Kapitel einundsechzig
ÜBER NORDÄTHIOPIEN
27. November, 13:12 Uhr GMT+3
Jon Smith stieg über Dahabs Leiche, die in einem Müllsack steckte, und warf einen Blick durch die offene Toilettentür. »Bist du okay, Peter?«
Howell stand über das Waschbecken gebeugt und stützte sich mit beiden Händen auf. Als er etwas sagte, lief ihm das Wasser rot aus dem Mund.
»Mir geht’s prima, danke der Nachfrage.«
»Glaubst du, dass sein Blut in eine Wunde gekommen ist?«
»Verdammt, wie soll ich das wissen? Ich hab am ganzen Leib keinen Quadratzentimeter, der noch heil ist.«
»Ja …«
»Und wie steht’s mit dir?«
»Genauso.«
»Na ja, dann werden wir’s ja bald wissen.«
Der Pilot hatte getan, was er konnte, um die Passagiere zu beruhigen; er hatte ihnen gesagt, dass Dahab ein Drogenschmuggler sei, der wegen Mordes gesucht wurde, und dass sie von Interpol wären, was jedoch nicht jeden an Bord überzeugte. Aufgeregtes Geflüster steigerte sich zu lauten Diskussionen in verschiedenen Sprachen, die immer hitziger wurden. Zehn Reihen weiter vorne waren zwei Männer nahe daran, handgreiflich zu werden, und die Situation im Flugzeug drohte zu eskalieren. Als einer der Männer in den Schoß der Frau hinter ihm gestoßen wurde, trat Smith durch den Vorhang und klopfte laut gegen die Wand.
»Hallo! Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«
Es wurde augenblicklich still im Flugzeug, und alle Augen richteten sich auf ihn.
»Mein Name ist Jon Smith – ich bin Arzt bei der U.S. Army. Wenn Sie mir eine Minute zuhören würden, dann kann ich Ihnen erklären, was vorgefallen ist.«
Seine Stimme klang nicht ganz so ruhig und kontrolliert, wie er gehofft hatte, aber im Grunde konnte er froh sein, überhaupt sprechen zu können. Er konnte Dahabs Griff um seinen Hals immer noch spüren.
»Der Mann, der getötet wurde, war ein Terrorist.«
Sofort wurde es wieder laut in der Kabine, und die Leute schleuderten ihm ihre aufgeregten Fragen entgegen: Konnte es sein, dass er Komplizen im Flugzeug hatte? Gab es eine Bombe? Warum hatte man ihn überhaupt an Bord gelassen?
Smith wartete, bis sich das Stimmengewirr legte, ehe er die Geschichte wiedergab, die er schon der Crew erzählt hatte.
»Er war nicht bewaffnet, und es gibt auch keine Bombe. Er hatte eine besonders schwere Form der Tuberkulose, die er in Europa verbreiten wollte.«
Sofort schlugen ihm neue Fragen entgegen, in denen sich die Angst der Leute ausdrückte.
»Bitte! Lassen Sie mich ausreden. Ich möchte betonen, dass diese Form der Tbc mit speziellen Antibiotika gut behandelt werden kann. Diese Antibiotika sind jedoch sehr teuer, und wir haben nur einige Tausend Dosen davon vorrätig. Im Falle einer Pandemie hätten wir also ein sehr ernstes Problem, aber für die Passagiere dieses Flugzeugs besteht kein Grund zur Sorge. Wir werden gerade zu einem Marinestützpunkt umgeleitet, wo bereits amerikanische Spezialisten auf uns warten. In dem extrem unwahrscheinlichen Fall, dass sich jemand unter Ihnen angesteckt haben sollte, werden Sie die nötigen Medikamente bekommen und müssen sich überhaupt keine Sorgen machen.«
Jon Smith stand ganz hinten im Cockpit und blickte durch die Frontscheibe nach draußen. Drei C-5-Transportflugzeuge waren bereits gelandet, und Sanitätszelte wurden aufgestellt. Auf der Landebahn waren verschiedene Militärfahrzeuge aufgereiht, und grün gekleidete Gestalten huschten durch das Licht der Scheinwerfer. Das alles trug nicht gerade zur Beruhigung der Passagiere bei, doch darauf konnte man in dieser Situation keine Rücksicht nehmen.
Die Maschine setzte auf und ruckelte einige Male, ehe sie vor einer Stahlbarriere ausrollte. Als von allen Seiten bewaffnete Männer in Seuchenschutzanzügen auftauchten, wurden die aufgeregten Stimmen im Flugzeug so laut, dass sie fast das Klingeln des Satellitentelefons übertönten.
Smith meldete sich. »Ja?«
»Wie ist die Situation?«, fragte Fred Klein.
»Der Patient hat leider nicht überlebt. Wir haben die Leiche sicher verstaut.«
»Gefahr der Übertragung?«
»Für die Passagiere und die Crew minimal, würde ich sagen. Für mich und Peter mittel bis hoch.«
»Ich hole euch aus dem Flugzeug. Wir haben eine Situation, um die Sie sich kümmern müssen. Alle anderen bleiben erst einmal, wo sie sind, bis alles vorbereitet ist. Gehen Sie zur Tür beim Cockpit. Wir bringen eine Leiter hin.«
»Zwei Minuten noch«, erwiderte Smith. »Ich muss den Passagieren Bescheid sagen.«
»Zwei Minuten.«
Er ging zurück in die Kabine und sah, wie Peter nach vorne kommen wollte, während einige Leute ihn aufhielten und aufgeregt aus dem Fenster auf die Soldaten zeigten.
»Hallo! Darf ich noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«
Sie wandten sich alle ihm zu, und Howell nutzte die Ablenkung, um nach vorne zu humpeln.
»Peter und ich steigen jetzt aus«, begann Smith und wurde sofort von aufgeregten Stimmen unterbrochen.
»Beruhigen Sie sich und hören Sie mir zu! Wir zwei hatten direkten Körperkontakt mit dem Mann, deshalb ist bei uns die Wahrscheinlichkeit einer Infektion am höchsten. Wir müssen in Quarantäne, damit wir Sie nicht anstecken. Weiteres medizinisches Personal ist bereits auf dem Weg und wird sich um Sie kümmern.«
»Wann bekommen wir die Antibiotika?«, rief jemand.
»Sie werden sie höchstwahrscheinlich nicht brauchen, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass irgendjemand von Ihnen die Krankheit hat – die Ansteckungsgefahr ist bei dieser Form der Tbc nicht besonders hoch. Hören Sie, ich kenne viele der Ärzte, die Sie hier behandeln werden, und sie gehören zu den besten der Welt. Sie sind in guten Händen.«
Jemand pochte von draußen an die Tür, und er ging hin und öffnete sie. Als er hinausblickte, war der Mann, der geklopft hatte, schon wieder unten und zog sich hinter die Sandsäcke einer Maschinengewehrstellung zurück.
Einige der Passagiere eilten zur Tür, doch Howell hielt sie auf. »Bitte, halten Sie Abstand«, sagte er, während er rückwärts zur Tür ging. »Ich könnte infiziert sein.«
Das stoppte die Leute, und Smith stieg rasch die Leiter hinunter und versuchte, nicht an die MGs zu denken, die auf seinen Rücken gerichtet waren.