Kapitel fünfundsechzig
ZENTRALIRAN
29. November, 10:44 Uhr GMT+3:30
Sarie van Keuren blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Sie hatte die vergangenen elf Stunden in einem Raum verbracht, der an einen Schlafsaal erinnerte, doch an Schlaf war nicht zu denken. Die Gedanken an De Vries, Smith und den Parasiten reichten aus, um sie für den Rest ihres Lebens wach zu halten.
Mehrak Omidi öffnete eine massive Stahltür, die wie all die anderen Türen aussah, durch die sie schon gegangen waren, und bedeutete ihr, einzutreten. Als sie zurückwich, packte er sie am Arm und schob sie hinein.
Es war nur ein einfacher Konferenzsaal mit einem großen Tisch in der Mitte. Offenbar gab es nicht genug Stühle, sodass einige der Anwesenden vor den Wänden standen. Manche der Gesichter drückten eiskalte Entschlossenheit aus, in anderen erkannte sie jedoch eine mühsam unterdrückte Angst.
Saries Blick war auf eine Plexiglaswand gerichtet, durch die man in einen kargen würfelförmigen Raum sah, in dem sich ein Mensch befand: Thomas De Vries.
Als er sie hereinkommen sah, stürmte er auf die durchsichtige Wand zu und krachte dagegen, den Mund zu einem stummen Schrei verzerrt. Er schlug sich das Gesicht blutig, als er durch die Scheibe zu gelangen versuchte, und frisches Blut rann über die bereits eingetrockneten Wunden.
Sie zwang sich, wegzusehen, und sagte sich, dass das Wesen dort in dem Raum nicht mehr der Mensch war, den sie in Uganda kennengelernt hatte. De Vries war nicht mehr da – Mehrak Omidi und die gleichgültige Grausamkeit der Natur hatten ihn zerstört.
»Ich möchte Ihnen Ihr Team vorstellen«, sagte Omidi, während er die Tür mit einem metallischen Dröhnen schloss, das etwas furchtbar Endgültiges hatte.
»Mein Team?«
»Die Männer, die Ihnen helfen werden, den Parasiten gefügig zu machen.«
Sie bekam die Namen der Leute kaum mit, während er sie durch den Raum führte, um ihr die Biologen, Chemiker und Labortechniker vorzustellen. Sie konzentrierte sich vielmehr darauf, ihnen in die Augen zu sehen, um irgendetwas Aufschlussreiches darin zu entdecken. Warum waren gerade sie ausgewählt worden, und nicht irgendjemand anders? Waren das die besten Köpfe, die es im Iran gab, oder einfach nur die regierungstreuesten?
Als er sie alle vorgestellt hatte, zeigte Omidi auf einen Aktenstapel mitten auf dem Tisch. »Sie haben alle meinen Bericht über den Parasiten gelesen, und sie kennen auch Ihre bisherige Arbeit und Ihren Ruf in der Welt der Wissenschaft.«
»Meine Arbeit und mein Ruf?«, erwiderte sie, doch es klang in ihren Ohren, als würde jemand anders sprechen. »Wovon reden Sie überhaupt? Und warum sind Sie alle hier?« Sie zeigte auf De Vries, der inzwischen erschöpft vor der Glasscheibe in die Knie gesunken war. »Seht ihr ihn? Sie wollen, dass ihr ihn zu einer Waffe macht. Eine Waffe, die gegen unschuldige Menschen eingesetzt werden soll.«
»Ihre moralische Entrüstung ist ja lobenswert«, erwiderte Omidi. »Aber haben Sie nicht gerade mit einem Mikrobiologen zusammengearbeitet, der am amerikanischen Forschungsprogramm für Biowaffen arbeitet, und mit einem ehemaligen Angehörigen des britischen Geheimdienstes?«
»Die USA haben kein Biowaffenprogramm«, entgegnete sie.
»Sind Sie da nicht ein bisschen naiv, Doctor? Die Amerikaner geben mehr für ihr Militär aus als der Rest der Welt zusammen. Sie sind das einzige Land, das jemals eine Atombombe im Krieg eingesetzt hat – und das hauptsächlich gegen Zivilisten.« Er sah seine Landsleute an, und ihr war klar, dass seine Worte vor allem an sie gerichtet waren. »Sobald sie sich von irgendeinem nicht christlichen Land provoziert fühlen, marschieren sie dort ein oder werfen ihre Bomben ab, manchmal auch ohne jeden Anlass. Glauben Sie wirklich, dass sie sich da irgendwelche Grenzen setzen und darauf verzichten, an der Entwicklung von Biowaffen zu arbeiten?«
»Selbst wenn das wahr wäre – warum müssen Sie es dann genauso machen?«
»Was wir hier entwickeln, wird nie eingesetzt, Doctor. Wir benutzen es lediglich zur Abschreckung – damit Amerika nie wieder versucht, uns unsere Freiheit zu rauben.«
»Wie kommen Sie darauf, dass sich der Parasit kontrollieren lässt? Wie wollen Sie verhindern, dass er jemand anderem in die Hände fällt? Dass er durch irgendeinen Zufall aus dieser Anlage hinauskommt? Wir müssen ihn vernichten. Er muss verschwinden.«
»Er kann nicht mehr verschwinden – das wissen Sie genau.«
»Das muss nicht sein. Sie …«
»Es reicht!«, fiel ihr Omidi ins Wort, offenbar am Ende seines belehrenden Vortrags angelangt. Er drückte auf den Knopf der Sprechanlage und sagte etwas, das Sarie nicht verstehen konnte. Es musste jedoch einigen Eindruck gemacht haben, denn die Anwesenden rutschten nervös auf ihren Plätzen hin und her und warfen einander unsichere Blicke zu.
Im nächsten Augenblick ging eine Tür an der Rückwand des verglasten Raumes auf und gab die Sicht auf einen Mann in einer Fahrstuhlkabine frei. Er war groß, kräftig und dunkelhäutig. In seinem mit einem dichten Bart bewachsenen Gesicht war keinerlei Angst zu erkennen, nur Zorn und Trotz.
De Vries hörte die Tür aufgehen und drehte sich um; im nächsten Augenblick sprang er auf und stürmte auf den Mann zu. Der Fremde konnte nicht mehr zurück, also trat er vor und hob die Fäuste.
Er war der Typ Mann, der in seinem Leben schon viele Gewalttaten gesehen – und wohl auch selbst begangen – hatte. Es war klar, dass er den blutenden alten Mann kaum als Bedrohung empfand.
Umso größer war sein Schreck, als er hochgehoben und gegen die Wand geschleudert wurde. De Vries krallte mit den Fingern nach seinen Augen, während der Mann einen Arm hochriss und sich an der Wand abstützte, um den Angreifer zurückzustoßen.
Das gab ihm den Raum, den er brauchte, um den Fuß hochzureißen und De Vries einen Tritt zu verpassen, der ihn auf dem glatten Boden zurückschlittern ließ. Er blieb jedoch auf den Beinen und stürmte erneut auf den Mann los – und diesmal warf er ihn zu Boden.
De Vries war nun nicht mehr aufzuhalten; er prügelte mit einer solchen Vehemenz auf den Mann ein, dass dieser sich kaum noch wehren konnte. Nach einer Weile ging die Fahrstuhltür auf und ein Mann in einem Schutzanzug trat heraus.
De Vries ließ von seinem Opfer ab, das schon am Rande der Bewusstlosigkeit war, und stürmte auf den Neuankömmling zu, ehe ein Schuss aufblitzte und ihn stoppte. Er ging zu Boden, schlug wild mit den Armen um sich, vermochte aber nicht mehr auf die Beine zu kommen.
Einige der Anwesenden stießen einen erschrockenen Laut aus, als noch ein Schuss krachte und den alten Mann mitten in die Brust traf. Schwer zu sagen, was größeres Entsetzen in ihnen auslöste – die Schüsse auf den wehrlosen Mann oder die Tatsache, dass De Vries immer wieder aufzustehen versuchte, bis das Magazin der Waffe leer war.
Rauch wirbelte durch den Raum, während De Vries’ Leiche zum Aufzug geschleppt wurde und der Mann am Boden auf die Glaswand zugekrochen kam. Seine rechte Wange war vom Mund bis zum Ohr aufgeschlitzt, und seine Nase war bis zum Knorpel aufgerissen. Mit einem stummen Flehen blickte er zu den Leuten herüber, die ihn aus der Sicherheit des Konferenzsaales beobachteten.
Sarie schluckte schwer und unterdrückte ihren Drang, sich zu übergeben.
»Ein Sträfling aus einem unserer Gefängnisse«, erklärte Omidi. »Wegen Vergewaltigung und Mord zum Tode verurteilt. Es wäre Zeitverschwendung, ihn zu bemitleiden. Sie sollten Ihre Zeit produktiver nutzen.«
Sarie hatte in ihrem Leben schon vielen Gefahren ins Auge geblickt, sowohl auf der Farm ihres Vaters wie auch später in ihrem Haus in der Nähe von Kapstadt. Doch es waren Gefahren, die sie kannte und mit denen sie umgehen konnte.
Das hier war etwas anderes. Sie sah keinen Himmel über sich, sie hatte kein abgenutztes Gewehr in der Hand – da war überhaupt nichts, was ihr vertraut war. Und sie hatte es nicht mit der Malaria zu tun, nicht mit einer Schlange oder mit einer Bande von gewalttätigen Männern. Nein, sie würde sich selbst verlieren, ihre Identität, und schließlich in einem Glaskäfig verbluten, während Omidis Leute sich Notizen machten.
Sie zwang sich, langsam und gleichmäßig zu atmen, so wie es die Psychologin ihr als Kind beigebracht hatte, und tatsächlich fühlte sie sich ein wenig ruhiger. Sie würde es nicht zulassen, dass Omidi mit Drohungen oder leeren Versprechungen ihren Widerstand brach. Es war kein Lohn zu erwarten, wenn sie ihm half – kein Rückflug nach Hause, keine Rettung. Ihr Leben war so oder so zu Ende. Die Frage war, was sie mit der Zeit machte, die ihr noch blieb.
Sarie behielt ihren geschockten, verängstigten Gesichtsausdruck bei, obwohl sie nur noch Zorn und Hass empfand. Das waren die Gefühle, die ihr helfen würden, es durchzustehen. Zorn und Hass.
»In Afrika breiten sich Krankheiten sehr schnell aus«, begann sie mit dem, was sie sich in den Stunden zurechtgelegt hatte, die sie eingesperrt war. »Aids ist ein gutes Beispiel dafür. Aber im Westen ist das anders. Dort sind die medizinischen Versorgungseinrichtungen auf einem sehr hohen Niveau und die Menschen wissen, wie man sich schützen kann.«
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Mann im Glaskäfig sie anstarrte, und sie verlor einen Moment lang den Faden.
»Sprechen Sie weiter«, forderte Omidi sie auf.
»Das erste Symptom der Infektion ist offensichtlich Verwirrung. Man wird die Leute über Fernsehen und Radio warnen, und da fast jeder in Amerika ein Haus, eine Waffe und ein Telefon hat, können sie entsprechend reagieren. Sie könnten sich irgendwo verbarrikadieren und infizierte Personen erschießen, sie können Rettung und Polizei rufen …«
Natürlich waren ihre Ausführungen reiner Unsinn. Die Phase der Verwirrung war nur kurz und würde in vielen Fällen gar nicht auffallen. Realistisch war eher, dass jemand sich in der Firma krank meldete, weil er sich nicht gut fühlte und die Symptome voll ausbrachen, während der Betreffende allein zu Hause und der Partner bei der Arbeit war. Die ersten Symptome konnten auch in der Nacht auftreten, während der Infizierte schlief. Die Krankenhäuser hätten es mit Tausenden von Betroffenen zu tun, ohne ihnen wirklich helfen zu können. Angehörige würden versuchen, ihre Lieben vor den Behörden zu schützen, denen irgendwann nichts anderes übrig bleiben würde, als zur Euthanasie zu greifen und die Infizierten zu erlösen, um die Ausbreitung einzudämmen. Und auch wenn tatsächlich viele Amerikaner eine Waffe besaßen – was würde ihnen das schon helfen? Viele würden es nicht über sich bringen, ihre Angehörigen zu erschießen, und andere würden in ihrer Panik auf alles feuern, was sich rührte.
Omidi nickte nachdenklich. Seine Schwäche war seine Arroganz und Frauenfeindlichkeit. Obwohl er nicht viel von Biologie oder Seuchenkontrolle verstand, würde er nie akzeptieren, dass irgendjemand klüger war als er – schon gar nicht eine Frau.
»Sie haben recht«, sagte er schließlich. »Deshalb kommt es nicht nur darauf an, dass der Parasit transportierbar gemacht wird – wir müssen auch erreichen, dass die Krankheit schneller und stärker ausbricht. Wir dürfen den Leuten keine Zeit geben, zu reagieren.«