Kapitel einundvierzig
NORDUGANDA
25. November, 02:09 Uhr GMT+3
Jon Smith griff in die Truhe und nahm eine alte Puppe mit Kleidchen und Spitzenhäubchen heraus. Er legte sie behutsam neben einen Stapel Schwarz-Weiß-Fotos, einen Haufen in Auflösung begriffener Kleider und in Leder gebundene Bücher.
Es war unerträglich heiß hier oben auf dem Dachboden; durch die Hitze und den Schlafmangel fühlte sich sein Kopf an wie in Watte gehüllt. Howell hatte sich schon vor einer Stunde zurückgezogen und schnarchte friedlich in einer Hängematte, die auf der Veranda aufgespannt war.
»Was gefunden?«, fragte er und wischte sich den Schweiß vom Gesicht, damit er nicht auf Lukas Dürnbergs Medizindiplom tropfte.
Sarie hockte im ärmellosen Top und Shorts in der Mitte des vollgestopften Raumes, umgeben von losen Blättern und Notizbüchern, die sie gefunden hatten.
»Es ist schwer, sich hier nicht zu verzetteln«, sagte sie und tippte auf das ledergebundene Buch in ihrer Hand. »Das ist ein Tagebuch aus den Dreißigerjahren, in dem er über die Verfolgung durch die Nazis schreibt und über seine Pläne, seine Familie hinauszubringen. Ich frage mich, ob Noah das alles mitnehmen will, wenn er hier weggeht. Unsere Bibliothek würde ihm die Sachen aus den Händen reißen.«
»Bestimmt«, meinte er, nahm einen weiteren Stapel Papiere aus der Truhe und legte ihn daneben auf den Boden. »Aber wenn ich noch lange hier oben bin, dann schmelze ich.«
»Amerikaner …«, seufzte sie, legte das Tagebuch beiseite und schlug ein Notizbuch auf, das mit Lukas’ markanter Handschrift vollgeschrieben war. »Eure Klimaanlagen haben euch verweichlicht.«
Smith lächelte süffisant und beugte sich zu ihr, um die detaillierten Zeichnungen von Pflanzen aus der Gegend zu betrachten. Er versuchte zu lesen, was dabei stand, doch Sarie war schneller und blätterte um.
Er konnte sich vorstellen, wie schwer es Noah Dürnberg fallen musste, von hier wegzugehen. Dieser Teil von Uganda war wirklich reizvoll, und jetzt musste er alles zurücklassen, was er kannte, und sich irgendwo an einem fremden Ort ein neues Zuhause aufbauen.
Das Land hier bot seinen Bewohnern so viel, der Boden war fruchtbar, es gab genügend natürliche Ressourcen, und die Leute schienen gewillt, zu arbeiten. Es gab keinen Grund, warum die Menschen in Uganda nicht ein sicheres zufriedenes Leben führen sollten.
Wären da nicht die dunklen Seiten des Menschen gewesen, die einem umso bewusster wurden, wenn man sich hier in dem von Bahame terrorisierten Land aufhielt und von Erinnerungen an die Nationalsozialisten umgeben war.
»Moment mal …«
Smith beugte sich zu Sarie hinunter. »Haben Sie etwas gefunden?«
»Ich weiß nicht«, antwortete sie, legte die Unterlagen nebeneinander auf den Holzboden und begann sie durchzusehen. »Ja! Hier – ein Parasit, der Tobsucht und Kopfhautblutungen hervorruft. Die Leute hier kennen die Krankheit offenbar und glauben, die Betroffenen wären von Dämonen besessen. Die Infektion ist in einem Dorf vierzig Kilometer von hier aufgetreten, und die Sterblichkeitsrate scheint hundert Prozent gewesen zu sein. Keiner der Einheimischen hat sich auch nur in die Nähe gewagt, weil sie dachten, das Böse würde sie dann auch packen. Aber Dürnberg hat das Dorf auf eigene Faust gefunden. Er schreibt, es hätte dort ausgesehen wie in einem Kriegsgebiet. Niedergebrannte Hütten, verwesende Leichen überall …«
Sie verstummte und suchte nach dem nächsten interessanten Eintrag. »Okay, hier – eine Woche später. Er korrigiert sich und schreibt jetzt, dass die Sterblichkeitsrate doch nicht hundert Prozent betrage, nicht einmal annähernd.«
»Dann haben also einige der Dorfbewohner überlebt?«
»Ich habe nur gesagt, dass sie nicht an der Infektion gestorben sind. Offenbar wurden diejenigen, die davonkamen, von den umliegenden Stämmen getötet und verbrannt.«
»So wie Noahs Familie.«
»Genau. Hier steht, dass die Leute schon vor einigen Jahrhunderten von diesem Phänomen erzählt hätten. Und mit der Zeit entwickelte sich die Tradition, Leute zu töten und zu verbrennen, die man im Verdacht hatte, von Dämonen besessen zu sein. Ganz einfach, weil es funktioniert hat.«
»Eine primitive Quarantänemaßnahme«, meinte Smith.
Sie suchte weiter in den Papieren und zog schließlich ein Blatt aus einem Stapel rechts von ihr heraus. »Jon! Sehen Sie sich das an.«
Er beugte sich zu ihr und betrachtete eine sorgfältig gezeichnete Karte, auf der das Haus, in dem sie sich befanden, in einer Ecke eingezeichnet war.
»Er spricht von einem Höhlensystem, in dem ein Tier leben soll, das den Parasiten übertragen kann. Er ist der Sache nachgegangen und hat Proben von verschiedenen Insekten, Reptilien und Säugetieren genommen.«
»Hat er gefunden, was er suchte?«
Sie blätterte weiter, doch es kam nichts mehr. Die folgenden Seiten waren alle unbeschrieben. »Es sieht so aus.«
Smith stieg die Treppe hinunter, ging auf die Veranda hinaus, an Howell vorbei und noch etwa fünfzig Meter weiter, ehe er sein Satellitentelefon hervorzog. Fred Klein meldete sich beim ersten Klingeln.
»Jon. Sind Sie okay?«
»Mir geht’s gut. Wir haben etwas.«
»Ich höre.«
»Wir sind auf Dürnbergs Farm und sehen uns gerade seine Tagebücher an. Er hat offenbar gedacht, dass die Infektion von einem Höhlensystem ausgeht, ungefähr fünfunddreißig Kilometer nordöstlich von hier. Wir fahren gleich heute Morgen hin und sehen, ob wir ein paar Proben sammeln können.«
»Ist das sicher?«
Smith lachte leise, auf die Leute Rücksicht nehmend, die schon schliefen. »Abgesehen von Bahames Guerillas, einem unerforschten und wahrscheinlich instabilen Höhlensystem, Löwen, Nilpferden und diesem Parasiten sollte es ein Kinderspiel sein.«
Klein ignorierte die Bemerkung. »Sie denken also, Dürnberg hat vielleicht recht gehabt?«
»Es klingt plausibel, nach dem wenigen, das wir wissen. Es können Jahre vergehen, ohne dass die Krankheit auftritt, dann verirrt sich irgendjemand in eine der Höhlen, aus welchem Grund auch immer, und kommt in Kontakt mit einem Überträger. Hören Sie, Sie müssen Billy Rendell vom CDC anrufen und ihm davon erzählen. Wenn dieser Parasit sich bei uns ausbreitet, brauchen wir einen Plan zur Eindämmung, und er ist der Beste in dem Geschäft.«
»Rendell«, erwiderte Klein nachdenklich. »Kann man ihm vertrauen?«
»Billy weiß, wie man die Sache unter Verschluss hält. Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«
»Sorgen muss ich mir nur um Sie machen.«
»Tja. Wenn Sie in zwei Tagen nichts von uns hören, dann haben wir Probleme hier und Sie müssten dran denken, vielleicht schwerere Geschütze aufzufahren – eine Militäreinheit, die das Gebiet abriegelt, und ein voll ausgerüstetes Team, das in die Höhlen geht.«
»Ich verstehe, Jon. Aber wir sind in einer heiklen Position – nicht nur mit den Iranern und den Afrikanern, sondern auch mit Covert One selbst. Ich glaube, die CIA hat schon einen Verdacht, dass da ein neuer Spieler mitmischt, und wir müssen gut aufpassen, dass wir uns nicht verraten.«
»Wenn wir’s mit diesem Parasiten zu tun bekommen, Fred, dann ist das unser geringstes Problem.«
»Ich treffe mich morgen mit dem Präsidenten. Dabei werde ich auch Ihren Vorschlag erwähnen. Aber die Glaubwürdigkeit Amerikas ist im Moment nicht so besonders, wenn es um Fragen des Nahen und Mittleren Ostens geht – weder im Ausland noch zu Hause. Wenn wir etwas gegen den Iran unternehmen oder Soldaten nach Afrika schicken wollen, dann brauchen wir etwas Konkretes. Außerdem braucht es etwas Zeit, eine solche Operation vorzubereiten …«
»Ich weiß, Fred. Aber mir geht dieses Video nicht aus dem Kopf, und ich stell mir dauernd vor, so etwas passiert in New York oder London.«
»Ja«, antwortete Klein leise. »Ich auch.«