Kapitel sechsunddreißig

ZENTRALUGANDA

24. November, 09:30 Uhr GMT+3

 

 

»Siehst du ihn?«, fragte Peter Howell.

Sie lagen auf der Kuppe eines Hügels, mitten auf einer Erdstraße, die sie während der vergangenen Stunde hinaufgefahren waren. Smith schwenkte sein Fernglas über das grüne Tal, bis er die Ursache der Staubwolke fand.

»Ja – ein Mannschaftstransportwagen. Zwei Mann vorne, sechs hinten. Alle bewaffnet.«

»Es ist das einzige Fahrzeug, das wir in den vergangenen vierzehn Stunden gesehen haben. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass sie uns folgen.«

»Präsident Sembutu hat gesagt, wir sollen ihn anrufen, wenn es Probleme gibt«, erinnerte Sarie. »Vielleicht hat er diese Männer selbst losgeschickt, um sicherzugehen, dass wir keinen Ärger bekommen.«

Sie sahen sie an.

»Nur so ein Gedanke.«

»Ich würde auch sagen, dass es wahrscheinlich Sembutus Männer sind«, räumte Smith ein. »Aber ich wäre mir nicht so sicher, ob sie uns wirklich so wohlgesinnt sind.«

»Eins steht jedenfalls fest – jemand muss auf seinen Befehl bei den drei Militärkontrollen angerufen haben, an denen wir vorbeigekommen sind, weil sie nicht mal einen Blick in den Wagen geworfen haben. Ich schätze, das hat es hier in der Gegend noch nie gegeben.«

Smith drehte sich auf den Rücken und blickte zu dem strahlend blauen Himmel hinauf. »Ich glaube, Sie haben recht, Sarie – Sembutu greift uns offenbar ein bisschen unter die Arme …«

»Die Frage ist, warum«, warf Howell ein.

Sarie holte ihr neues Gewehr vom Rücksitz und beobachtete den näher kommenden Wagen durch das Zielfernrohr. »Ich glaube, wir können im Moment auch gar nichts dagegen tun. Es gibt nicht so viele Kreuzungen hier, und wir hinterlassen eine ziemlich deutliche Spur.«

»Vielleicht bin ich ja auch nur paranoid.« Smith streckte die Hand aus und ließ sich von Howell auf die Beine helfen. »Sembutu denkt vielleicht, wir könnten etwas finden, das ihm nützlich sein kann. Und es wäre ja wirklich kein Nachteil für ihn, wenn wir herausfinden, dass Bahame eine Biowaffe einsetzt. Wenn es nach ihm ginge, könnten die USA ruhig ein paar B-52-Bomber schicken und Bahames Lager ausradieren.«

»Vielleicht hat er uns die Geschichte mit den Ameisen ja wirklich geglaubt«, meinte Sarie.

Smith zuckte die Achseln. »Alles ist möglich. Und man kann nie wissen, wann man ein bisschen zusätzliche Feuerkraft gebrauchen kann.«

»Das kommt drauf an, gegen wen sie sich richtet«, wandte Howell ein, setzte sich wieder ans Lenkrad ihres Wagens und knallte die Tür hinter sich zu.

»Er sieht nicht besonders glücklich aus«, sagte Sarie, während sie ihr Gewehr schulterte.

»Nein, kann man wirklich nicht sagen.«

»Irgendetwas muss ihm hier passiert sein«, meinte Sarie. »Etwas Furchtbares.«

Auf diesen Gedanken war er selbst schon gekommen, doch er hatte keine Ahnung, was es gewesen sein mochte. Er kannte Howell und Männer wie ihn – verdammt, er war selbst einer von dieser Sorte. Nach allem, was der Brite in seiner Zeit beim SAS und dem MI6 gesehen hatte – was konnte ihm da noch derart nahegehen?

»Sie sollten ihn danach fragen«, schlug Smith vor.

»Ich?«, erwiderte sie in scharfem Flüsterton. »Soll das ein Witz sein? Ich meine, es kann ganz interessant sein, mit ihm zu Abend zu essen, aber fällt Ihnen nicht auch auf, dass er immer so dreinschaut, als würde er einen gleich mit einem Taschenmesser niederstechen?«

»Das ist jetzt aber übertrieben.«

»Ach ja? Warum fragen Sie ihn dann nicht selbst? Sie kennen ihn schon seit Jahren, nicht?«

»Ja, schon lange«, räumte Smith ein. »Aber unser Verhältnis ist … na ja, ein bisschen kompliziert.«

Sarie neigte ihren Kopf zur Seite und musterte sein Gesicht. »Warum habe ich nur das Gefühl, dass eure Beziehungen alle kompliziert sind?«

Howell startete den Motor und ließ ihn laut aufheulen, was Smith die Gelegenheit zum taktischen Rückzug bot. »Ich habe keine Ahnung. Ich bin ja nur ein einfacher Landarzt.«

 

»Okay, wir sehen zu, ob wir irgendwo abbiegen können.« Smith fuhr mit dem Finger über das unscharfe Satellitenbild, das Star ihm ausgedruckt hatte. Sie hatte sogar einzelne Entfernungen eingetragen, was ihre Gründlichkeit mal wieder unter Beweis stellte, in der Wirklichkeit der afrikanischen Landstraßen jedoch vollkommen nutzlos war. »Ich vermute, dass man demnächst einmal links abbiegen kann, aber genau kann ich es nicht sagen.«

Als sie ein kleines Dorf erreichten, winkte Smith durch das offene Fenster den Kindern zu, die neben dem Auto herliefen. Ihr Lachen, ihre Fröhlichkeit schienen unerschütterlich, obwohl sie in einer Armut lebten, die für die meisten Menschen in der westlichen Welt unvorstellbar war.

»Es ist schon unglaublich, nicht?«, bemerkte Sarie vom Rücksitz aus. »Diese Leute besitzen nichts, was für irgendjemanden interessant sein könnte, sie haben kein fließendes Wasser, keine Elektrizität, kein Geld. Und ein Typ wie Bahame gönnt ihnen nicht einmal das einfache Leben, das sie führen.«

Sie beugte sich aus dem Fenster und klatschte kurz mit einem besonders hartnäckigen Jungen ab, der ihr die Hand hinstreckte, bevor sie aus dem Dorf fuhren.

»Diese Kinder könnten bald in Bahames Armee landen«, fuhr sie fort. »Oder noch schlimmer, sie könnten so enden wie die Leute, die diese Soldaten auf dem Video angriffen, das Sie mir gezeigt haben. Wenn da wirklich ein Parasit dahintersteckt, wird Bahame ihn irgendwann nicht mehr kontrollieren können. Je öfter er ihn einsetzt, umso schwieriger wird es, den Erreger im Zaum zu halten.«

Ihre Vorhersage riss Howell aus seiner Selbstversunkenheit. »Man sollte doch annehmen, dass er den Parasiten umso besser unter Kontrolle hat, je mehr Erfahrung er damit sammelt, oder nicht?«

Sarie streckte sich auf dem Rücksitz aus, legte ihr Gewehr neben sich und schützte sich mit ihrem Hut gegen die Sonne, die durchs Fenster hereinschien. »Nicht ganz. Ich mache mir Sorgen, dass er den Parasiten so, wie er ihn benutzt, mit der Zeit abschwächt.«

Howell überlegte einen Augenblick. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Schwächer ist doch besser.«

»Das Wort ›schwach‹ bedeutet hier nicht das, was du darunter verstehst«, erläuterte Smith. »Im Moment ist der Parasit – wenn es ihn denn gibt – noch ziemlich primitiv. Er hat sozusagen noch nicht viel Erfahrung mit Menschen gesammelt. Er infiziert vielleicht alle dreißig Jahre einmal ein paar Leute, die stecken einige andere an, und sie sterben alle so schnell, dass sich der Erreger nicht weiter ausbreiten kann.«

Sarie griff seinen Gedanken auf. »Aber solche Infektionen können viel effektiver werden, wenn sie sich etwas abschwächen. Seinen Wirt umzubringen ist keine gute Überlebensstrategie  – vor allem wenn die menschlichen Siedlungen so weit voneinander entfernt sind.«

»Genau. Je länger der Wirt lebt, umso mehr Kopien kann der Parasit von sich machen – schon im ursprünglichen Opfer, aber auch dadurch, dass er dann größere Chancen hat, auf einen neuen Wirt überzuspringen.«

»Und das ist noch nicht alles«, fuhr Sarie fort. »Es könnten sich Mutationen bilden. Wenn diese Infektion sich einmal so weit ausbreitet, dass eine natürliche Selektion einsetzt, dann könnte es sein, dass das Verhalten der Betroffenen etwas weniger brutal wird.«

»Eindeutig«, stimmte Smith zu. »Der Parasit will seinen Wirt ja nur dazu bringen, einem Uninfizierten ein paar offene Wunden zuzufügen, damit er ein neues Zuhause findet. Es ist nicht in seinem Sinn, wenn der Wirt sein Opfer tötet. Ein Toter nützt dem Parasiten nichts.«

»Ich würde auch davon ausgehen, dass die Symptome langsamer einsetzen«, fügte Sarie hinzu. »Dadurch hat der Parasit auch mehr Gelegenheit, einen neuen Wirt zu finden. Im Moment könnte ein schnelles Einsetzen noch hilfreich sein, weil viele der Opfer bei der Übertragung so schwer verletzt werden, dass ihnen nicht viel Zeit bleibt. Die Kräfte, über die die Betroffenen plötzlich verfügen, sind vielleicht weniger eine Strategie, um neue Opfer zu infizieren – dafür ist das fast zu gefährlich. Es könnte gut sein, dass der Parasit die Betroffenen auf diese Weise animieren will, für die Verbreitung zu sorgen, weil sie sich mit ihren schweren Verletzungen sonst nur noch irgendwo hinlegen würden.«

»Interessant«, meinte Smith. »Auf den Gedanken bin ich noch nicht gekommen. Aber was ist, wenn …«

»Ihr Wissenschaftler verbringt eine Menge Zeit mit geistiger Onanie, was?«, warf Howell ein.

»Das ist immerhin produktiver als die andere«, meinte Sarie lachend.

»Wollt ihr mir damit sagen, wenn wir uns einfach zurücklehnen und nichts tun, dann könnte der Parasit irgendwann ganz harmlos werden?«

»So was ist schon vorgekommen«, antwortete Smith. »Es schwirren heute einige Viren herum, die früher einmal verdammt gefährlich waren – aber heute sind sie nicht schlimmer als ein Schnupfen. Das Problem ist, dass erst einmal Millionen Menschen sterben müssten, wenn wir einfach nur abwarten, bis Mutter Natur die Sache für uns regelt.«

Die Ares Entscheidung
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