Kapitel vierundsechzig
OSTTÜRKEI
29. November, 08:20 Uhr GMT+2
»Ein Zug klingt höher, wenn er näher kommt, und tiefer, wenn er sich entfernt. Wie heißt dieses Phänomen?«
Jon Smith fuhr aus seinem Halbschlaf hoch und blinzelte einige Male. »Äh … der Doppler-Effekt?«
Der Mann hinter dem Lenkrad lächelte ihm im Rückspiegel zu, dann trat er das Gaspedal des Kombis bis zum Anschlag durch und fuhr mitten durch eine Schneewehe, die sich auf der steilen Bergstraße gebildet hatte.
Neunzehn Stunden waren vergangen, seit sie Dahab getötet hatten, doch Klein wollte kein Risiko eingehen. Er hatte ihrem Begleiter eine lange Liste von Fragen mitgegeben, die schon die ersten Anzeichen einer eventuellen Verwirrung zeigen sollten. Der Mann hatte außerdem klare Anweisungen, was er zu tun hatte, falls solche Anzeichen auftreten sollten.
Es war beinahe wie eine Gameshow der Hölle, in der es um alles ging. Eine falsche Antwort – und man bekam zwei Kugeln in den Kopf und eine Feuerbestattung irgendwo neben der Straße.
Das Fahrzeug schlingerte nach rechts und landete mitten in einer Schneewehe. Der Fahrer – er hatte sich als Nazim vorgestellt – warf frustriert die Hände in die Höhe. »Wie heißt es so schön? Endstation.«
Er drückte seine Tür auf, stieg aus und verzog das Gesicht, als ihm dicke Schneeflocken entgegenwehten. Smith wusste nichts über den Mann, außer dass er einer der vielen fähigen Agenten war, die in allen Teilen der Welt als freie Mitarbeiter für Fred Klein tätig waren.
Howell sprang ebenfalls aus dem Wagen und legte dem Türken den Arm um die Schultern, als sie zum Heck des Wagens gingen. Es tat gut, zu sehen, dass er wieder der Alte war. Bahame war tot, und die Zeit war verstrichen, in der die Symptome hätten auftreten müssen, falls sie sich infiziert hätten. Die Situation war praktisch wieder normal, zumindest für ihre Verhältnisse.
Ihre Skier und Rucksäcke lagen schon im Schnee neben dem Auto. Smith stieg nun ebenfalls in die Kälte aus und fühlte sich, als hätte ihn ein Sattelschlepper überfahren. Keine ernsten Verletzungen, aber genug blaue Flecken, Zerrungen und Abschürfungen, dass es für zwei Leben gereicht hätte. Noch dazu hatte er während des Fluges in die Türkei kaum ein Auge zugemacht, aus Sorge, ein erstes Anzeichen von Wut oder Verwirrung zu verpassen. Howell hingegen hatte mit der Whiskyflasche in der Hand friedlich geschnarcht und war nun im Gegensatz zu ihm ausgeruht.
»Das ist das Beste, was ich auftreiben konnte, ohne dass es nach Tarnkleidung aussieht.« Nazim reichte ihnen gebrauchte Kleider in den Farben Hellgrau und Weiß. Smith zog sich aus und ließ die wohltuende Kälte einige Augenblicke auf die Schwellungen an seinem Rücken und am Ellbogen einwirken, ehe er sich ankleidete.
»Ich habe die Skier selbst überprüft, sie sind in perfektem Zustand«, versicherte Nazim. »Das eine Paar Schuhe ist schon ein bisschen abgenutzt, aber man hat mir gesagt, dass das nichts ausmacht.«
Als Smith die Skischuhe sah, musste er lächeln. Es war immer wieder verblüffend, was Klein – oder wahrscheinlich eher Maggie Templeton – alles zuwege brachte. Es waren seine eigenen Skischuhe. Sie hatten sie aus seiner Garage geholt und rechtzeitig in die Türkei geschickt.
»Ihr müsst da lang.« Der Türke zeigte auf eine Schlucht zwischen zwei steilen Berghängen. Smith blickte in Richtung des Gipfels hinauf, der jedoch vom Schnee und den tief hängenden grauen Wolken verhüllt war.
»Die iranische Grenze ist ungefähr zehn Kilometer entfernt. Auch wenn sie keine festen Verteidigungsanlagen haben, gibt es regelmäßige Patrouillen. Eure Pässe und die anderen Papiere sind im Rucksack, und eure Tarnung als Abenteurer, die sich im schlechten Wetter verirrt haben, ist zwar wasserdicht, aber nicht unbedingt originell. Es ist besser, ihr vermeidet jeden Kontakt.«
»Was ist mit Farrokhs Leuten?«, fragte Smith, während er sich auf die Stoßstange setzte und in die Schuhe schlüpfte. Obwohl sich Howell erst vor wenigen Stunden mit Whisky hatte volllaufen lassen, befestigte er bereits Steigfelle an seinen Brettern, ohne die es unmöglich gewesen wäre, den steilen Hang hinaufzukommen.
»Sie wissen, dass ihr kommt, und auch, auf welcher Route.«
»Wie erkennen wir sie?«
Nazim überlegte einen Augenblick. »Sie werden euch wahrscheinlich nicht auf der Stelle umbringen.«
»Kein Codewort?«
»So gut ist unsere Kommunikation mit ihnen nicht. Sie läuft über zu viele Kanäle, um wirklich zuverlässig zu sein.«
»Na toll.«
»Der Türke knallte die Heckklappe des Wagens zu, als Smith aufstand; er hatte es offenbar eilig, von hier wegzukommen.
»Nazim, hast du eine Ahnung, wie der Schnee beschaffen ist? Ist die Schneedecke stabil?«
»Ich komme leider aus einem kleinen Dorf am Mittelmeer«, antwortete er und setzte sich hinters Lenkrad. »Schnee ist für mich Schnee, mehr weiß ich nicht.«
Der Motor brüllte auf, und er manövrierte den Wagen schaukelnd aus dem Loch, in dem die Räder versunken waren. Als er sich aus der Schneewehe befreit hatte, ließ er das Fenster herunter und winkte Smith zu sich.
»Mr. Klein hat gesagt, ihr habt viele Feinde. Vielleicht sogar in euren eigenen Geheimdienstbehörden. Gebt acht, wem ihr vertraut.«
Er fuhr los, doch nach wenigen Metern trat er abrupt auf die Bremse und lehnte sich aus dem Fenster. »Peter! Die Schlacht von Gaugamela 382 vor Christus. Wer hatte das größere Heer?«
»Darius. Und es war 331.«
Nazim zeigte noch einmal mit dem Daumen nach oben, ehe er im Nebel verschwand und den Wagen kontrolliert die abschüssige Straße hinunterschlittern ließ.
Smith schlüpfte in die Skibindung und vergewisserte sich, dass die Batterien in seinem Lawinensuchgerät voll aufgeladen waren. »Bist du so weit?«, fragte er.
»Absolut.«
Smith deutete mit einem Kopfnicken auf die Schlucht. »Alter vor Schönheit.«