Kapitel vierundzwanzig
ENTEBBE, UGANDA
21. November, 15:17 Uhr GMT+3
Sarie van Keuren warf ein Gummiseil über die Kiste mit ihrer Ausrüstung, und Smith fing es auf und fixierte den Haken in einem Rostloch im Dach des Taxis.
»Ich glaube, bis Kampala schaffen wir’s damit«, sagte er, und der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster und nickte entschieden.
»No problem.«
Das schien sein gesamter englischer Wortschatz zu sein, doch mit der entsprechenden Betonung und dem passenden Gesichtsausdruck konnte er damit eine Menge sagen.
Smith setzte sich auf den Beifahrersitz und nahm seinen Rucksack auf den Schoß, ehe er die Autotür zuschlug – und das mehrere Male, bis sie endlich geschlossen blieb. »Peter! Fahren wir.«
Howell stand auf dem Bürgersteig und starrte auf den Flughafen von Entebbe, die Hände trotz der Hitze in den Taschen seiner ausgewaschenen Jeans vergraben. Der ursprüngliche Terminal war nicht mehr da, doch der Flughafen war trotzdem immer noch so etwas wie ein Heiligtum für alle, die einmal bei einer Spezialeinheit gedient hatten.
Im Jahr 1976 hatten palästinensische Terroristen ein Flugzeug entführt, das mit über zweihundertfünfzig Passagieren von Tel Aviv nach Paris unterwegs war, und den Piloten gezwungen, im Uganda des Idi Amin zu landen. Nachdem sie alle nichtjüdischen Passagiere hatten gehen lassen, drohten sie, die übrigen Geiseln zu töten, wenn ihre inhaftierten Landsleute nicht freigelassen wurden.
Als sich zeigte, dass die Verhandlungen mit den Terroristen zu keinem brauchbaren Ergebnis führen würden – was zu einem nicht geringen Teil auch daran lag, dass Idi Amin die Entführer unterstützte –, begannen die Israelis eine Rettungsaktion zu planen.
Operation Entebbe wurde schließlich von hundert Elitesoldaten durchgeführt und dauerte nicht länger als eineinhalb Stunden. Bei der Befreiungsaktion starben drei Geiseln, die übrigen konnten gerettet werden. Außerdem wurden alle Terroristen sowie fünfundvierzig ugandische Soldaten getötet.
Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wurde demonstriert, was eine gut ausgebildete Kommandoeinheit zuwege bringen konnte, und der kleine Flughafen war seither auf der ganzen Welt bekannt.
»Peter!«, rief Sarie, während sie ihren Rucksack auf dem Rücksitz verstaute und sich daneben zwängte. »Wo bleiben Sie denn? Das Taxameter läuft!«
Ihre Stimme riss ihn aus seiner Trance, und er setzte sich zu ihr in den Wagen.
»Alles okay?«, fragte sie.
»Natürlich, meine Liebe. Was soll denn sein?«
Smith warf einen kurzen Blick zu ihnen zurück, doch dann machte er es sich auf dem mit Klebeband reparierten Vinylsitz bequem, als das Taxi in den Verkehr hinausbrauste. Er blickte einige Minuten auf die grünen Hügel hinaus, bis ihm die Augen zufielen. Die Fahrt zu ihrem Hotel in der Hauptstadt würde nicht viel länger als eine halbe Stunde dauern, doch die konnte er nutzen. Wenn er sich nicht sehr irrte, würde er in den nächsten Wochen wenig Zeit zum Schlafen haben.
Saries Telefon klingelte, und er hörte die klugen Fragen, die sie dem deutschen Parasitologen stellte, nachdem sie ihm ein paar Stunden zuvor eine Nachricht hinterlassen hatte. Als er die Enttäuschung in ihrer Stimme hörte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem monotonen Brummen des Motors zu. Wie es aussah, hatte Star wieder einmal recht gehabt – die beiden mickrigen Seiten, die sie ausgegraben hatte, waren alles, was sich über dieses rätselhafte Phänomen finden ließ.
Trotz seiner Erschöpfung wollten Smiths Gedanken nicht zur Ruhe kommen; sie verbissen sich in der immer länger werdenden Liste seiner ungelösten Rätsel und Probleme.
Mit lebensbedrohlichen Krankheitserregern umzugehen, war schon gefährlich genug, wenn man die Situation absolut unter Kontrolle hatte. Normalerweise wusste er mehr oder weniger, womit er es zu tun hatte. Die Patienten waren dankbar, dass er sich um sie kümmerte, und er hatte ein großes Team von bestens ausgebildeten Spezialisten an seiner Seite, die eine millionenteure Ausrüstung einsetzen konnten.
Die vorliegende Situation als nicht optimal zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Seine Schutzausrüstung bestand aus OP-Handschuhen und Masken, die sie aus Saries Keller mitgenommen hatten. Er wusste praktisch nichts über den Erreger, den sie suchten – falls es ihn überhaupt gab. Er war auf bloße Vermutungen darüber angewiesen, wie er sich ausbreitete und seine Opfer fand. Und seine Patienten würden ihre Dankbarkeit kaum zeigen, indem sie ihm irgendwelche Farmtiere schenkten, wie es ihm beim letzten Mal passiert war, als er in Afrika gearbeitet hatte – nein, in diesem Fall würden sie eher versuchen, ihn in Stücke zu reißen.
Und dann war da noch Caleb Bahame – ein Mann, der die alte Tradition des Vierteilens mit der modernen Technologie eines Jeeps verband. Ein Mann, der gar nicht begeistert sein würde, wenn drei Weiße vor seiner Haustür auftauchten und Fragen stellten …
Das plötzliche Dröhnen einer Autohupe ließ Smith in seinem Sitz hochfahren. Er blinzelte in die grelle Sonne hinaus und wusste einen Moment lang nicht, wo er war. Vor ihm durchbrachen hohe Betonklötze die Linie der grünen Hügel in einer Skyline, die ihn an die Sowjetunion erinnerte und die die roten Dächer und weiß getünchten Wände der Kolonialbauten in den Hintergrund drängten.
Kampala war eine saubere und überraschend attraktive Stadt – trotz ihrer Geschichte, die von politischen Unruhen und Militärdiktaturen geprägt war, und jetzt auch noch von Caleb Bahame. Es war zutiefst ungerecht, aber in diesem Teil der Welt leider ein gewohntes Bild – jedes Mal, wenn die Angst und Verzweiflung von einer echten Hoffnung auf bessere Zeiten vertrieben wurde, kam jemand mit seiner Privatarmee daher, der von einem inneren Antrieb beseelt war, alles zu zerstören.
»Bei der nächsten Straße links«, sagte Howell, während er sich vorbeugte und dem Fahrer auf die Schulter tippte.
Der Ugander schien verwirrt und zeigte durch die gesprungene Windschutzscheibe in Richtung Innenstadt. »No problem. Hotel.«
»Nicht zu dem verdammten Hotel«, erwiderte Howell nun etwas heftiger. »Da vorne links abbiegen!«
»Nein! Problem! Schlechter Platz.«
Smith drehte sich auf seinem Sitz um und war dankbar, dass Sarie ihm die Frage abnahm. »Was ist denn los, Peter? Ich hab gedacht, Sie waren noch nie in Uganda?«
Ihre naive Offenheit war nicht nur sympathisch, sondern auch nützlich. Smith war kaum in der Position, um Fragen zu stellen – vor allem, wenn man bedachte, dass er sich von Howell bei einer Mission für eine Organisation helfen ließ, von der der Brite nicht einmal wusste, dass es sie gab.
»Ich hab gesagt, hier abbiegen!«, beharrte Howell, beugte sich vor und packte das Lenkrad. Das Taxi bog so abrupt auf eine Erdstraße ein, dass Smith gegen die schlecht schließende Tür krachte. Er hielt sich am Armaturenbrett fest, um nicht aus dem Auto geschleudert zu werden.
»Verdammt, was soll das, Peter?«, fragte er und versuchte aufs Neue, die Tür zuzubekommen.
»Ich dachte mir, wir genießen erst mal die Sehenswürdigkeiten.«
Howell hielt dem Fahrer drei Hundert-Dollar-Scheine hin. Der Mann schien nicht recht zu wissen, wovor er mehr Angst haben sollte – vor dem Mann auf dem Rücksitz oder vor dem, was vor ihm lag. Das Geld gab den Ausschlag.
Smith schaffte es schließlich, die Tür wieder zu schließen, und drehte sich so weit um, wie es sein Rucksack erlaubte. Dass ihm Howell nicht gesagt hatte, dass er schon in Uganda war, beunruhigte ihn nicht weiter – schließlich war ihre ganze Beziehung auf Geheimnissen aufgebaut. Was ihm jedoch zu denken gab, war, dass der stets so praktische und geradlinige SAS-Mann plötzlich sprunghaft und launisch geworden war.
Er hatte noch nie Grund gehabt, an Howells Urteilen zu zweifeln, aber in diesem Fall hatte er kein gutes Gefühl. Er fragte sich, wie weit er seinen alten Freund gewähren lassen sollte, bevor er ihn zurückpfiff.
Als sie in ein heruntergekommenes Viertel kamen, begann der Fahrer gereizt in seiner Muttersprache zu reden, offenbar um sich selbst von irgendetwas zu überzeugen. Sie waren noch etwa zweihundert Meter vom ersten Gebäude – einer Wellblechhütte – entfernt, als der Afrikaner abrupt bremste. »Nicht weiter!«
Howell stieg ruhig aus dem Wagen, riss die Fahrertür auf und zog den verängstigten Mann auf die Straße heraus.
»Wir sind gleich wieder da«, sagte er, setzte sich ans Lenkrad und fuhr weiter.
»Peter«, sagte Sarie, während sie sich zwischen den dicht stehenden Hütten durchschlängelten und die staunenden Blicke der Fußgänger auf sich zogen, die eilig Platz machten. »Ich komme aus diesem Teil der Welt, und ich sage Ihnen, wir sind hier nicht erwünscht.«
Er gab keine Antwort, und Smith spürte ihre Hand auf seiner Schulter, eine deutliche Aufforderung zum Eingreifen. Es passierte ihm nicht oft, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Ohne Peter Howell wäre er schon fünfmal gestorben.
Je weiter sie vordrangen, umso mehr veränderte sich der Charakter des Viertels. Man sah jetzt keine Frauen und Kinder mehr, wie noch am Rand der Siedlung – dafür ausgesprochen schwer bewaffnete Männer. Ein Pick-up mit einem fest montierten Maschinengewehr fuhr vor ihnen vorbei, und der Mann, der mit nacktem Oberkörper auf der Ladefläche stand, schwenkte die Waffe in ihre Richtung, hatte aber nicht mehr die Zeit, um sich zu entscheiden, ob er den Abzug drücken sollte oder nicht, bevor er hinter der nächsten Ecke verschwand.
»Okay, das reicht jetzt, Peter«, sagte Smith, griff nach dem Schalthebel und nahm den Gang heraus. »Entweder du sagst uns jetzt, warum wir hier sind, oder wir drehen um und machen, dass wir verschwinden.«
Der Brite zeigte nur mit dem Daumen nach hinten, wo Sarie auf dem Rücksitz kniete und auf die Menge hinausblickte, die von allen Seiten auf sie einströmte. Im Gegensatz zu dem MG-Schützen hatten sie genug Zeit, um sich zu überlegen, was sie mit den Fremden machen sollten – doch wie es aussah, hatten sie ihre Entscheidung bereits getroffen.