Kapitel einunddreißig
IN EINEM RANDBEZIRK VON KAMPALA, UGANDA
22. November, 06:53 Uhr GMT+3
Seine Hoffnung, die Soldaten könnten einfach nur zufällig im schlimmsten denkbaren Moment aufgetaucht sein, war inzwischen geschwunden. Die Situation, in der sie sich befanden, war noch um einiges fataler als die Worst-Case-Szenarien, die Smith auf der Fahrt durchgegangen war. Und er war ein Mann, dessen Leben man als eine einzige Aufeinanderfolge von Worst-Case-Szenarien bezeichnen konnte.
Man hatte ihnen nicht erlaubt, irgendjemanden anzurufen, weder die Botschaft noch einen Anwalt, und man hatte sie weder etwas gefragt noch auf ihre Fragen geantwortet. Der fensterlose Raum, in dem sie festgehalten wurden, bestand zur Gänze aus bröckelndem Beton, mit einer rostigen Eisentür, die aussah, als hätte man sie aus einem alten Kriegsschiff ausgebaut. Die Luft war heiß und wurde immer stickiger, je größer der Kohlendioxidanteil aus ihrem Atem wurde.
Die Einrichtung bestand aus drei Stühlen, die am Fußboden festgeschraubt und mit dicken Riemen für die Arme und Beine versehen waren. Noch schlimmer war das eingetrocknete Blut, das von den Stühlen zu einem Abfluss im Boden führte.
Sarie bohrte ihre zitternden Finger in die Lücken zwischen Tür und Pfosten, doch das schwere Eisen bewegte sich keinen Millimeter. Howell hatte sich auf den Boden gelegt, um zu schlafen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass es unmöglich war, die Tür zu knacken, an den Wachen draußen vorbeizukommen und aus dem heruntergekommenen Militärstützpunkt zu fliehen. Er beschloss, seine Kräfte für den nächsten Tag zu sparen.
Smith schritt durch die Zelle und legte Sarie die Hand auf die Schulter. Sie waren nun schon acht Stunden hier eingesperrt, und wahrscheinlich die Hälfte dieser Zeit war sie auf und ab gegangen wie ein gefangenes Tier.
»Legen Sie sich doch auch ein bisschen hin und ruhen Sie sich aus. Lassen Sie mich eine Weile mit der Tür weitermachen.«
Sie drehte sich zu ihm um, sichtlich bemüht, ihre Angst im Zaum zu halten, doch ihre Augen waren trotzdem ein wenig geweitet. »Wir müssen hier raus, Jon. Wir sind hier nicht in Amerika. Die Regierung kann mit den Leuten machen, was sie will. Sie können …«
Man hörte plötzlich ein leises Knirschen, und er nahm sie am Arm und zog sie hinter sich. Howell war augenblicklich auf den Beinen und postierte sich in der Ecke hinter der Tür, die nun langsam aufging.
Fünf schwer bewaffnete Männer kamen herein und nahmen Positionen ein, die jeden Gedanken an eine Flucht unmöglich machten. Howell verschränkte die Arme lässig vor der Brust, während nicht weniger als drei Waffen auf ihn gerichtet waren.
Der nächste Mann, der eintrat, war leicht zu erkennen. Er war mindestens eins neunzig groß und hatte dürre Beine, die aussahen, als könnten sie weder seinen massigen Körper tragen noch die zahllosen Medaillen, die auf seiner Uniform prangten.
Charles Sembutu. Der Präsident von Uganda.
Er hatte das Land über Jahre hinweg in eisernem Griff gehabt, doch jetzt drohte ihm die Kontrolle zu entgleiten. Es wurde allgemein angenommen, dass er Bahames brutales Vorgehen toleriert und für seine Zwecke genutzt hatte, weil sich die verängstigten Menschen leichter beherrschen ließen und er als Kämpfer gegen den Terrorismus auftreten konnte. Doch er war in seiner Gier zu weit gegangen und hatte Bahame zu viel Spielraum gelassen, sodass die Hauptstadt nun Gefahr lief, vom Norden her von den Rebellen eingenommen zu werden.
Ein Stuhl mit lederner Lehne und ein Schreibtisch mit dem Siegel des Präsidenten wurden hereingetragen, und Sembutu setzte sich und legte ihre Reisepässe vor sich auf den Tisch. »Dr. van Keuren ist uns wohlbekannt«, hob er an und musterte Smith abschätzig. »Und Mr. Howells Pass ist zwar falsch, aber auch er ist bei uns beileibe kein Unbekannter. Aber Sie … Sie sind ein Rätsel.«
»Mein Name ist Dr. Jon Smith. Ich bin Mikrobiologe bei …«
»Bei der amerikanischen Armee«, sprach Sembutu den Satz zu Ende. »Aber mit einem recht vielfältigen Hintergrund, nicht? Einsätze an der Front, Geheimdienst. Und wie ich höre, können Sie auch sehr geschickt mit einem Messer umgehen.«
»Das war …«
»Sie sprechen nur, wenn ich Sie etwas frage«, fiel ihm Sembutu ins Wort und schlug mit seiner großen Hand auf den Schreibtisch. »Was machen Sie hier in meinem Land?«
»Ich bin ausgebildeter Virologe, aber ich habe mich in letzter Zeit auch intensiv mit Parasiten beschäftigt. Und da hat sich eben jetzt die Gelegenheit geboten, Sarie auf dieser Expedition zu begleiten.«
»Und Sie haben einen ehemaligen SAS-Mann mitgenommen?«
»Wir dachten uns, dass es nicht schaden kann, Mr. President. Ich habe zwar auch eine gewisse militärische Ausbildung, aber letztlich bin ich doch nur ein Arzt …«
»Halten Sie mein Land etwa für unsicher? Glauben Sie, dass ich es nicht unter Kontrolle habe?«
Das war wahrscheinlich ein guter Moment, um von den wenigen Dingen, die er über Diplomatie wusste, Gebrauch zu machen. Der Zweck dieses Raumes war offensichtlich, und er wollte sein Leben nicht auf einem dieser Folterstühle beenden und sein eigenes Blut in den Abfluss rinnen sehen.
»Nein, so ist es nicht, Sir. Ich weiß genau, welche Fortschritte Uganda gemacht hat, seit Sie Präsident sind. Aber ich weiß auch, wie schwer es ist, Reformen in entlegenen ländlichen Gebieten umzusetzen, darum wollte ich lieber vorsichtig sein.«
Ein nüchternes Lächeln breitete sich auf Sembutus Gesicht aus. »Ich bin nicht so naiv, wie Sie vielleicht denken, Doctor. Sie werden schon noch merken, dass Sie mir keine Märchen erzählen können.«
»Das war nicht meine Absicht, Sir. Ich …«
»Warum waren Sie im Krankenhaus?«
Smith hatte in den Stunden der Gefangenschaft lange darüber nachgedacht, warum man sie festgenommen haben könnte, doch er hätte eher auf den Abstecher bei Peters Waffenhändler getippt als auf ihren Besuch im Krankenhaus.
»Wir haben einige Berichte über einen Parasiten gefunden, der auch Menschen angreift, darum wollten wir Dr. Lwanga fragen, ob er etwas darüber weiß. Wir …«
»Sie haben ein Phänomen beschrieben, das stark an Caleb Bahames Angriffe auf die Dörfer im Norden erinnert.«
Smiths Gesicht blieb ausdruckslos. »Caleb Bahame? Der Terrorist? Ich verstehe nicht, Sir. Es geht hier um einen Parasiten, der Wahnzustände und Blutverlust hervorruft. Was hat das mit Bahame zu tun?«
Sembutu musterte ihn aufmerksam, doch es war unmöglich zu sagen, ob er ihm die völlig plausible Lüge abkaufte. In Amerika interessierte man sich kaum für die Kämpfe, die es in Afrika immer wieder gab. Warum sollte ein Militärarzt Einzelheiten über Bahames Angriffe kennen?
»Es spielt keine Rolle, ob Sie verstehen, was das mit Bahame zu tun hat, Colonel. Er ist ein Psychopath, der Kinder mit Drogen vollstopft, sie mit Blut bemalt und ihnen einredet, dass sie ihre eigenen Angehörigen umbringen sollen. Die ungebildeten Menschen in den ländlichen Gebieten halten ihn für einen Magier, und das macht es ihm möglich, großen Schaden in meinem Land anzurichten. Wenn die Öffentlichkeit erfährt, dass sich ein amerikanischer Militärarzt für ihn interessiert, dann vergrößert das nur seinen Mythos und den Glauben der Leute an seine Macht.«
»Aber wir hatten nicht die Absicht …«
»Es ist mir egal, was Sie für eine Absicht hatten!«, brüllte Sembutu. »Wenn Bahame Erfolg hat, dann wird er Uganda zerstören und in andere Länder weiterziehen. Amerika kann das egal sein, aber ich habe eine Verantwortung für mein Land. Für mein Volk.«
»Mr. President«, meldete sich Sarie mit ruhiger Stimme zu Wort, obwohl Smith genau wusste, dass sie innerlich alles andere als ruhig war. »Wir sind keine Experten für Politik oder Krieg. Wir sind Wissenschaftler …«
Sembutu blickte kurz zu ihr hinüber, ehe er sich wieder Howell und Smith zuwandte. »Da spricht doch einiges dagegen.«
»Unser eigentlicher Forschungsgegenstand ist ein Parasit, der Ameisen angreift«, fuhr sie fort. »Das andere ist nur eine Sache, auf die wir nebenbei gestoßen sind. Wir wollten uns auch gar nicht weiter damit beschäftigen, weil es diesen Parasiten wahrscheinlich gar nicht gibt, wenn Dr. Lwanga nie davon gehört hat.«
»Ameisen …«, sagte Sembutu skeptisch.
»Ja, Sir. Ich arbeite viel mit Ameisen.«
Einige Augenblicke war es still im Raum, bis Sembutu wieder zu sprechen begann. »Ich muss Ihnen sagen, wenn Dr. van Keuren nicht hier wäre, dann hätten Sie leicht in einem unserer Gefängnisse landen können. Aber ihre Arbeit über Malaria hat vielen Menschen in ganz Afrika geholfen, und ich habe auch von ihrer Arbeit über Insekten gehört.«
Er hielt ihnen ihre Reisepässe hin. »Ich gebe Ihnen auch eine Karte mit meiner privaten Telefonnummer. Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, dürfen Sie sie benutzen. Und als Soldat sage ich Ihnen noch – wenn Sie irgendetwas über Bahame und seine Armee erfahren sollten, dann wüsste ich es zu schätzen, wenn Sie es mir melden. Mir ist schon klar, dass Ihre Regierung und viele andere meine Legitimität und meine Methoden infrage stellen. Trotzdem glaube ich, Sie sind realistische Menschen und wissen, wie die Welt funktioniert. Und darum werden Sie erkennen, dass ich vielleicht in den Augen des Westens nicht perfekt bin, aber in Anbetracht der Situation gewiss das kleinere Übel.«
Smith war etwas perplex von dieser plötzlichen Kehrtwende. Wollte Sembutu damit sagen, dass er sie gehen ließ, weil er sich militärische Informationen von ihnen erhoffte?
»Das ist sehr großzügig von Ihnen, Mr. President.« Sarie schnappte sich die Pässe, bevor er es sich wieder anders überlegte.
Sembutu nickte. »Wir sind sehr dankbar für Ihre Arbeit, Doctor, und wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg. Auf Wiedersehen.«
Charles Sembutu sah den drei Weißen nach, die hinausgeleitet wurden, während ihre Schritte verklangen. Obwohl sie gelogen hatten, würden sie zu ihrem Hotel zurückgebracht werden und beim Auschecken feststellen, dass die ugandische Regierung ihre Hotelrechnung übernommen hatte.
Smith arbeitete in Fort Detrick und war maßgeblich am Kampf gegen das Hades-Virus beteiligt gewesen, das so viele im Westen getötet hatte. Nur ein Idiot würde glauben, dass einer der herausragenden Biowaffenexperten Amerikas Urlaub nehmen würde, um Insekten in Uganda zu studieren. Und ein Idiot war Sembutu nicht, sonst wäre er nicht zu einem der mächtigsten Männer in Afrika geworden.
Es war eine extrem gefährliche Situation, die mit jedem Tag etwas mehr außer Kontrolle zu geraten schien. Normalerweise konnte man davon ausgehen, dass sich die Amerikaner nicht in irgendwelche afrikanischen Angelegenheiten einmischten, solange ihre eigenen Interessen nicht bedroht waren. Wenn das jedoch der Fall war, konnte sich das schnell ändern. Man durfte den schlafenden Löwen nicht wecken.
Sein Telefon läutete, und er meldete sich sofort. »Ja, ich bin da.«
»Was haben Sie herausgefunden?«
Mehrak Omidis Stimme war leise, so als wollte er vermeiden, dass jemand sein Gespräch mitbekam – was auch ziemlich sicher der Fall war.
»Smith hat gesagt, er ist hier, um einen Parasiten zu studieren, der im Norden Ameisen angreift.«
»Ameisen«, erwiderte Omidi abschätzig. »Haben diese Leute so wenig Respekt vor Ihnen, dass sie Ihnen ein solches Märchen erzählen?«
Sembutu fühlte die alte Abneigung in sich aufsteigen. Es war ihm höchst unangenehm, mit den Iranern zusammenzuarbeiten – noch mehr als mit den Amerikanern. Sie redeten zwar ständig von der westlichen Arroganz, dabei hielten sie sich selbst für Gottes auserwähltes Volk, was ebenso unerträglich wie gefährlich war. Im Moment waren sie jedoch im Gegensatz zu den Amerikanern in der Lage, ihm etwas zu geben, was er dringend brauchte.
»Ich will, dass man sie unschädlich macht«, fuhr Omidi fort.
»Und was genau verstehen Sie unter ›unschädlich machen‹?«
»Ich glaube, das wissen Sie sehr gut, Mr. President. Ich will, dass sie verhört und anschließend getötet werden.«
»Es gehört nicht zu unserer Abmachung, Angehörige der amerikanischen und der britischen Armee zu töten.«
»Der Norden Ugandas ist eine sehr abgelegene und sehr gefährliche Gegend, Mr. President. Hier kommt es jeden Tag vor, dass Leute verschwinden.«