Kapitel zweiundfünfzig
NORDUGANDA
27. November, 22:26 Uhr GMT+3
Peter Howell sprang über einen halb verrotteten Baumstamm und zögerte kurz, als eine Gruppe von Bahames Soldaten vor ihm auftauchte. Keiner dachte daran, zu feuern, sie stoben unter panischen Schreien auseinander und verschwanden im Wald.
Ihr gottähnlicher Führer hatte sie verlassen, und die Truppen, die sie angriffen, waren keine unbewaffneten Dorfbewohner, wie sie es gewohnt waren. Soweit er das erkennen konnte, hatte Uganda seine gesamten Luftstreitkräfte aufgeboten und setzte sein volles Arsenal an Raketen und Maschinengewehren ein. Hinter ihm brannte der Dschungel, die undurchdringliche Feuerwand reichte bis zu dreißig Meter in die verschleierte, nach Chemikalien riechende Luft empor.
Bestimmt liefen die meisten von Bahames Anhängern nach Osten zum Fluss hinunter. Das Gelände war dort leichter zu bewältigen, und der Fluss hielt das Feuer auf – trotzdem war es ein fataler Fehler. Die Ugander hatten ihre Truppen gewiss am anderen Ufer postiert, was diese verängstigten Kinder erst bemerken würden, wenn es zu spät war.
Howell entdeckte einen großen Blutfleck auf einem Blatt und lief nach links weiter. Der Wind war im Moment auf seiner Seite, aber wenn er drehte, würde er ziellos in dickem Qualm herumirren. Doch er war zu nahe am Ziel, um sich davon aufhalten zu lassen.
Hinter sich hörte er einen Hubschrauber näher kommen, doch er lief weiter, bis er das Knattern der Rotoren in der Brust spürte. Die Leute, die zuvor an ihm vorbeigelaufen waren, wurden von oben aufs Korn genommen, und er musste sich auf den Boden werfen, als eine der Bordwaffen in seine Richtung feuerte.
Die Kugeln pfiffen über ihn hinweg und knickten zentimeterdicke Äste ab. Er hörte die Schreie der getroffenen Kinder und wünschte ihnen einen schnellen Tod – weniger aus Mitgefühl als aus Eigennutz. Er hatte es zu eilig, um sich hier festnageln zu lassen. Bahame durfte nicht entwischen.
Sein Wunsch erfüllte sich, und er ignorierte die Schuldgefühle, als die Schreie verstummten und der Hubschrauber weiterflog. Er folgte der Blutspur – offenbar hatte er sich eine tiefe Schnittwunde zugezogen, als Smith die Scheibe zerschossen hatte. Dennoch wurde es immer schwerer, ihm zu folgen, je weiter er sich vom Licht des Feuers entfernte. Howell wusste, dass es nur eine Frage von Minuten war, bis sich die Blutspur in der Dunkelheit verlor.
Links und rechts von ihm stieg das Gelände steil an, als er in eine dunkle Schlucht eintauchte, deren Wände von Schlingpflanzen und Lianen überwuchert waren. Im vollen Bewusstsein, dass er hier leicht in eine Falle laufen konnte, blieb er nicht stehen und genoss das Brennen in seinen Beinen, den Pulverdampf des Schlachtfelds und das gelegentliche Aufleuchten von Bahames Blut. Schließlich zwang er sich doch, innezuhalten. Sein Drang, Bahame zu erwischen, war nahezu überwältigend – doch er musste auch darauf achten, nicht selbst erwischt zu werden.
Howell griff sich eine dicke Liane und zog sich daran den Abhang hinauf. Als er oben war, lief er die Schlucht entlang. Er kam langsamer voran, als er gehofft hatte, doch schließlich sah er, wie sich vor ihm etwas bewegte.
In dem schwachen Licht konnte er nichts erkennen. Er ging auf die Knie und kroch auf allen vieren weiter, während er den Gedanken verdrängte, dass es vielleicht nur ein Erdferkel war, auf das er zuschlich, während Bahame im riesigen Dschungel verschwand. Die Ungeduld trieb ihn zu einem zu hohen Tempo an, sodass man das Rascheln der Blätter meterweit hören konnte.
Ein Schuss krachte, und im nächsten Augenblick flammte der Schmerz in seiner Schulter auf. Er duckte sich hinter einen Baum. Seine Ausbildung legte einen taktischen Rückzug nahe, um Bahames Position zu bestimmen und festzustellen, wie schwer seine Verwundung war. Doch er ignorierte den Impuls und sprintete in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Der nächste Schuss verfehlte ihn, weil der Schütze offenbar im Laufen feuerte. Im nächsten Augenblick war eine dunkle Gestalt zu erkennen. Kein Kind. Ein ausgewachsener Mann im Tarnanzug. Bahame.
Howell achtete kaum auf die Kugeln, die links und rechts vorbeipfiffen, und stürmte weiter, als wäre er unverwundbar. Er nahm nichts mehr um sich herum wahr, nicht den Dschungel, nicht die Explosionen und die Hubschrauber. Er sah nur noch Bahame, und in diesem Moment war er von ihm besessen wie seine Jünger. Nichts zählte mehr für ihn außer diesem Mann.
Sie stießen am Rand der kleinen Schlucht aufeinander und stürzten beide durch die Lianen. Bahame schwang sein Messer, und Howell musste die Machete fallen lassen, um den Angriff abzublocken. Er ging mit seinen Daumen auf die Augen des Afrikaners los, doch der harte Aufprall schleuderte die Gegner wieder auseinander.
Von blinder Wut getrieben, hatte Howell nicht auf seine Atmung geachtet, deshalb raubte ihm der Aufprall für einige Augenblicke die Luft. Bahame erholte sich schneller und rappelte sich hoch, doch anstatt seinen Gegner zu erledigen, versuchte er, an den Lianen nach oben zu klettern.
Howell war froh, dass die Männer, die ihn einst ausgebildet hatten, das peinliche Schauspiel nicht sehen konnten, das sie beide boten – der benommene Afrikaner, der keine zwei Meter hinauf schaffte, ehe er zurück auf den Boden sank und es aufs Neue versuchte, und er selbst, wie er nach Luft schnappte wie ein sterbender Fisch.
Er bekam jedoch mit jedem Atemzug etwas mehr Sauerstoff in die Lunge, bis sein Kopf schließlich klar genug war, um zu der Machete zu kriechen, die er verloren hatte.
»Zu … spät, Caleb.«
Bahame blickte zurück, verlor den Halt und rutschte erneut herunter. Er versuchte nicht, wegzulaufen, sondern stand einfach nur da – verblüfft, dass ihm – einem Gott – das passieren konnte.
Er riss sein Tarnhemd auf, griff nach einem der Knochen, die er als Amulett am Hals trug, und schnitt sich damit quer über die Brust. Er verdrehte die Augen, dass das Weiße im flackernden Licht aufleuchtete, und stieß beschwörende Worte in seiner Muttersprache hervor.
»Willst du etwa Dämonen anrufen, damit sie mich töten?« , fragte Howell und spürte, wie sein Gleichgewichtsgefühl und seine Kraft zurückkehrten. Er testete seine rechte Schulter, indem er die Machete über den Kopf hob. Voll funktionstüchtig. Bahames Kugel hatte ihn nur gestreift.
»Weißt du, Caleb, in meinem Alter fürchtet man sich nicht mehr vor bösen Geistern.«