Kapitel zweiundzwanzig
KAPSTADT, SÜDAFRIKA
20. November, 16:12 Uhr GMT+2
Jon Smith eilte die Steintreppe hinauf und wandte sich dem stattlichen Gebäude zu, das den Mittelpunkt des Campus der Universität von Kapstadt bildete. Der zerklüftete Berg im Hintergrund der 200 Jahre alten Universität schien fast zu perfekt, um real zu sein – ein Mosaik aus Grau und Grün unter einem strahlend blauen Himmel.
Obwohl die Temperatur auf über dreißig Grad geklettert war, fühlte sich der Wind, der aus der Tafelbucht herüberwehte, angenehm kühl an. Smith schlängelte sich zwischen den Studenten mit ihren Rucksäcken durch, um Dr. Sarie van Keuren zu finden.
Nachdem er einige Male falsch abgebogen war, fand er die Tür, die er gesucht hatte, und trat ein, um sich in dem Labor nach der stilvollen jungen Frau umzusehen, die auf der Webseite der Universität abgebildet war.
Er war beinahe zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht da war, bis er sie hinter einem massigen jungen Mann im Rugbytrikot entdeckte.
Die Fotos auf den Webseiten der Universitäten wirkten immer ein wenig gestellt, doch bei ihr war der Unterschied eklatant. In natura war ihr gewelltes blondes Haar drauf und dran, den Kampf mit dem Band zu gewinnen, das es im Zaum halten sollte. Ihr Gesicht war braun gebrannt, bis auf einen gelb verfärbten Fleck an der linken Wange. Die Nase, die auf dem Foto noch so königlich gewirkt hatte, zeigte die Spuren einer alten Verletzung und war leicht gekrümmt – ansonsten hätte sie wie ein typisches kalifornisches Surfer-Girl ausgesehen.
Sie blickte von dem Klemmbrett auf, das sie in der Hand hielt, und er ging sogleich auf sie zu, damit sie nicht dachte, er hätte sie beobachtet.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte sie in der wohlklingend schleppenden afrikanischen Aussprache.
»Dr. van Keuren? Ich bin Jon Smith.«
»Colonel Smith! Ich hab schon gedacht, Sie sind irgendwo über dem Meer verloren gegangen.«
»Wir hatten einen längeren Aufenthalt in London, dadurch hat sich alles ein bisschen verzögert.«
Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie schüttelte sie energisch. Unter ihrem Labormantel konnte man ihre athletische Figur erahnen.
»Also, dann freut es mich, Sie in unserem schönen Land begrüßen zu dürfen.«
»Danke. Und danke auch, dass Sie sich so kurzfristig Zeit nehmen. Immer wenn ich jemanden etwas über Parasiten frage, fällt irgendwann auch Ihr Name.«
Sie ignorierte das Kompliment. »Es ist nie ratsam, der mächtigsten Militärmacht der Geschichte eine Bitte auszuschlagen. USAMRIID, nicht wahr? Ein Virusjäger aus Maryland. Ich war bis jetzt nur in New York und Chicago, aber ich möchte irgendwann einmal nach Montana.«
»Als Afrikanerin würden Sie es jetzt vielleicht ein bisschen kalt dort finden.«
»Aber es muss ein wildes Land sein. Big Sky Country – so nennt man’s doch, nicht wahr?« Sie unterstrich ihre Worte mit der Geste eines Orchesterdirigenten, als sie den Ausdruck wiederholte. »Big Sky Country. Das sagt so viel.«
Ihm fiel ihre Eigenart auf, eine Spur zu schnell zu sprechen, so als wäre nicht genug Zeit im Leben, um alles zu sagen, was in ihr vorging.
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber Sie haben wohl recht.«
»Aber Sie sind sicher nicht gekommen, um mich quasseln zu hören. Sie wollen über Parasiten sprechen. Haben Sie was Interessantes für mich?«
Er blickte sich kurz um, um sich zu vergewissern, dass keiner der Studenten in Hörweite war. »Das ist eben das Problem. Ich bin mir nicht sicher. Es ist nicht mein Fachgebiet.«
»Natürlich. Viren … Wie schlimm für Sie.«
»Wie bitte?«
Sie sah ihn mit einem gequälten Ausdruck an. »Na ja, ich meine, sie sind ja nichts als ein bisschen DNA.«
»Sie sind wohl kein besonderer Virenfan?«
»Oh, ich will die Dinger nicht beleidigen, aber technisch gesehen leben sie ja nicht einmal wirklich.«
»Sie sind vielleicht klein, aber sie haben ganz schön was auf dem Kasten«, erwiderte er, von dem plötzlichen unerklärlichen Drang getrieben, den Gegenstand seiner Arbeit zu verteidigen.
»Oh, bitte. Was ist denn das Stärkste, das Sie aufbieten können? Die Pocken? Also, wenn ich da an Malaria denke – ein scheußlicher kleiner Parasit, der mehr Menschen umgebracht hat als alle anderen Krankheiten zusammen. Wenn man’s hochrechnet, könnte er die Hälfte aller Menschen auf dem Gewissen haben, die je gestorben sind.«
Sie nahm ihn am Arm und zog ihn zu einem riesigen Glasbehälter an der hinteren Wand des Labors. »Ich zeige Ihnen etwas.«
Angesichts ihrer Körpergröße verfügte sie über eine erstaunliche Kraft, und er ließ sich von ihr mitziehen.
»Das ist Laurel«, erklärte sie und zeigte auf einen dreißig Zentimeter langen Fisch, der in dem Behälter herumschwamm. »Sie ist ein Roter Schnapper aus Kalifornien. Tippen Sie mal gegen das Glas. Los, nur zu. Wecken Sie ihre Aufmerksamkeit.«
Smith kam der Aufforderung nach, und Laurel schwamm auf ihn zu und öffnete ihr Maul. Er musste sich zwingen, nicht einen Schritt zurück zu machen, als er etwas sah, das wie eine Assel aussah, die ihn aus dem Maul des Fisches anstarrte. »Was zum Teufel ist denn das?«
»Hardy«, antwortete sie mit einem breiten Grinsen. »Cymothoa exigua. Als er noch ganz winzig war, schwamm er durch Laurels Kiemen und setzte sich auf ihrer Zunge fest. Er ernährte sich von dem Blut aus der Arterie darunter, bis die Zunge irgendwann abstarb und Hardy sie ersetzte. Dem Fisch tut das nicht weh. Und so bleiben sie jetzt für den Rest ihres Lebens zusammen.«
»Okay, Sie haben gewonnen«, gab Smith zu. »Das ist wirklich widerlich.«
»Ist das nicht brillant?« Sie schnappte sich einen Wurm aus einer mit Erde gefüllten Kiste und ließ ihn über dem Behälter baumeln.
Während Smith zusah, wie sie den armen Fisch fütterte, musste er an seine Verlobte Sophia denken. Sie hatten in Fort Detrick zusammengearbeitet, und sie war genauso fasziniert von ihrem Fachgebiet gewesen wie Sarie. Das hatte sie letztlich das Leben gekostet.
»Colonel Smith? Alles okay? Es tut mir leid – hat Hardy Sie ein bisschen schockiert? So geht es manchen, wenn sie ihn sehen.«
Sein Lächeln kehrte zurück, und er bemühte sich, es nicht gezwungen aussehen zu lassen. »Nein, ist schon okay. Und wenn Sie irgendwo ein Plätzchen hätten, wo wir privat plaudern können, dann kann ich Ihren Hardy vielleicht sogar noch toppen.«
Ihr winziges Büro war vollgestopft mit Büchern, die aussahen, als hätten sie den Großteil ihrer Zeit in der Wildnis verbracht, doch die meisten waren von irgendwelchen Haftnotizen verdeckt, die praktisch überall im Raum zu finden waren. Es gab kaum einen freien Quadratzentimeter, an dem nicht irgendeine kleine Erinnerung angebracht war. Von seinem Standpunkt im Türrahmen aus fiel sein Blick auf eine mit drei Ausrufezeichen versehene Notiz, die sie daran erinnerte, dass sie auf keinen Fall eine Fakultätssitzung vergessen dürfe, die vor über zwei Jahren stattgefunden hatte.
Sarie räumte einen Fleck auf ihrem Schreibtisch frei und zeigte auf seine Schultertasche. »Ist Ihre Probe da drin? Ist sie aus Maryland?«
»Zweimal nein.«
Smiths Aufmerksamkeit wandte sich einem Bild von ihr und einem sehr alten Mann zu, der neben einem toten Exemplar irgendeiner Antilopenart stand. Sie hielt ein Gewehr in der Hand und lächelte unter einem breiten Strohhut hervor.
»Eine Elenantilope?«
»Ein Kudu. Das Fleisch schmeckt übrigens hervorragend, wenn Sie mal Gelegenheit haben.« Sie zeigte wieder auf seine Tasche. »Aber Sie haben doch etwas von einem neuen Parasiten erwähnt. Etwas, das noch nie jemand gesehen hat?«
Er biss sich auf die Unterlippe. »Was ich hier drin habe, ist eigentlich absolut geheim und …«
»Okay, okay«, fiel sie ihm ungeduldig ins Wort. »Das haben Sie mir ja schon alles am Telefon gesagt, Colonel. Oder ist Ihnen Doktor lieber?«
»Jon.«
»Jon. Geheimnisse sind schädlich für die Seele. Warum zeigen Sie’s mir nicht einfach? Ich bin sicher, dann fühlen Sie sich besser.«
»Ich muss aber noch einmal betonen – was ich hier habe, würde meine Regierung gelinde gesagt als streng geheim bezeichnen.«
»Sie spannen mich auf die Folter. Ich schwitze richtig, so gespannt bin ich.« Und mit verspieltem Ton fügte sie hinzu: »Ich weiß schon, wenn ich es ausplaudere, müssten Sie mich töten.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob es so wäre, aber man würde die Möglichkeit bestimmt diskutieren.«
Sie lachte, doch dann schien sie sich plötzlich nicht mehr ganz sicher zu sein, ob es ein Scherz war. Sie zögerte kurz, ehe sie nickte. »Gut. Ich schwöre beim Grab meines Vaters. Jetzt geben Sie schon her.«
Sie sah ein bisschen verdutzt drein, als er einen Laptop aus der Tasche zog und auf ihren Schreibtisch stellte, doch sie ließ die Jalousien herunter und beugte sich über den Computer, um sich das Video anzusehen, das er gestartet hatte.
Smith machte einen Stuhl frei und setzte sich; eine Staubwolke wirbelte rund um ihn hoch, während er beobachtete, wie sie immer blasser wurde.
»Krass«, murmelte sie, als es zu Ende war. Einige Augenblicke vergingen, bevor sie mehr herausbrachte. »Wer sind die Leute, die da getötet wurden?«
»Das ist nicht wichtig.«
»Ich glaube, für sie schon.«
Er sagte nichts darauf.
»Wo wurde das aufgenommen? Irgendwo in Zentralafrika?«
»Uganda. Die Männer, die Sie da gesehen haben, waren dort, um Caleb Bahame zu fangen.«
»Bahame?«, sagte sie mit deutlichem Hass in der Stimme. »Schade, dass sie ihn nicht gefunden haben. Findet ihn und bringt ihn um.«
Er hielt ihr eine gekürzte Fassung des CIA-Berichts hin, zusammen mit den Hinweisen auf einen möglichen Parasiten.
»1899?«, sagte sie und sah den Bericht durch. »Wie ich sehe, beschränken Sie sich bei Ihren Nachforschungen auf aktuelles Material.«
Er brachte ein angedeutetes Lächeln zustande. »Also, was denken Sie, Doctor?«
»Sarie.«
»Sarie. Könnte ein Parasit ein solches Verhalten auslösen?«
»Möglich wäre es durchaus. Um Leute gewalttätig zu machen, braucht es oft nicht viel.«
»Aber das Verhalten dieser Leute ist doch etwas komplexer.«
»Sie spielen darauf an, dass sie sich nicht gegenseitig angreifen?«
Er war beeindruckt. Ihre Auffassungsgabe entsprach dem, was er von ihr gehört hatte. »Genau. Und darum sehen wir als wahrscheinlichste Ursache eine Mischung aus Drogen und Charisma. Aber wir würden gern sicher sein.«
»Was wissen Sie über das Blut?«
»Es ist nicht aufgemalt, falls Sie das meinen. Aber es könnte irgendeine Zeremonie dahinterstecken, bei der sie sich Schnitte in der Kopfhaut zufügen.«
»Das glaube ich eher nicht. Solche Zeremonien gibt es wohl, aber warum sollten sie sich ausgerechnet unter den Haaren schneiden, wo man es nicht sieht? Warum nicht große auffällige Schnitte in der Brust, um den Feind zu beeindrucken? Und was das andere betrifft – dass sie nicht selbst übereinander herfallen –, das könnte durchaus auf einen Parasiten hinweisen, der im Laufe der Evolution den entscheidenden Vorteil erworben hat, die betroffenen Personen andere Infizierte erkennen und verschonen zu lassen.«
»Trotzdem«, wandte Smith skeptisch ein. »Damit das alles so funktioniert, müsste sich im menschlichen Gehirn so einiges verändern, und das erscheint mir doch etwas weit hergeholt.«
»Oh, da muss ich Ihnen widersprechen. Nehmen Sie zum Beispiel Toxoplasma gondii. Das ist ein einzelliger Parasit, der normalerweise Katzen befällt, aber auch einige andere Spezies, darunter den Menschen. Die Art, die für unser Beispiel interessant ist, sind Ratten. Normalerweise werden Ratten vom Geruch von Katzenurin abgeschreckt – eine wenig überraschende Anpassung, um zu überleben. Doch Ratten, die mit Toxoplasma infiziert sind, haben keine Angst vor Katzenurin, ja sie werden sogar davon angezogen. Nicht sehr gut für die Ratte, aber ausgezeichnet für den Parasiten, der wieder zu seinem bevorzugten Wirt kommt, wenn die Ratte gefressen wird.«
»Sie wollen damit sagen …«, begann Smith, doch sie sprach einfach weiter – ob zu ihm oder zu sich selbst, konnte er nicht genau sagen.
»Und was ist mit der parasitischen Wespe der Gattung Hymenoepimecis, die eine bestimmte costa-ricanische Spinne angreift und ihr ein Ei auf das Hinterteil legt? Wenn die Larve geschlüpft ist, saugt sie die Körperflüssigkeit der Spinne. Schließlich gibt sie einen chemischen Stoff ab, der die Spinne dazu bringt, ein Kokonnetz zu spinnen, das die Wespe schützt, anstatt der Spinne zu helfen, Nahrung zu fangen. Dann gibt es da noch den Saitenwurm, der sich unter Wasser fortpflanzt, aber Heuschrecken befällt. Der Wurm manipuliert die Heuschrecke durch bestimmte Eiweißmoleküle und bringt sie dazu, sich ins Wasser zu stürzen, damit er sich fortpflanzen kann.«
Sie begann in dem engen Büro auf und ab zu gehen und blieb gelegentlich stehen, um einen Blick auf eine besonders interessante Notiz zu werfen, die an der Wand oder einem Möbelstück klebte. »Also, womit wir’s hier zu tun haben könnten, ist ein Parasit, der sich über Blut ausbreitet – daher das Bluten aus der Kopfhaut.«
»Und die Gewalt«, fügte Smith hinzu.
»Genau. Das Blut muss irgendwie ins Opfer kommen, und der beste Weg dazu ist, jemanden zu verletzen und sein eigenes Blut in die Wunde fließen zu lassen. Das ist ganz ähnlich wie bei Ihren Viren. Sie bringen einen dazu, zu niesen oder zu husten – alles ganz einfache Strategien, um von einem Wirt zum andern zu kommen.«
»Also, wie schätzen Sie die Sache ein?«
»Ich denke, Sie könnten es hier tatsächlich mit einem Krankheitserreger zu tun haben. Aufgrund des Materials, das Sie mitgebracht haben, und des komplexen Verhaltens der Betroffenen würde ich auf einen Parasiten tippen. Es ist wirklich unglaublich! So etwas hat man beim Menschen noch nie gesehen. Haben Sie jetzt vor, nach Uganda zu gehen?«
»Nach allem, was Sie mir gesagt haben, bleibt mir wohl kaum etwas anderes übrig.«
»Haben wir genug Zeit, um vorher bei mir zu Hause vorbeizuschauen?«
»Wie bitte?«
»Ich muss ein paar Sachen zusammenpacken, bevor wir fahren können.«
Smith öffnete den Mund, um zu protestieren, doch dann überlegte er es sich anders. Sie hatte schon viele Expeditionen in Afrika unternommen, war außerdem die weltweit führende Parasitologin, und nach dem Foto an der Wand zu schließen, konnte sie auch mit einem Gewehr umgehen. Vielleicht war er gut beraten, sich die Sache noch einmal zu überlegen.
Jim Clayborn lag im Gras des Universitätscampus von Kapstadt und behielt den iranischen Austauschstudenten im Auge, der plötzlich ein auffallendes Interesse für Dr. Sarie van Keuren an den Tag legte.
Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der junge Mann sein Handy hervorholte, als van Keuren zusammen mit einem groß gewachsenen, sportlich aussehenden Mann auftauchte, dessen Mietwagenvertrag ihn als Colonel Jon Smith von der U.S. Army auswies. Der Iraner knipste einige Fotos, als van Keuren einem älteren Mann vorgestellt wurde, der verdächtig nach britischer Spezialeinheit roch.
Clayborn tippte eine kurze Nachricht in sein Telefon und schickte sie verschlüsselt nach Langley. Sie würden nicht gerade begeistert sein. Die Sache würde um einiges komplizierter werden, als sie erwartet hatten.