Kapitel einundzwanzig

TEHERAN, IRAN

18. November, 15:00 Uhr GMT+3:30

 

 

Mehrak Omidi stand zögernd vor der geschlossenen Tür, nervös und mit einem flauen Gefühl im Magen. Nur Ayatollah Khamenei hatte die Macht, ihn in einen solchen Zustand zu versetzen.

Sie kannten einander schon, seit Omidi als junger Mann in der Revolutionsgarde gedient hatte und Khamenei als Imam im abgelegenen Nordosten des Landes tätig war. Der heilige Mann hatte Omidis Potenzial erkannt und ihn unter seine Fittiche genommen, er hatte ihm mit seinem geistlichen Rat zur Seite gestanden und ihn in seiner Laufbahn gefördert. Selbst ein Auslandsstudium hatte er ihm ermöglicht.

Als Khamenei zum obersten Führer des Landes ernannt wurde, kam Omidi als sein persönlicher Assistent zu ihm und bekleidete danach verschiedene Posten, ehe er mit der Leitung des Geheimdienstministeriums betraut wurde. Trotz seines unbestreitbaren Erfolgs und des Respekts, den er überall im Iran genoss, hatte er sich der Gunst seines Förderers nie wirklich würdig gefühlt. Erst jetzt begann sich dies zu ändern.

Khamenei wurde alt und nostalgisch. Sein Blick war völlig klar, wenn er in die Vergangenheit gerichtet war, aber zunehmend verschwommen, wenn er versuchte, in die Zukunft zu schauen. Omidi, der ihn wie einen Vater betrachtete, sah sich jetzt in der schwierigen Situation, mit der jeder Sohn irgendwann konfrontiert ist, wenn es Zeit wird, selbst die Verantwortung zu übernehmen. In den kommenden Jahren würde er seinem Lehrer den Weg durch eine Welt weisen müssen, die auch vor ihrem Land nicht Halt machte.

Er klopfte leise und trat ein, als ihn die gedämpfte Stimme dazu aufforderte. Es gab keinerlei Einrichtung in dem Büro, nur Kissen auf dem Fußboden.

»Exzellenz.« Omidi verbeugte sich tief.

Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, war Khameneis Bart pechschwarz gewesen, und seine Augen hatten eine fast magische Intensität ausgestrahlt. Inzwischen war er völlig ergraut und trug eine dicke Brille, die seine königlichen Gesichtszüge verzerrte.

Der Mann, der auf einem Kissen neben ihm saß, sprang mit hasserfülltem Blick auf, doch er setzte sich gehorsam wieder auf seinen Platz, als ihn der alternde Geistliche am Arm berührte.

»Mehrak. Es freut mich, dich zu sehen. Bitte, setz dich zu mir.«

Omidi kam der Aufforderung nach und senkte demütig den Kopf, um dem wütenden Blick des glatt rasierten Mannes auszuweichen.

Rahim Nikahd war eine mächtige gemäßigte Stimme im Parlament, ein schlauer und ehrgeiziger Mann, der eine neutrale Position einnahm zwischen dem Iran, wie er heute war, und dem, was der Mob wollte.

Es war empörend, dass ein Mann von der Größe Khameneis vor einem Insekt wie Nikahd zu Kreuze kriechen musste, aber so war nun einmal die komplexe Realität der Politik. Kein Führer war so groß und mächtig, dass er vergessen konnte, woher seine Macht in Wirklichkeit kam.

»Warum ist dieser Mann hier?«, fragte Nikahd schließlich. »Warum hat er immer noch eine so wichtige Position in dieser Regierung? Ich …«

»Scht.« Khamenei legte ihm erneut die Hand auf den Arm. »Beruhigen Sie sich, mein alter Freund.«

Leider war Nikahd nicht nur ein Mitglied des Parlaments, sondern auch der Vater des jungen Mannes, den Omidi gestern festgenommen hatte.

»Mehrak trägt eine große Verantwortung«, erklärte Khamenei. »Und er musste davon ausgehen, dass Ihr Sohn Farrokh ist.«

»Farrokh? Aber das ist doch verrückt!«, protestierte der Mann. »Wie konnte er einen so dummen Fehler begehen?«

Omidi schwieg respektvoll, obwohl es ihn zornig machte, wie hier über ihn diskutiert wurde, als wäre er gar nicht da.

»Ich habe gehört, dass Farrokh sein großes technologisches Wissen genutzt hat, um seine Kommunikation auf das Haus Ihres Sohnes umzuleiten. Er hat gewiss geplant, dass das passieren würde, und gedacht, dass Sie sich dann von mir abwenden würden. Dass Sie sich von Gott abwenden würden.«

»Die Frau meines Sohnes – die Mutter meiner Enkelkinder  – liegt im Koma, weil sie mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen wurde. Und das soll Kompetenz sein? Er konnte nicht einmal einen Telefonanruf machen und überprüfen, wessen Haus er da angreift?«

»Dazu war keine Zeit, Rahim. Farrokh ist uns schon so oft durch die Finger geschlüpft. Und um Ihre Frage zu beantworten  – Mehrak ist hier, weil er darauf bestanden hat, Sie persönlich um Verzeihung zu bitten.«

Das stimmte nicht ganz – ja, es stimmte eigentlich überhaupt nicht –, aber Omidi senkte den Kopf noch tiefer und nahm eine unterwürfige Haltung ein.

»Ich möchte Sie um einen persönlichen Gefallen bitten«, fuhr Khamenei fort. »Ich bitte Sie, uns beiden zu vergeben für unseren Anteil an dem, was Ihrer Familie geschehen ist.«

Omidi hielt seinen Blick zu Boden gerichtet, froh darüber, dass der dicke Parlamentarier, der ihm gegenübersaß, die Wut in seinen Augen nicht sehen konnte. In der Welt der Politik gab es nichts ohne Gegenleistung. Eines Tages würde Khamenei die Schuld zurückzahlen müssen, für die Omidi verantwortlich war. Er hatte sich von Farrokh übertölpeln lassen. Wie schon so oft in der Vergangenheit.

Nikahd antwortete nicht sofort – er wog zweifellos seine Position ab. Er musste bei allem, was er tat, darauf achten, nicht so weit links zu stehen, dass ihm Gefahr von den Machthabern drohte, aber auch nicht so weit rechts, dass die Protestbewegung ihn nicht mehr als einen der Ihren betrachtete, für den Fall, dass sie triumphieren sollte.

»Gewiss vergebe ich Ihnen, Exzellenz.«

Khamenei hielt ihm die Hand hin, und Nikahd küsste sie. »Ich bin dankbar, Männer wie Sie um mich zu haben, Rahim. Männer, die dem Islam treu bleiben.«

Nikahd wusste, dass das Gespräch damit beendet war, und er erhob sich, warf aber Omidi noch einen bitterbösen Blick zu, ehe er ging. Wenn er in diesem erbitterten Kampf um die Macht die Oberhand behalten sollte, würde er dafür sorgen, dass Omidi und seine Familie verschwanden.

Sie sahen ihm nach, als er hinausging, und Khamenei wartete, bis die Tür geschlossen war, bevor er sprach.

»Das war eine heikle Angelegenheit, Mehrak. Er ist ein mächtiger Mann, und wir dürfen uns nichts vormachen – ich habe ihn mir heute zum Feind gemacht.«

»Ja, Exzellenz.«

»Du hast meinen Befehl nicht befolgt und nicht in die Menge geschossen – dadurch werden sie immer dreister. Sie denken, wir sind schwach und ängstlich. Und dann das …«

»Ich werde sofort zurücktreten.«

Khamenei lächelte schmallippig. »Du weißt genau, dass ich dieses Angebot nicht annehmen kann, weil es keinen anderen gibt, dem ich blind vertraue. Das ist vorbei.«

Mehrak nahm das Kompliment mit einem Kopfnicken entgegen. »Wenn Sie es wünschen, werde ich Ihnen weiter dienen, Exzellenz.«

Khamenei erkannte wohl, dass die Feinde der Revolution überall lauerten, doch er begriff nicht, wie weit sich das Krebsgeschwür schon ausgebreitet hatte – westliche Kleidung, Videospiele, Internet. Die Flut schwoll mit jedem Tag weiter an, und die Hüter des Glaubens wurden älter.

Die Unterstützung für die Regierung bröckelte. Die Popularität des Atomprogramms, die noch vor einem Jahr so groß gewesen war, schrumpfte unter dem ausländischen Druck dahin. Der iranischen Jugend waren iPods und politische Freiheit wichtiger als Stärke und Glauben.

»Ich kenne dich schon, seit du ein Kind warst, Mehrak. Du hast mehr zu sagen.«

Er wog seine Worte noch einmal ab, ehe er sprach. »Ich bin geschlagen, Exzellenz.«

»Was? Ich verstehe nicht.«

»Ich kann dem Wissen Farrokhs und seiner Leute über die neuen Technologien nichts entgegensetzen.«

»Ich erwarte ja auch nicht, dass du persönlich alles verstehst, Mehrak – das kann Gott allein. Was ich von dir erwarte, ist, dass du ein Team zusammenstellst, das ihn besiegen kann.«

»Aber wie, Exzellenz? Die Leute in unserem Land, die auf diesem Gebiet Experten sind, sympathisieren alle mit dem Widerstand. Ich könnte Berater von außen hereinholen, aber wie könnte ich ihnen vertrauen? Amerika und der Rest der Welt, alle sind gegen uns – wie kann ich da jemandem eine so verantwortungsvolle Aufgabe übertragen, wenn ich nicht weiß, ob er nicht vielleicht vom CIA bezahlt wird? Nein, wir können ihn nicht in seinem eigenen Spiel schlagen. Es gibt keinen Damm, den ich errichten könnte, um die Überflutung durch die westlichen Ideen und Werte aufzuhalten.«

»Einen Damm gibt es wohl nicht – aber du kannst mit deinen Leuten dafür sorgen, dass sich der Einfluss in Grenzen hält.«

»Heute vielleicht noch, ja. Zumindest einigermaßen. Aber morgen? Nein.«

Es tat weh, die Verwirrung in Khameneis Gesicht zu sehen. Aber es musste sein.

»Was willst du mir damit sagen, Mehrak? Dass wir aufgeben sollen? Dass Gott machtlos ist gegen die amerikanische Verführung? Du hättest in die Menge schießen sollen. Du hättest Entschlossenheit zeigen sollen im Kampf für den Glauben.«

»In die Menge zu schießen war unmöglich, Exzellenz.«

»Unmöglich? Warum?«

»Weil ich nicht für die Loyalität der Polizei und des Militärs garantieren kann.«

»Wenn es Verräter gibt, dann finde sie und steck sie ins Gefängnis.«

»Es sind nicht einfach nur Verräter. Diese Männer lieben ihr Land, aber viele von ihnen gehören einer neuen Generation an – sie erinnern sich nicht mehr an den Schah, nicht einmal an die Revolution. Sie verstehen nicht, wofür die Islamische Republik steht. Was sie sehen, ist zwanzig Prozent Inflation, Isolation vom Rest der Welt und zweistellige Arbeitslosigkeit. Wenn sich Teile von Polizei und Militär auf die Seite der Protestierenden stellen, dann könnte es sein, dass wir die ersten Schüsse in einem Bürgerkrieg abfeuern.

»Es ist dieser Farrokh. Wenn wir ihn …«

»Es liegt nicht an Farrokh«, fiel ihm Omidi ins Wort und erlaubte sich, etwas lauter zu werden. »Er ist wichtig, aber er ist letztlich nur eine Galionsfigur. Selbst wenn wir ihn fassen – und ich habe wenig Hoffnung, dass es uns gelingt –, wird es Leute geben, die in seinem Sinn weitermachen.«

Die Verwirrung des alten Mannes wurde noch tiefer, und Omidi schlug erneut die Augen nieder. Es tat weh, ihn so zu sehen.

»Farrokh ist ein Agent der Amerikaner, der CIA. Wir müssen den Leuten klarmachen, dass …«

»Das glaubt uns niemand mehr, Exzellenz. Präsident Castilla ist sehr geschickt mit seiner Politik der Nichteinmischung. Der Westen ist wohl an allem schuld – aber nur durch seine bloße Existenz und seine Attraktivität für unsere Jugend. Es gibt keine direkte Intervention. Und selbst wenn es sie gäbe, würde das nichts ändern. Farrokh gibt sich als überzeugter Nationalist und zeigt keine große Sympathie für Amerika.«

»Du sagst mir also, ich bin machtlos in meinem eigenen Land, Mehrak.«

»Nein, Exzellenz. Nicht machtlos.«

»Und welche Waffe kannst du mir noch anbieten?«

Omidi hob den Blick zu dem Geistlichen. »Caleb Bahame.«

Sie hatten schon früher über das Thema gesprochen, aber Khamenei hatte sich nicht festlegen wollen.

»Der Ugander.«

Omidi nickte, zog einen Umschlag aus der Tasche und breitete die Fotos auf dem Fußboden aus. »Die weißen Männer wurden von Bahames Leuten in der Nähe seines Lagers getötet. Die anderen Fotos stammen aus einem amerikanischen Zeitungsbericht über einen Trainingsunfall, bei dem einige Angehörige ihrer Sondereinsatzkräfte ums Leben kamen.«

Khamenei blickte angestrengt durch seine dicke Brille. »Es sind dieselben Männer.«

»Ja, Exzellenz. Die Amerikaner haben sie nach Uganda geschickt, um Bahame zu töten oder zu fangen, und als sie scheiterten, wurde es als Unfall dargestellt.«

»Dann wissen sie etwas. Aber was?«

»Wir sind uns nicht sicher. Ich glaube nicht, dass sie das volle Potenzial von Bahames Entdeckung kennen, aber sie werden es bald herausfinden. Wir müssen jetzt handeln, sonst könnte es sein, dass diese Chance vorbei ist …«

»Die Amerikaner und die Juden zu Fall zu bringen«, führte Khamenei seinen Gedanken zu Ende.

»Nicht bloß zu Fall bringen, Exzellenz. Wir schicken sie in die Hölle. Dann werden alle die schreckliche Macht Gottes erkennen.«

Der heilige Mann versank einen Moment lang in Gedanken. »Ich will, dass du persönlich zu ihm gehst.«

»Natürlich.« Omidi verbarg seine Erleichterung darüber, dass Khamenei seine Haltung geändert hatte, zweifellos ein Beweis für Gottes Größe. So wie alle großen Aufgaben war auch diese mit einem gewissen Risiko verbunden. Der Lohn würde jedoch immens sein. 1979 war gar nichts dagegen. Die wahre Revolution, die nach Gottes Plan das Antlitz der Erde für immer verändern würde, hatte jetzt begonnen.

Die Ares Entscheidung
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