Kapitel achtunddreißig

NORDUGANDA

24. November, 19:06 Uhr GMT+3

 

 

Caleb Bahame ging vom Gas und ließ etwas Abstand zu dem schwerfälligen Lastwagen, der zwanzig Meter vor ihnen abbog. Panisch lugten die Gesichter der Dorfbewohner, die sie gefangen genommen hatten, durch die Löcher im Anhänger, schnappten nach Luft und versuchten zu verstehen, was ihnen und ihren Familien gerade widerfahren war.

Alle waren verletzt, wenn auch nur leicht. Die schwer verletzten Dorfbewohner waren an Ort und Stelle exekutiert und ihre Leichen verbrannt worden. Die wenigen, die den Kontakt mit den Infizierten hatten vermeiden können, hatte man fliehen lassen, damit sie die Kunde von Bahames Macht und Zauber verbreiten konnten.

Am schlimmsten waren die Leichtverletzten dran. Sie waren in den Lastwagen getrieben worden, um die Infizierten zu ersetzen, die im Dschungel verschwunden waren und dort sterben würden.

Bahame wusste inzwischen, wie lange es dauerte, bis die Infektion zum Tod führte, und wie weit seine Dämonen zu Fuß kamen. Er achtete darauf, nur Dörfer anzugreifen, die so abgelegen waren, dass sich der Erreger nicht ungehemmt ausbreiten konnte.

Details interessierten den Afrikaner dabei aber nur wenig. Konnten auch Tiere den Parasiten verbreiten? Gab es Variationen in der Art und Weise, wie er das Gehirn angriff? Konnten Mutationen entstehen? Was war, wenn einer der Infizierten einen Hirten oder einen Wanderer angriff, der dann in sein Dorf zurückkehrte?

Auf all diese wichtigen Fragen kam immer die gleiche Antwort: Bahame versicherte, dass seine Spione jeden Infizierten erkennen und töten würden, der es schaffte, seiner behelfsmäßigen Quarantäne zu entkommen.

Dieses System mochte eine Zeit lang in Afrika funktionieren, aber um den Parasiten in Europa oder Amerika einzusetzen, würde man viel durchdachter vorgehen müssen.

 

Eine halbe Stunde später erreichten sie das Lager unter dem ohrenbetäubenden Jubel von Bahames Soldaten. Sie umringten den Jeep und verstummten erst, als ihr Führer aufstand und die Arme hob. Er sprach von ihrem unaufhaltsamen Vormarsch und ihrem glorreichen Sieg, und seine volle Baritonstimme übertönte das Summen aus dem Dschungel und das Flehen der Leute, die in dem glühend heißen Lastwagen zusammengepfercht waren.

Omidi stieg aus dem Jeep und schlängelte sich zwischen Bahames gebannten Soldaten hindurch. Ein kurzer Blick zurück zeigte ihm, dass nicht nur die zerlumpten Kindersoldaten völlig verzaubert waren – nein, auch Bahame selbst schien ganz in seine eigene Illusion versunken. Ein idealer Moment, um sich ein bisschen umzusehen.

Der Iraner kam zu einer Höhle, die von elektrischen Lichtern erhellt war. Zwei Wächter standen beim Eingang, der eine ein höchstens zwölfjähriger Junge, der andere etwas größer, doch ihm schien übel zu sein von den Abgasen des Dieselgenerators, neben dem er stand.

Omidi ignorierte die beiden und runzelte nur abweisend die Stirn, als sie etwas in ihrer Muttersprache sagten. Zweifellos war ihnen nicht entgangen, dass er Bahames besondere Gunst genoss, also standen sie mit weit aufgerissenen Augen da und wussten nicht, ob sie versuchen sollten, ihn aufzuhalten.

Ein psychopathischer charismatischer Führer konnte sich darauf verlassen, dass seine Anhänger ängstlich darauf bedacht waren, seinem Willen zu entsprechen. Das Problem dabei war, dass sie nicht immer genau wissen konnten, was sein Wille war. Wenn sie Bahames Ehrengast aufhielten und damit gegen den Willen ihres Führers verstießen, so wartete fast sicher ein langsamer und qualvoller Tod auf sie. Wenn der Gast allerdings nicht mit Bahames Erlaubnis handelte und sie nicht einschritten, so war ihnen der Tod ebenso sicher, und er würde nicht minder qualvoll ausfallen.

Letztlich ließen sie sich von der Selbstsicherheit überzeugen, mit der er auftrat, und ließen ihn passieren – und er trat in einen Gang ein, der so schmal war, dass Omidi sich an manchen Stellen nur seitlich hindurchzwängen konnte. Nackte Glühbirnen hingen an Kabeln, die an der niedrigen Decke der Höhle befestigt waren, und er folgte den Lichtern und ignorierte die Seitenarme, die in die Dunkelheit führten. Die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit nahmen ab, je tiefer er vordrang, doch der Gestank von Blut, Exkrementen und Schweiß wurde immer penetranter. Schließlich öffnete sich der Gang in eine breite Kammer, und Omidi blieb einige Meter davor stehen, um sich erst einmal umzublicken.

In der Kammer sah er den älteren weißen Mann, der zusammen mit dem Schwerverletzten gekommen war, den Bahame zu Tode geprügelt hatte. Er trug eine fleckige Schürze und eine Schutzbrille und war offenbar gerade dabei, eine Leiche zu sezieren. Ganz hinten war ein Hohlraum in den Fels gehauen, der mit Gitterstäben versehen war. Darin lag ein infizierter Mann am Boden; er keuchte wie ein Tier und starrte eine äußerlich gesunde Frau an, die etwa drei Meter weiter in einem ähnlichen Käfig gefangen war.

Als Omidi schließlich in den Raum trat, stieß der Infizierte einen lauten Schrei aus und rammte einen Arm mit solcher Wucht zwischen den Stäben hindurch, dass man das Knacken von brechenden Knochen hörte.

Der alte Mann blickte auf, wich ein paar zögernde Schritte zurück und hob das Skalpell, mit dem er gearbeitet hatte, wie um sich zu verteidigen.

»Ganz ruhig«, sagte Omidi auf Englisch. »Ich bin ein Freund.«

»Ein Freund?«, stammelte der Mann. »Mein Name ist Thomas De Vries. Sie haben mich in Kapstadt entführt. Ich …«

Der Iraner hob abwehrend die Hand und begutachtete die Ausrüstung, die dem Mann zur Verfügung stand. Die Dinge waren in schlechtem Zustand, aber offenbar noch funktionstüchtig. Da waren unter anderem ein modernes Mikroskop und ein kleiner Kühlschrank. »Was haben Sie herausgefunden?«

»Herausgefunden? Ich bin kein Biologe. Ich bin praktischer Arzt im Ruhestand. Sie …«

»Seien Sie still!«, fiel ihm Omidi ins Wort. Er hatte nicht viel Zeit. Bahames Ansprachen waren zwar intensiv, aber nicht sehr lang.

»Helfen Sie mir, dann nehme ich Sie mit, wenn ich von hier weggehe.« Er zeigte auf die Leiche, die der alte Arzt untersucht hatte, als er hereingekommen war. »Sie müssen doch irgendetwas wissen.«

»Ja.« De Vries blickte sich nervös um. »Es ist eine parasitäre Infektion, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Malaria hat. Wenn der Erreger in den Blutkreislauf kommt, sammelt er sich im Kopf an; dort bringt er die Kapillargefäße um die Haarfollikel zum Platzen und greift das Gehirn an.«

»Wird er auf diese Art übertragen?«, fragte Omidi. »Über die Blutung?«

»Ja … Ja, ich denke schon. Es finden sich hohe Konzentrationen im Blut, und der Parasit tritt durch Risse in der Haut und vielleicht über die Augen ein, aber da bin ich mir nicht sicher.«

»Wie lange?«

»Was?«

»Wie lange dauert es, bis die Wirkung einsetzt?«

»Bringen Sie mich zurück nach Kapstadt? In meine Heimatstadt?«

»Ich bringe Sie nach Entebbe und besorge Ihnen einen Platz in einem Linienflugzeug«, antwortete Omidi und bemühte sich, seine Verachtung für diesen Nachkommen der christlichen Eroberer zu verbergen, die Afrika und fast die ganze Welt unterjocht hatten.

De Vries nickte. »Das ist schwer zu beantworten. Das einzige Opfer, das ich bis jetzt beobachten konnte, zeigte nach ungefähr zehn Stunden erste Anzeichen von Unruhe und Verwirrung. Aber es scheint da große Unterschiede zu geben. Ich würde sagen, dass die Symptome nach sieben bis fünfzehn Stunden einsetzen. Danach schreitet die Krankheit schnell voran. Die Betroffenen werden immer unruhiger, ungefähr drei Stunden nach den ersten Symptomen fangen sie an zu bluten, und dann scheinen sie auch sofort gewalttätig zu werden.«

»Und der Tod?«

»Ungefähr achtundvierzig Stunden nach dem vollen Ausbrechen der Symptome, obwohl anscheinend die meisten an ihren Verletzungen sterben, oder auch an Herzversagen.«

Die gesund aussehende Frau im Käfig sprang plötzlich auf und begann zu reden. Sie packte die Gitterstäbe mit beiden Händen und schien sich ihrer Nacktheit überhaupt nicht zu schämen.

Der Arzt blickte zu ihr zurück, mit Mitleid in den Augen, obwohl seine Situation nicht viel besser war. »Bahame hält immer einen Infizierten hier drin fest, damit der Parasit nicht aussterben kann. Wenn der hier so aussieht, als würde er sterben, wird die Frau infiziert, um den Fortbestand zu sichern.«

Omidi nickte. Auch dieses Vorgehen mochte in seinen Augen für Afrika funktionieren, für einen groß angelegten Angriff in einem modernen Land war es jedoch völlig untauglich. Er vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, dass sie noch allein waren, dann zeigte er auf den Kühlschrank. »Kann man eine Probe für den Transport einfrieren?«

»Nein. Außerhalb des Körpers würde der Parasit nur wenige Minuten überleben. Er ist extrem temperaturempfindlich und lässt sich nicht tiefkühlen – ich habe es einige Male versucht, aber der Erreger stirbt fast sofort ab.«

Aus dem Gang hörte man Schritte hallen, und sie verstummten beide. Wenige Augenblicke später erschien Bahame in der Höhlenkammer.

Omidi spannte sich innerlich an. Sollte er versuchen zu erklären, was er hier machte, oder einfach schweigen? Bei Bahame wusste man nie, was ihn zum Explodieren bringen konnte.

Zum Glück nahm ihm Bahame die Entscheidung ab. »Geh hinaus.«

Omidi nickte respektvoll und trat in den engen Gang. Er schritt gleichmäßig weiter, während er die Schreie des Arztes und das Krachen von umgeworfenen Gegenständen hinter sich hörte. Hoffentlich würde Bahame den alten Arzt töten. Der Mann konnte ihm wohl kaum noch irgendwelche nützlichen Informationen geben; eher war damit zu rechnen, dass er unnötige Komplikationen hervorrief.

Sollte er doch in der Höhle verrotten.

Die Ares Entscheidung
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