Kapitel achtundzwanzig

NORDUGANDA

21. November, 18:33 Uhr GMT+3

 

 

Mehrak Omidi hielt etwas Abstand, als der junge Mann vor ihm plötzlich wilde Handkantenschläge und Tritte in die feuchte Luft und gegen die Büsche losließ. Dabei drehte er sich etwas wackelig um die eigene Achse und gab Laute von sich, die wie von einem erstickenden Vogel klangen. Er stürzte beinahe über einen verrottenden Baumstamm und schrie ihn zornig an, ehe er eine der Bierdosen hervorzog, die er in den Taschen seines Tarnanzugs mit sich trug.

Omidi war vor neun Stunden in Uganda gelandet und sofort zu dem abgelegenen Treffpunkt gefahren, den ihm Caleb Bahame genannt hatte. Er hatte erwartet, von Bahame persönlich dort abgeholt zu werden, doch stattdessen musste er drei Stunden mit verbundenen Augen in einem klapprigen Militärfahrzeug fahren. Und jetzt das.

Sie marschierten schon so lange durch den feuchten Dschungel, dass er sich langsam fragte, ob die Männer, die ihn geleiten sollten, überhaupt wussten, wo sie hingingen. Die meisten waren auch noch betrunken, und es hatte schon drei Schlägereien gegeben; einmal hatte er einschreiten müssen, als sie mit Messern aufeinander losgingen.

»Wie lange noch?«

Der Mann vor ihm drehte sich zu ihm um und sagte etwas in seiner Sprache, ehe er weiterging.

Omidi folgte ihm mühelos, obwohl er die Luftfeuchtigkeit und das Gelände überhaupt nicht gewohnt war. Er hasste Schwarzafrika, einfach alles hier – die Luft, die Krankheiten, die abstoßenden Menschen, die hier lebten. Nur zu gern hätte er einen seiner Männer hergeschickt, doch das war unmöglich. Eine Aufgabe von so historischer Tragweite konnte er keinem anderen anvertrauen.

Als er sich erlaubte, daran zu denken, was er mit Gottes Hilfe zuwege bringen würde, nahm es ihm fast den Atem. Die jahrhundertelange Vorherrschaft Amerikas und des Westens würde zu Ende gehen. Ihre arroganten Bürger würden einsehen müssen, dass alles, was sie zu haben glaubten, eine Illusion war. Sie würden mit Entsetzen erkennen, dass ihr ganzes Geld und ihre Macht, die sie an sich gerissen hatten, sie nicht schützen konnten. Und wenn alles vorbei war, würden sie sich verkriechen wie geprügelte Hunde.

Die Sonne sank auf den Horizont herab, was seinen Zorn und seine Frustration noch größer machte. Bald würden sie anhalten müssen. Seine Führer waren zwar bestens ausgerüstet mit Alkohol und pornografischen Zeitschriften, aber keiner schien daran gedacht zu haben, eine Taschenlampe mitzunehmen.

Er beschleunigte seine Schritte und legte dem Mann vor sich die Hand auf die Schulter, doch dann hörte er eine ferne Stimme durch den Dschungel hallen. Die Männer um ihn herum bemerkten sie auch und reckten jubelnd ihre rostigen Sturmgewehre in die Luft.

Bahame.

Als sie sich der immer lauter werdenden Stimme näherten, stieg ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase, der darauf hindeutete, dass hier Menschen lebten; es roch nach offenen Latrinen, Abfall und nach Verwesung. Sie kamen an Kisten mit Waffen und Lebensmitteln vorbei, aber auch an Militärfahrzeugen, deren Fahrtauglichkeit zweifelhaft war und die mit Zweigen und Laub bedeckt waren, damit man sie aus der Luft nicht erkennen konnte.

Sobald sie die Lichtung erreichten, erkannte Omidi einen Mann, der über eine provisorische Bühne schritt und in ein Megafon sprach. Er trug einen abgetragenen Tarnanzug und ein auffälliges Amulett, das aus menschlichen Zähnen und Knochen zu bestehen schien.

Mindestens hundert Leute waren auf der kleinen Lichtung versammelt und starrten wie gebannt auf die grauhaarige Gestalt, die auf sie heruntersah. Die meisten waren Jugendliche oder noch Kinder in zerlumpten Zivilkleidern. Manche hatten ein AK-47-Gewehr in der Hand, andere nur einen mit Federn geschmückten Speer. Mindestens ein Viertel von ihnen waren Mädchen, manche mit nacktem Oberkörper, die kleinen Brüste feucht vom Schweiß. Ein widerliches Schauspiel eines widerlichen Volkes.

Der Mann auf dem aus Holz und Stein gezimmerten Podium erblickte ihn, zeigte auf ihn und sprach ein paar unverständliche Worte, worauf sich sein Publikum teilte, um dem Gast aus dem Iran den Weg freizumachen.

Aus der Nähe betrachtet, hatte Caleb Bahame durchaus etwas Majestätisches an sich, mit seinen kräftigen Gesichtszügen und seiner pechschwarzen Haut, auf der die vielen Jahre, die er in Lagern wie diesem gelebt hatte, kaum Spuren hinterlassen hatten. Seine Bewegungen wirkten seltsam übertrieben, wie um jedem Wort, das er sagte, besonderes Gewicht zu verleihen. Als er Bahame so vor sich stehen sah und seine erdrückende Präsenz spürte, verstand er, wie es der Afrikaner geschafft hat, so schnell eine solche Macht zu erringen.

Bahame hatte vor etwa einem Vierteljahrhundert begonnen, seine abstruse Religion in die kleinen Dörfer des Nordens zu bringen. Wenig später hatte er eine stattliche Gruppe von Anhängern bewaffnet, die ihm halfen, die Farmer der Region zu bekehren, ob sie sich nun von seiner Lehre überzeugen ließen oder nicht. Er brannte alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte, er vergewaltigte und entführte Menschen und konzentrierte sich vor allem darauf, die leicht zu beeinflussenden Kinder zu manipulieren und zu einer Streitmacht zu formen, die keinerlei Moral oder religiöse Gefühle kannte – außer denen, die von ihm ausgingen.

Mit der Zeit wurde seine Religion immer politischer und konzentrierte sich immer mehr auf seine Person. Er stellte sich selbst als eine Mischung aus Mohammed, Jesus und Karl Marx dar, er schürte die Feindseligkeiten zwischen den Stämmen und versprach eine utopische Gesellschaft, in der Milch und Honig flossen, ohne dass man sich dafür anstrengen musste. Seither waren Tausende von Anhängern dazugekommen, und Bahame hielt sich längst für gottähnlich.

Omidi kletterte auf das Podium, und Bahame warf das Megafon beiseite, um ihn zu begrüßen. Als sie sich die Hand schüttelten, ertönte lauter Jubel.

»Mehrak, mein guter Freund«, sagte Bahame in einem Englisch, das besser war als sein eigenes. »Gott hat mir gesagt, dass du wohlbehalten zu mir kommen wirst.«

»Sein Name sei gepriesen.«

Bahame lächelte und drehte sich um, er nahm einen Klauenhammer zur Hand und öffnete damit eine Kiste Whisky. Der Jubel der jungen Leute wurde noch lauter, als er die Flaschen in die Menge warf und eine für sich behielt.

»Meine Magie hat uns viele Siege beschert, und dafür lieben sie mich«, sagte er. Seine Augen waren klar, doch es war unmöglich zu sagen, was sie sahen. Er war ohne Zweifel ein Mann, mit dem man sehr vorsichtig umgehen musste.

»Du bist ein großer Führer.«

»Ja, aber Uganda ist ein großes Land, in dem es viel Böses gibt. Es braucht mehr als nur Magie, um es zu erobern. Nicht einmal meine Magie reicht dafür aus.«

Omidi nickte ernst. »Alle großen Generäle – alle großen Männer – stehen vor dem gleichen Problem. Man kann nicht alles selbst machen. Und sich auf andere zu verlassen, ist … eine unsichere Sache.«

»Was du sagst, ist wahr, Mehrak.«

»Ich würde gern deine Magie sehen. Vielleicht kannst du uns zeigen, wie man sie ohne deine Macht einsetzen kann.«

Der Vorschlag schien ihm zu gefallen, und er nahm einen tiefen Schluck aus der Whiskyflasche, bevor er sie Omidi hinhielt.

»Mein Gott gestattet es nicht«, sagte der Iraner.

»Er gibt dir seine Erlaubnis.«

Omidi lächelte höflich und achtete darauf, dass seine Augen nur Gelassenheit ausdrückten. Wollte Bahame damit sagen, dass er bei Gott die Erlaubnis für ihn eingeholt hatte? Oder dass er selbst Gott war?

Ein Gemurmel erhob sich unter Bahames Leuten, und Omidi nahm es als Vorwand, um sich umzudrehen und zu sehen, was sie von dem Gerangel um den Schnaps abgelenkt hatte.

Eine Gruppe von jungen Männern brach zwischen den Bäumen hervor und zerrte einen Afrikaner mit sich, der schwer verletzt war, sich aber dennoch wehrte. Hinter ihnen folgte ein weißer Mann Ende sechzig, verängstigt und erschöpft.

Bahame sprang vom Podium, und Omidi folgte ihm in einigem Abstand, um beobachten zu können, was da vor sich ging, ohne in die Sache verwickelt zu werden.

»Wo ist die Frau?«, fragte Bahame.

Einer der Männer warf den Verletzten vor seinen Füßen auf den Boden. »Dembe hat sie entwischen lassen.«

Dem Mann, der hilflos am Boden lag, hatte man das rechte Hosenbein abgeschnitten, und der Verband an seinem Oberschenkel war mit Blut durchtränkt. Er versuchte davonzukriechen, wurde aber von dem undurchdringlichen Ring von bewaffneten Kindern aufgehalten, der sich um die Neuankömmlinge gebildet hatte.

Bahame zeigte auf den Weißen. »Wer ist er?«

»Ein Arzt, der den Dreckskerl versorgt hat, damit er überlebt und dir gegenübertreten kann.«

Die Augen des Kultführers weiteten sich, und sein starrer Blick fiel auf den Mann, der kläglich zu seinen Füßen flehte.

Er ließ die Flasche fallen, griff sich einen Stein von der Größe eines Apfels, ging auf die Knie und schmetterte dem Verletzten den Stein mit furchtbarer Wucht zwischen die Schulterblätter. Ein Schmerzensschrei brach aus dem Mann hervor, der jedoch bald vom Gejohle der Menge übertönt wurde.

»Nein, halt!«, rief der weiße Arzt und wollte seinem Patienten zu Hilfe eilen, doch er wurde niedergeschlagen, bevor er bei ihm war.

Bahame bearbeitete den Mann weiter mit dem Stein und vermied es, ihn am Kopf und am Hals zu treffen – nur an den Armen, am Oberkörper und an den Beinen. Der Schweiß tropfte ihm vom Gesicht, und er atmete stoßweise, während er immer wieder zuschlug, bis man das Knacken von brechenden Knochen hörte und das Gurgeln von Blut in der Kehle des Opfers.

Es war erstaunlich, mit welcher Präzision Bahame vorging, wie er den Körper des Mannes zerschmetterte und ihn nicht nur am Leben ließ, sondern sogar bei Bewusstsein.

Schließlich wurde Bahame müde und stand auf, doch er schien nicht daran zu denken, den Mann von seinen Qualen zu erlösen. Er griff nach der Whiskyflasche, die nun voller Blut war, und nahm einen kräftigen Schluck, ehe er sie seinem Gast hinstreckte.

Omidi zögerte einen Augenblick und sah auf den Mann hinunter, der da zuckend auf der feuchten Erde lag. Schließlich nahm er die Flasche und hob sie in Richtung seines Gastgebers, ehe er sie an die Lippen setzte.

Die Ares Entscheidung
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