Kapitel neunundfünfzig

AUSSERHALB VON WASHINGTON D.C., USA

28. November, 02:57 Uhr GMT-5

 

 

Padshah Gholam sah auf seine Uhr, doch die Zeiger leuchteten nicht mehr. Nach dem Stand der Sterne musste es schon zwei Uhr vorbei sein, und die Schmerzen in seinem jungen Körper sprachen ebenfalls dafür.

Sein Training für diese Mission hatte fast mit dem Tag seiner Geburt in einem abgelegenen Gebiet von Zentralafghanistan begonnen. Die Berge des Hindukusch waren eine noch kargere Landschaft, doch man fand hier die gleiche durchdringende Kälte, die gleiche überwältigende Einsamkeit. Sein Vater, ein großer und frommer Mann, hatte ihm beigebracht, wie man sich lautlos und unsichtbar in der trostlosen Umgebung bewegte, wie man der Technologie der Amerikaner aus dem Weg ging und ihren Elitetruppen auflauerte, um zu verhindern, dass sie sein Land für das Christentum eroberten.

Als sein Vater starb, gaben die Amerikaner dem jungen Padshah ein Visum, um in Maryland zu studieren, weil sie tatsächlich dachten, er würde die Invasion der Ungläubigen gutheißen. Und er hatte alles ertragen – die arroganten Professoren, die Frauen, die schamlos neben ihm im Hörsaal saßen, die gottlosen Vorlesungen. In Wahrheit hatte er jedoch nur auf den Befehl zum Handeln gewartet. Auf diese Nacht.

Er hob den Arm und zog einen Zweig des Baumes zurück, auf dem er saß und das kleine Farmhaus beobachtete, das etwa hundert Meter entfernt stand. Es war teilweise vom Laub verdeckt, doch durch eine natürliche Lücke hatte er die Auffahrt und den vereisten Weg zur Haustür im Blick. Gott hatte wieder einmal für alles gesorgt.

Es begann wieder zu schneien, und er musste sich eingestehen, dass diese westliche Jagdkleidung viel besser war als das, was er in seiner Jugend getragen hatte. So viele seiner Feinde waren noch am Leben, weil seine Hand im entscheidenden Moment vor Kälte gezittert hatte. Aber heute Nacht würde ihm das nicht passieren.

Zum ersten Mal seit Stunden sah er Scheinwerfer aufleuchten, und er griff nach seinem Gewehr und beobachtete durch das Zielfernrohr den Wagen, der in die Auffahrt einbog. Die Autotür ging auf und die Innenraumbeleuchtung des Wagens erhellte einen blonden Haarschopf, als die Frau etwas wackelig aus dem Wagen stieg.

Wahrscheinlich betrunken, dachte er. Wer weiß, was sie anstellte, ohne einen Vater oder Ehemann, der sie beaufsichtigte? Genau das hatten die Amerikaner auch mit seinen Landsleuten vor; sie wollten ihnen ihre Identität rauben und ihre Töchter zu Huren machen. Wie kam ein Land, das nicht einmal seine Frauen im Griff hatte, auf die Idee, Afghanistan kontrollieren zu können?

Mit unsicheren Schritten ging sie über den rutschigen Boden in Richtung Haustür und stellte den Kragen ihrer langen Jacke auf. Das sollte die große Randi Russell sein? Die Frau, die so viele seiner Taliban-Brüder getötet hatte? Es fiel ihm schwer, diese Geschichten zu glauben, jetzt wo er sie in natura sah.

Sie hatte ihm ihr Profil zugewandt, und er wartete, bis sie die Haustür erreicht hatte, um ihren Rücken in aller Ruhe ins Fadenkreuz zu nehmen. Gholam holte tief Luft, hielt den Atem an und konzentrierte sich ganz darauf, die innere Aufregung zu unterdrücken.

Der Schuss donnerte unglaublich laut durch den sanft fallenden Schnee, er dröhnte durch den Wald und hallte schließlich in seinen Ohren nach. Russell stürzte nach vorn, prallte gegen die Tür und fiel in den Schnee, der sich am Wegrand aufgetürmt hatte.

Gholam schwenkte das Zielfernrohr über ihren blutigen Rücken und ließ das Fadenkreuz schließlich auf ihrem Hinterkopf ruhen. Er hatte ein stilles Gebet auf den Lippen – für die Männer, die wegen ihr gefallen waren –, als sich sein Finger erneut um den Abzug krümmte.

Das Krachen des zweiten Schusses hörte sich irgendwie falsch an, und statt den Stoß des Kolbens gegen die Schulter zu spüren, war da ein brennender Schmerz von den Holzsplittern, die seine Wange durchbohrten.

Er brauchte nur einen Augenblick, um zu begreifen, was geschehen war, warf sich nach rechts und entging nur knapp einer zweiten Kugel, die am Baumstamm explodierte. Die Äste und Zweige bremsten seinen Sturz vom Baum etwas, und so konnte er sich nach seiner Landung im Schnee sofort abrollen, aufspringen und loslaufen. Ein weiterer Schuss krachte hinter ihm, und er wartete darauf, dass ihn die Kugel zu Gott trug, doch sie zischte an ihm vorbei.

 

Randi Russell versuchte sich zu bewegen – ihr Instinkt drängte sie, in Deckung zu gehen. Sie hörte Stimmen und Schüsse, doch sie spürte ihre Arme und Beine nicht mehr. Der brennende Schmerz im Rücken war einem Gefühl der Taubheit gewichen, und sie konnte nicht einmal sagen, ob sie noch atmete. Der Schnee um sie herum hatte sich rot verfärbt. Was hatte das zu bedeuten?

»Randi!«

Sie fühlte sich schwerelos, als sie vom Haus weggeschleift wurde.

»Halt durch, Randi!«

Doch sie konnte nicht. Nicht diesmal. Sie schloss die Augen, und das Gefühl der Schwerelosigkeit wurde stärker. Sie hatten alles so sorgfältig geplant. Wie zum Teufel konnte es sein, dass sie nun mit dem Gesicht nach unten im Schnee lag?

 

Eric Ivers hatte Randis Kragen in der einen Hand und seine Pistole in der anderen. Er feuerte vage in die Richtung des Waldes, während der Mann, den er auf dem Dach postiert hatte, viel gezieltere Schüsse abgab.

»Wir sind fast da, Randi! Halt durch!« Eine rote Spur leuchtete im Schnee, als er sie hinter den Wagen schleifte. Seine Partnerin sprintete über die Straße und verschwand im Wald, als über Funk die Stimme seines Scharfschützen kam. »Ich hab ihn nicht mehr in der Schusslinie. Der Schütze ist unverletzt.«

Ivers stieß einen leisen Fluch hervor, während er Randi in der Auffahrt vorsichtig auf den Boden legte und überlegte, was er weiter tun sollte. Er verstand etwas vom Kämpfen, aber er war kein Sanitäter. Schließlich drehte er sie auf den Bauch, damit ihre Atemwege frei blieben, falls sie sich übergeben sollte, und lief seiner Partnerin hinterher.

»Karen, hast du etwas?«, sprach er in sein Kehlkopfmikro.

»Die Spur ist leicht zu verfolgen in dem frischen Schnee. Aber ich könnte Unterstützung gebrauchen.«

»Bin schon unterwegs.«

Ivers tauchte etwa fünfundzwanzig Meter südlich von ihr in den Wald ein, auch wenn die Bäume hier nicht so dicht standen, doch er ging das Risiko ein, weil er dadurch schneller vorankam.

Er sah Mündungsfeuer aufblitzen, und wenige Augenblicke später hörte er Karens Stimme über Funk. »Ich hab ihn!«, meldete sie. »Der Schütze ist getroffen. Ich wiederhole, der Schütze ist getroffen.«

Ivers kam von der Seite heran und sah, wie sie auf einen Mann zukroch, der quer über einem vereisten Baumstamm lag. Er versuchte sich aufzusetzen, und sie forderte ihn mit scharfer Stimme auf, liegen zu bleiben.

Der Mann war zu schwach, um das Gewehr noch zu benutzen, und ließ es fallen. Er drehte sich nach links, um seine Hände vor Karen zu verstecken. Aus der anderen Richtung sah Ivers jedoch, wie er ein metallisches Röhrchen aus der Tasche seiner Tarnjacke zog.

»Eine Bombe!«, rief Ivers. »Karen – runter – schnell …«

Er bedeckte seine Augen, um sie vor dem grellen Blitz zu schützen, und warf sich in den Schnee, als ein heißer Sturm über ihn hinwegfegte.

Als er aufblickte, lag seine Partnerin am Boden, offensichtlich verletzt, aber immerhin noch in der Lage, zittrig mit dem Daumen nach oben zu zeigen. Zufrieden, dass sie okay war, wechselte Ivers an seinem Funkgerät auf einen zweiten, verschlüsselten Kanal.

»Mr. Klein. Sind Sie da?«

»Ich höre. Was gibt’s?«

»Randi wurde getroffen – eine Kugel zwischen die Schulterblätter. Vom Schützen ist nicht mehr viel übrig – er hat sich in die Luft gesprengt.«

»Wie konnte er nahe genug an die Hütte herankommen, um einen Schuss anzubringen?«

»Ich weiß es nicht, Sir. Aber ich übernehme die volle Verantwortung. Der Rest des Teams hat keine Fehler gemacht.«

»Es ist jetzt nicht die Zeit für Schuldzuweisungen, Eric. Ist eure Situation stabil?«

»Wir haben hier ein Feuer durch die Explosion, Mr. Klein. Ich weiß nicht, ob es der Schnee aufhalten wird.«

»Verstanden. Wir haben einen Hubschrauber in der Nähe. Brennt die Hütte nieder, Randis Wagen ebenso – und dann nichts wie weg. Je besser wir verbergen können, was dort passiert ist, umso mehr Zeit gewinnen wir.«

Die Ares Entscheidung
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