Kapitel einundfünfzig
NORDUGANDA
27. November, 21:53 Uhr GMT+3
Jon Smith hielt das Schloss, und Howell sägte. Beiden war bewusst, dass die Zeit nicht mehr ausreichen würde. Die infizierte Frau rührte sich kaum noch; sie würde bald tot sein, und das hieß, der Parasit brauchte einen neuen Wirt.
Aus dem Gang waren Schritte zu hören, und Howell schob das Sägeblatt hinten in seine Hose, während sie vom Gitter zurücktraten. Im nächsten Augenblick tauchte Bahame mit seinen Leuten auf, denen er so sorgfältig beigebracht hatte, wie man Gefangene in die Zellen brachte und wieder herausholte.
»Doctor, Sie dürfen entscheiden, wer zuerst zu ihr geht. Sie oder Ihr guter Freund Peter?«
Howell zuckte nur mit den Achseln. Er würde sicher nicht die letzten paar Stunden seines Lebens in einer schmutzigen Zelle verbringen und den Verstand verlieren. Er würde es vorziehen, noch ein letztes Manöver zu wagen, auch wenn es letztlich zwecklos war. Smith fragte sich, ob er es ebenso machen würde. Die Vorstellung, ein paar schnelle Kugeln in die Brust zu bekommen, war ihm seltsamerweise immer tröstlicher erschienen, je länger sie hier gefangen waren, doch war er dazu ausgebildet, niemals aufzugeben. Konnte er in vollem Wissen, was passieren würde, auf ein geladenes AK-47-Gewehr zulaufen?
»Es tut mir leid«, sagte er und klopfte Howell auf die Schulter. »Das war vielleicht ein Abenteuer zu viel.«
Der Brite lächelte. »Ich hab dir ja gesagt – Leute wie wir werden nicht alt. Wir …«
Ein dumpfer Knall ließ ihn verstummen, gefolgt von drei weiteren Explosionen, die den Boden so heftig erschütterten, dass sich Smith mit der Hand am Fels abstützen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Im nächsten Augenblick setzte automatisches Gewehrfeuer ein, und Bahame rief ein paar rasche Befehle, ehe er zum Gang eilte.
Eine weitere Explosion erschütterte die Höhle, und Smith riss den Arm vors Gesicht, als ein Teil der Decke einstürzte und eine dicke Staubwolke aufwirbelte, die alles um sie herum einhüllte. Er stürzte zum Gitter, in der Hoffnung, dass die Stäbe durch die Detonationen gelockert worden waren, doch Howell riss ihn zurück, als die infizierte Frau gegen das rostige Eisen krachte. Offensichtlich war sie aus ihrer Zelle entkommen.
»Pass auf deine Augen auf, und auf kleine Wunden, wenn du welche hast«, rief Smith, während sie sich an die Felswand drückten, um nicht mit dem Blut in Berührung zu kommen, das von ihrem ausgestreckten Arm tropfte.
Sie brauchte nur wenige Sekunden, um zu merken, dass sie nicht an sie herankam, also drehte sie sich um und rannte durch die Staubwolke auf die anderen Männer in der Kammer zu. Bahame war gestürzt und gerade dabei, wieder auf die Beine zu springen, als er sie kommen sah. Einer der Wächter und der Junge hatten bereits die Flucht ergriffen, und auch der zweite Wächter wollte gerade im Gang verschwinden, als Bahame ihn zurückriss und gegen die Frau warf. Sie stieß einen schaurigen Jubelschrei aus, als sie gegen ihn stieß – ein Schrei, in dem sich die ganze quälende Frustration entlud.
Der junge Wächter brüllte um Hilfe, als sie mit ihren Händen nach ihm krallte, doch der Mann, den er wie einen Gott verehrte, war schon fort.
Der Kampflärm draußen vor der Höhle wurde plötzlich vom ohrenbetäubenden Krachen eines Automatikgewehrs übertönt, dessen Kugeln vom Fels abprallten. Smith und Howell warfen sich auf den Boden, als es dem Wächter schließlich gelang, den Lauf seiner Waffe auf die Brust der Frau zu richten. Sie zuckte noch einmal, als er abdrückte, dann erschlaffte sie und sank zu Boden.
Smith sprang auf und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Gitter. Obwohl die Kugeln und die Explosionen einigen Schaden angerichtet hatten, gaben die Eisenstäbe nicht nach.
»Hey!«, rief er dem blutverschmierten Wächter zu, der auf die Leiche der Frau hinunterstarrte. Die Verzweiflung in seinen Augen war so groß, dass sie auch in dem dichten Staub deutlich zu erkennen war. Groß genug, um sie sich zunutze zu machen.
»Hey!«, rief Smith noch lauter, um den Gefechtslärm von draußen zu übertönen. »Sprichst du Englisch?«
Der junge Mann blickte in den Gang, der ins Freie führte, dann zu Smith zurück. Er nickte kurz, wirkte aber immer noch wie gelähmt.
»Ich bin Arzt. Du hast doch gehört, was Bahame selbst gesagt hat. Es ist kein Zauber – es ist nur eine ansteckende Krankheit. Ich kann dich heilen.«
»Du … du kannst mir helfen?«, kam seine Stimme mit starkem Akzent.
»Ja«, log Smith. »Du musst mich nur herauslassen.«
Der Mann blickte erneut unschlüssig in den Gang hinaus.
»Bahame ist weggelaufen wie ein Weib. Du hast gesehen, dass er Angst hatte. Er hat gar keine Macht über diese Krankheit. Ich schon.«
Die westliche Medizin stand bei den meisten Afrikanern in hohem Ansehen, und zu seinem Glück war dieser Mann keine Ausnahme.
»Geh zurück«, sagte er, richtete sein Gewehr auf das Schloss und gab einen kontrollierten Feuerstoß ab. Smith trat die Tür auf und atmete die staubige Luft tief ein. Sie waren draußen. Wahrscheinlich nur, um in dem Gefecht vor der Höhle zu sterben, aber wenn es schon sein musste, dann wenigstens unter freiem Himmel, und nicht hier drin eingesperrt.
Der Wächter richtete seine Waffe auf ihn und deutete mit einem Kopfnicken auf die medizinischen Instrumente, die auf dem Boden herumlagen. »Tu es. Heile mich.«
»Ich brauche …«
»Nicht reden!«, rief er und zielte direkt zwischen Smiths Augen. »Du heilst mich jetzt sofort. Ich will nach Hause. In mein Dorf. Zu meiner Familie.«
Eine Explosion ließ Smith zusammenzucken, und er blickte zu dem breiten Spalt hinauf, der sich über ihnen auftat. Sie mussten schnell handeln, solange sich die Chance bot.
Er ließ sich auf ein Knie nieder, suchte am Boden herum und griff schließlich nach einer Spritze. Als er aufstand, sah er, dass sich die Aufmerksamkeit des Mannes ausschließlich auf ihn richtete – offensichtlich von der tiefen Sorge erfüllt, er könnte ebenso enden wie die tote Frau am Boden. Er merkte nicht, dass sich Howell lautlos von hinten näherte, einen Felsbrocken in der Hand. Smith fummelte mit der Spritze herum, und der junge Mann beobachtete ihn angespannt, ehe Howell mit zwei schnellen Schritten bei ihm war.
Im nächsten Augenblick war alles vorbei. Der Wächter, den Bahame wohl schon als Kind verschleppt hatte, würde nie mehr in sein Dorf zurückkehren. Er würde seine Familie nicht wiedersehen.
Smith nahm das Gewehr des Toten und folgte Howell in den Gang hinaus. Nach wenigen Sekunden hatten sie die Höhlenmündung erreicht, und sie drückten sich zu beiden Seiten gegen die Felswand und versuchten das Chaos zu überblicken. Die drei Hubschrauber waren vom Aufblitzen ihrer Maschinenkanonen erhellt, während sie alles unter sich niedermähten – Bäume, fliehende Soldaten, Kinder. Die Kampfflugzeuge, die den anfänglichen Bombenangriff durchgeführt hatten, zogen sich nach Süden zurück, doch Smith fragte sich, ob sie nicht vielleicht wiederkommen würden.
Überall lagen zerschmetterte, halb verbrannte Leichen, und die überlebenden Soldaten, die nun ohne Anführer waren, eilten zu offenen Kisten mit Waffen, von denen sie nicht zu wissen schienen, wie man sie bediente.
Smith sprang zu Howell hinüber. »Wir müssen unseren Wagen finden«, rief er, um sich bei dem Lärm verständlich zu machen. »Omidi hat einen großen Vorsprung, aber damit könnten wir ihn noch einholen.«
Der Brite schien ihn gar nicht zu hören; er überblickte das Bild der Verwüstung, als würde er etwas Bestimmtes suchen.
»Peter! Bist du …«
»Da!«, rief der Brite und zeigte auf die Westseite der Lichtung. Eine kleine Gruppe von Soldaten eilte in dichter Formation am Waldrand entlang. Und jetzt sah Smith auch, was sein Freund so interessant gefunden hatte: Die grauen Haare von Caleb Bahame leuchteten im Feuerschein, während er dem Desaster zu entgehen versuchte, das ihm sein Deal mit den Iranern eingetragen hatte.
Howell lief ohne zu zögern über die Lichtung, zwischen den Leichen und den verwirrten Soldaten hindurch, und schnappte sich eine Machete, die am Boden lag. Smith stieß einen leisen Fluch aus und folgte ihm, das Gewehr im Anschlag, obwohl er nicht einmal wusste, ob noch Munition im Magazin war.
Zum Glück kümmerten sich die Leute um sie herum mehr um ihr eigenes Überleben als um zwei Weiße, die sich aus dem Staub machten, und Smith stürmte wenige Sekunden nach Howell und Bahame in den Dschungel.
Als er an den Rand einer kleineren Lichtung kam, blieb er stehen, um sich nach feindlichen Soldaten umzusehen. Schockiert nahm er wahr, wie Howell einfach in die Lichtung hinausstürmte. Am westlichen Rand waren die schattenhaften Gestalten von drei jungen Soldaten zu erkennen, vor einem Gebilde, das wie ein Carport aus Weinreben und Blättern aussah. Darunter leuchteten plötzlich die Lichter des Trucks auf, den sie in Kampala gekauft hatten.
Bahame saß bereits hinter dem Lenkrad, und Smith hörte das vertraute Brummen des Motors, doch er konzentrierte sich ganz auf die wilden Schüsse, die die verängstigten Jungen auf den verrückten Weißen abgaben, der mit seiner Machete auf sie zugerannt kam.
Smith feuerte ein paarmal über ihre Köpfe, erleichtert, dass das Magazin noch nicht leer war.
»Lauft!«, rief er und winkte mit den Händen.
Doch sie rührten sich nicht von der Stelle, sondern feuerten weiter verzweifelt in Howells Richtung. Keine der Kugeln schien auch nur in seine Nähe zu kommen, doch das würde nicht ewig so bleiben.
Smith schaltete seine Waffe auf Halbautomatik um und zuckte zusammen, als er einen von ihnen in die Brust traf – ein Junge, der in Amerika wohl gerade mit der Highschool begonnen hätte. Die beiden Überlebenden hatten jetzt offenbar genug. Der eine rannte an den Bäumen entlang nach Osten und verschwand schließlich im Wald, hoffentlich auf dem Weg in sein Heimatdorf. Der andere wählte eine Richtung, die ihm kein Glück brachte – er eilte zum Land Cruiser, als Bahame gerade den Rückwärtsgang einlegte.
Die hintere Stoßstange erwischte ihn an den Beinen, und er geriet unter die Räder, als Bahame zu einem schmalen Erdweg zu gelangen versuchte, der in den Dschungel führte. Smith gab einen gezielten Schuss ab, als Bahame den ersten Gang einlegte. Die Kugel durchschlug das Fenster auf der Fahrerseite, einen Sekundenbruchteil bevor Howell bei der Tür war und die Scheibe zertrümmerte.
Das Mündungsfeuer einer Waffe blitzte aus dem Wageninneren auf, und der Brite stürzte und landete rücklings auf dem Boden. Smith feuerte noch einmal, doch die Kugel strich an Bahame vorbei und schlug ein Loch in die rechte Seite der Windschutzscheibe. Der Afrikaner blickte in seine Richtung und erkannte, dass ihn der nächste Schuss töten würde. Er duckte sich, riss die Beifahrertür auf, schlüpfte hinaus und verschwand in der Dunkelheit.
»Peter! Bist du okay?«
Der SAS-Mann rappelte sich gerade hoch, als Smith bei ihm war. Wie durch ein Wunder war er nicht getroffen worden, doch er hatte Schmauchspuren im Gesicht, und seine Augen tränten heftig.
»Kannst du etwas sehen?«, fragte Smith und suchte kurz den Himmel nach Kampfhubschraubern ab, bevor er sich Howell zuwandte und sich sein Auge ansah.
»Ja, ich kann sehen«, erwiderte Peter und riss sich los. »Mir fehlt nichts.«
Sie hatten keine Zeit für lange Diskussionen, also riss Smith die Tür des Land Cruisers auf und setzte sich ans Lenkrad. »Der Schlüssel ist da, und der Tank ist voll. Steig ein. Ich fahre.«
Doch Howell drehte sich um und hob die Machete auf, die ihm aus der Hand gefallen war. »Fahr schon voraus, ich komme nach.«
»Verdammt, was soll das, Peter? Steig in den verdammten Wagen.«
»Tut mir leid, Jon.«
»Es tut dir leid? Ich hab dich nicht mitgenommen, damit du irgendeine persönliche Rechnung begleichst. Omidi hat den Parasiten und jemanden, der daraus eine Massenvernichtungswaffe machen kann …«
»Erzähl du mir nichts von persönlichen Motiven, Jon. So schlimm es gewesen wäre – aber wir hätten Sarie nicht lebend aus der Höhle hinauslassen dürfen, das weißt du genauso gut wie ich. Du musst allein fahren, Kumpel.«