach Resignation klang.
»Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass da irgendein charismatischer Führer dahintersteckt, der einen Haufen verängstigte und abergläubische Leute aufhetzt. Andererseits gibt es auch gewisse Hinweise, dass es doch mehr sein könnte – möglicherweise ein unbekannter Krankheitserreger. Die Army meint jedenfalls, man sollte der Sache nachgehen.«
»Die Army«, sagte Howell stirnrunzelnd. »Und sie können dir nicht einmal einen einzigen amerikanischen Soldaten als Begleiter mitgeben?«
»Natürlich könnten sie das, aber du weißt ja, wie sehr ich deine Gesellschaft schätze.«
Der Brite blickte nicht auf, sondern starrte ins Kaminfeuer, so als suche er nach etwas. »Du kannst dort unten kämpfen bis ans Ende deiner Tage, Jon. Du kannst versuchen zu verstehen, warum Afrika so ist, wie es ist. Du kannst versuchen, die Schwachen vor den Starken zu beschützen. Aber es wird nie funktionieren. Glaub mir, es ist besser, du lässt die Finger davon.«
»Ich verstehe, was du mir sagen willst, aber vielleicht sollte ich dir zuerst ein paar Dinge über den Kerl erzählen, der dahintersteckt – Caleb Bahame.«
Howell drehte sich auf seinem Stuhl um und sah ihm zum ersten Mal im Verlauf ihres Gesprächs in die Augen. »Bahame?«
»Du hast von ihm gehört?«
Der Brite wandte sich wieder dem Feuer zu. »Ich habe ein paar Dinge gelesen.«
»Gut, aber das beschreibt nicht annähernd, wie es dort wirklich zugeht. Warst du schon einmal in Uganda?«
Howell schien nicht antworten zu wollen, also sprach Smith weiter. »So wie ich das sehe, würden wir rüberfliegen, ein bisschen sinnlos durch die Gegend rennen und wieder heimfahren – und du hättest dir die leichtesten fünfzig Riesen deines Lebens verdient.«
»Ich nehme an, wir reden von britischen Pfund.«
Smith lächelte. »Du bist ein beinharter Verhandler.«
Howell fuhr sich mit der Hand durch sein zerzaustes graues Haar und wandte sich dann seinem Whisky zu.