Kapitel dreiundzwanzig

WASHINGTON D.C., USA

20. November, 10:35 Uhr GMT-5

 

 

Die Dunkelheit wurde von einem Dia erhellt, das eine Reihe von eleganten Steingebäuden vor dem Hintergrund eines Gebirges zeigte. Brandon Gazenga zoomte drei Leute heran, die ganz oben auf einer Treppe standen.

»Ganz rechts, das ist Lieutenant Colonel Jon Smith, Arzt und Mikrobiologe am USAMRIID. Er …«

»Brandon«, warf Lawrence Drake mit unverhohlener Ungeduld ein. »Dave und ich haben in zehn Minuten eine Sitzung. Was ist daran so wichtig, dass es nicht warten kann?«

»Ja, Sir, ich verstehe. Aber es wird Sie interessieren, dass Dr. Smith vor einer Woche in Camp Lejeune war und mit dem SEAL gesprochen hat, der die Operation in Uganda überlebt hat.«

Drake beugte sich vor und spürte, wie sich die Muskeln um seinen Magen anspannten. »Okay, Brandon. Sie haben meine Aufmerksamkeit. Wer ist die Frau?«

»Sarie van Keuren, ein Name, der Ihnen, glaube ich, nicht unbekannt ist.«

»Die Parasitologin. Behalten die Iraner sie immer noch im Auge?«

»Ja, Sir. Sie haben ungefähr das gleiche Foto, das Sie hier sehen.«

»Und der Mann, dem sie die Hand schüttelt?«

»Das war nicht so leicht herauszufinden – er reist mit einem argentinischen Pass auf den Namen Peter Jourgan. Sein richtiger Name ist aber Peter Howell. Ehemals SAS und MI6, hat sich inzwischen nach Kalifornien zurückgezogen.«

»Was macht er dann in Kapstadt bei van Keuren?«, warf Dave Collen ein.

»Na ja, er hat sich nicht ganz zurückgezogen. Er ist noch als Berater tätig, aber wie und für wen, das ist unsicher.«

»Ich nehme an, Sie haben sich die Army-Unterlagen angesehen«, sagte Drake. »Wie sind Smiths Anweisungen?«

»Er hat keine. Offiziell hat er sich beurlauben lassen.«

»Quatsch. Ist er beim Geheimdienst?«

»Er hat früher für den Geheimdienst gearbeitet«, antwortete Gazenga. »Aber es gibt keine Hinweise, dass er es immer noch tut.«

»Und wenn es so wäre, dann würde er sich wohl kaum mit einem Ex-SAS-Mann in Südafrika treffen«, fügte Collen hinzu.

»Das glaube ich auch«, meinte Gazenga. »Sie erinnern sich wahrscheinlich daran, dass Smith durch seinen Job beim USAMRIID in die Hades-Katastrophe verwickelt war. Danach taucht er an verschiedenen Orten auf, ohne dass man einen zwingenden Grund dafür erkennen könnte.«

»Dann hat ihn jemand angeheuert, nachdem er diesem Tremont das Handwerk gelegt hat«, warf Drake ein.

»Ich denke, davon kann man ausgehen, Sir.«

»Wer?«

»Ich habe noch nichts gefunden, das auch nur in irgendeine Richtung deuten würde. Wenn er inoffiziell für jemanden arbeitet, dann verstehen es diese Leute unglaublich gut, nicht aufzufallen.«

Drake lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete Smiths leuchtend blaue Augen. Wer verfügte über genug Einfluss, um jemanden wie Smith anzuheuern und einzusetzen? Und wer hatte da ein auffälliges Interesse an Caleb Bahame? Die Antwort auf diese Fragen führte möglicherweise in eine sehr gefährliche Richtung.

»Wo sind sie jetzt?«

»Unterwegs nach Uganda.«

Collen drehte sich mit seinem Stuhl zu seinem Chef und murmelte: »Herrgott, Larry …«

Drake nickte nur. »Ich will, dass Ihnen jemand folgt, Brandon. Ich will jederzeit wissen, wo sie sind, mit wem sie sprechen und was sie herausfinden. Und das sofort, wenn es passiert. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Ich will auch wissen, für wen sie arbeiten.«

Gazenga nickte gehorsam, wenn auch mit einem zunehmend unguten Gefühl.

»Haben Sie noch etwas zu sagen, Brandon?«

»Nein, Sir.«

»Ich seh doch, dass Sie irgendwas beschäftigt. Raus damit.«

Er zögerte und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Sir, was wir bis jetzt gemacht haben, ist …«

»Legal?«

»Bei allem Respekt, ich wollte sagen plausibel. Alles, was wir über Bahames Methoden und das Interesse der Iraner gesagt haben, war absolut stichhaltig und vom analytischen Standpunkt her vertretbar.«

»Aber?«

»Wir wissen zwar nicht genau, für wen Smith arbeitet, aber er scheint doch auf unserer Seite zu stehen …«

»Wollen Sie eine Empfehlung abgeben, oder ist das einfach nur eine Feststellung?«, fragte Drake.

Brandon vertrat zum ersten Mal etwas beharrlicher seine Meinung. War das Trotz?

»In gewisser Weise könnte das positiv für uns sein, Sir. Die Iraner waren bis jetzt sehr zurückhaltend. Aber wenn ein amerikanischer Virusjäger der Sache nachgeht, könnten sie sich veranlasst sehen, zu handeln, und uns die Bestätigung für Khameneis Pläne liefern.«

»Sie meinen also, wir sollten ein Jahr sorgfältiger Planung einfach wegwerfen und uns auf zwei Ausländer und einen Militärarzt verlassen, von denen wir nicht wissen, was sie vorhaben?«

Brandon ließ sich nicht beirren. »Ich denke, wir sollten die Möglichkeit in …«

»Die Iraner machen mit ihrem Atomprogramm weiter«, fiel ihm Drake ins Wort. »Und wir sehen zu. Das Land wird immer instabiler und könnte leicht diesem Farrokh in die Hände fallen, der das Vertrauen der iranischen Wissenschaftler genießt. Und was tun wir? Gar nichts. Und das wird sich wahrscheinlich auch dann nicht ändern, wenn sie nukleare Sprengköpfe haben, mit denen sie unsere Küsten erreichen können, und wenn die OPEC von Teheran beherrscht wird.«

Gazengas Entschlossenheit geriet ins Wanken, und er rückte seinen Stuhl aus dem Lichtstrahl des Projektors, um sein Zögern zu verbergen. »Wenn wir …«

»Das wäre alles, Brandon«, sagte Dave Collen.

»Aber … Ja, Sir. Danke.«

Drake dachte daran, wie schnell und grundlegend sich die Welt veränderte, während der junge Mann zur Tür hinauseilte. Russland und China waren leichter im Zaum zu halten, als die meisten dachten – beide Staaten hatten große komplizierte Bürokratien, sie hatten vorhersehbare langfristige Ziele und ein Arsenal an wirtschaftlichen und militärischen Waffen, mit denen sie den Vereinigten Staaten immer noch unterlegen waren. Mit dem Iran war es anders.

In direktem Gegensatz zu Castillas Politik der Nichteinmischung hatte Drake einen stillen Krieg gegen den Iran begonnen. Die beiden Kernphysiker, die kürzlich durch Autobomben ums Leben gekommen waren, und der Stuxnet-Computerwurm, der ihre Uranzentrifugen manipuliert und beschädigt hatte, waren das Werk der Agency. Doch damit zögerte er das Unvermeidliche nur hinaus. Die Bedrohung durch die Islamische Republik musste klar aufgezeigt werden, die amerikanischen Streitkräfte mussten der Welt demonstrieren, dass sie in der Lage waren, mit dieser Gefahr fertigzuwerden. Diesmal würde es keine endlosen Straßenschlachten geben, keine korrupten Lokalpolitiker, keine Autobomben. Der Iran musste aus der Luft angegriffen und vollständig ausgelöscht werden.

Dass die Amerikaner bei ihrem militärischen Eingreifen stets so peinlich darauf bedacht waren, zivile Opfer zu vermeiden, wurde in der islamischen Welt zunehmend als Schwäche gesehen. Die Leute würden erst erkennen, dass das ein fataler Irrtum war, wenn der Iran buchstäblich in die Steinzeit zurückgebombt wurde und die wenigen Überlebenden in einem zerstörten Land ihr Dasein fristen mussten.

Durch diese weltweite Wiederherstellung der Ordnung würde man eine klare Botschaft an Pakistan, Afghanistan und alle anderen aussenden: Wenn ihr eure Fundamentalisten unter Kontrolle haltet, wird Amerika euch in Ruhe lassen. Aber wenn ihr es zulasst, dass sie zur Bedrohung werden, seid ihr die nächsten!

Alles, was er brauchte, war ein Katalysator, um die Dinge in Gang zu bringen – und Caleb Bahames Parasit war dafür ideal. Er war eine so heimtückische und furchtbare Biowaffe, dass sich jede Regierung dieser Erde von einem Land abwenden würde, das davon Gebrauch machte.

Wenn er es zuließ, dass Smith und sein Team den Beweis für die Existenz des Parasiten fanden und vom Interesse des Irans daran erfuhren, wie Gazenga angedeutet hatte, dann war ihr Plan gescheitert. Die Politiker würden auf den Plan treten und mit ein bisschen Säbelrasseln reagieren, während der Iran alles abstritt. Castilla und die UNO würden debattieren, weitere Beweise verlangen und sinnlose Resolutionen beschließen. Und das kriegsmüde, finanziell überstrapazierte amerikanische Volk würde sich gegen einen weiteren Krieg wegen irgendwelcher Massenvernichtungswaffen aussprechen, deren Existenz nicht bewiesen war.

Nein, die Bedrohung durfte nicht einfach nur ein Thema sein, über das in den Medien und in Regierungskreisen spekuliert und diskutiert wurde; Amerika würde seine Bereitschaft zu einem entschlossenen militärischen Vorgehen nur wiederfinden, wenn man es dem Iran ermöglichte, Bahames Parasiten auch wirklich einzusetzen. Die amerikanische Bevölkerung musste aus ihrer Apathie gerissen werden und am eigenen Leib spüren, welche Konsequenzen die Tatenlosigkeit ihrer Regierung hatte.

»Larry?« Collen brach das Schweigen in dem immer noch abgedunkelten Büro. »Was sollen wir tun? Diese Komplikationen haben wir nicht vorhergesehen. Und Brandon fängt wirklich an zu schwanken.«

Drake stieß einen langen Seufzer aus und zwang sich, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Gazengas Wissen über den afrikanischen Kontinent war für ihre Operation unverzichtbar gewesen, aber sie hatten immer gewusst, dass er letztlich ein Risikofaktor war, den es zu eliminieren galt – dass er nicht den Mut haben würde, so weit zu gehen, wie es notwendig war. Ihn jetzt schon zu verlieren, kam jedoch einer kleinen Katastrophe gleich.

»Du hast dich in die Materie eingearbeitet, Dave?«

»Ich tue, was ich kann. Aber mein Wissen kann man nicht mit seinem vergleichen, genauso wenig wie meine Kontakte.«

Drake nickte verstehend. »Wir müssen die Dinge beschleunigen und ihn rund um die Uhr überwachen. Schon ab heute Abend. Vielleicht wird er mehr Rückgrat zeigen, als wir denken.«

»Und Smith?«

»Fürs Erste folgen wir ihm nur. Vielleicht verrät er uns, wie viel er weiß und für wen er arbeitet. Aber sobald es danach aussieht, dass sie etwas Brauchbares finden, müssen sie verschwinden.«

 

Brandon Gazenga lächelte den Leuten auf dem Flur unverbindlich zu und versuchte, sich möglichst natürlich zu bewegen, während er in sein Büro flüchtete und die Tür hinter sich schloss.

Wie zum Teufel war er bloß in diese Sache hineingeraten?

Die Frage war bestürzend einfach zu beantworten. Drake war persönlich zu ihm gekommen, und er hatte die Aufmerksamkeit des DCI genossen. Er hatte die Chance gesehen, auf der Karriereleiter nach oben zu kommen und in den oberen Etagen mitzuspielen – dafür hatte er sich mit zwei zugedrückten Augen auf diese zwielichtige Sache eingelassen.

In der Collegezeit hatte sich die Welt noch so schön in Schwarz und Weiß einteilen lassen; hier in der CIA-Zentrale war alles in ein hoffnungsloses Grau getaucht. Man musste die Fakten und Informationen nur ein bisschen gezielt selektieren, schon konnte man einem Bericht genau die Aussage verleihen, die man haben wollte. Aber jetzt drohte alles aus den Fugen zu geraten. Brandon sah ganz deutlich, wie sich die Dinge entwickeln würden; Drake würde am Ende Smith und seine Leute töten lassen. Natürlich würde das Eingreifen der CIA so indirekt wie immer erfolgen – über einen bezahlten Mittelsmann, der die entsprechenden Informationen an irgendwelche Verbrecher in der Gegend weitergab, vielleicht auch an einen von Bahames Leuten. Das war eine Regel, deren Bedeutung er im vergangenen Jahr gelernt hatte: Man musste bei allem, was man tat, darauf achten, dass einem niemand etwas nachweisen konnte.

Aber er würde die Wahrheit kennen. Dass an seinen Händen kein Blut klebte, entband ihn noch lange nicht von seiner Verantwortung.

Die ganze Operation war ein unglaublich heikler Balanceakt. Man ließ die Iraner gerade so weit gehen, dass die Beweise gegen sie erdrückend waren, aber nicht so weit, dass sie den Parasiten tatsächlich einsetzen konnten.

Doch jetzt begann sich der Nebel plötzlich zu lichten, und Gazenga erkannte, wie subjektiv diese Sichtweise war. Wie weit würden Drake und Collen den Iran wirklich gehen lassen? Waren sie bereit, ein noch größeres Risiko einzugehen  – auch auf die Gefahr hin, dass die Sache völlig außer Kontrolle geriet?

»Willkommen in der obersten Liga«, sagte er zu dem leeren Büro.

Es war schon seltsam, wie sehr sich die Realität von der Fantasie unterschied. Wer hätte gedacht, dass er sich plötzlich nichts anderes wünschen würde, als mit seinen Brüdern die Restaurant-Kette der Familie zu führen. Dass es zu einem Traum werden könnte, zwischen gewürztem Rindfleisch und Abwaschwasser zu stehen.

Gazenga ging auf wackeligen Beinen zu seinem Schreibtisch und setzte sich auf den Lederstuhl, den ihm sein Vater zum Hochschulabschluss geschenkt hatte. Die Sache war ihm einfach über den Kopf gewachsen. Er musste mit jemandem reden, der wusste, was da vorging und was man machen konnte. Jemand, dem er vertrauen konnte.

Die Ares Entscheidung
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