Kapitel sechsundsechzig
LANGLEY, VIRGINIA, USA
29. November, 16:07 Uhr GMT-5
»Dann können wir uns also immer noch nicht sicher sein«, fasste Lawrence Drake zusammen, während er die Einsatzberichte von Polizei und Feuerwehr durchblätterte.
Dave Collen legte eine weitere Mappe auf den Schreibtisch. »Wir haben keine Leiche, wenn du das meinst. Aber die Ermittlungen laufen noch und werden einiges zutage bringen. Was wir wissen, ist, dass Russells Wagen dort war und dass sie seither niemand mehr gesehen hat. Die Cops glauben, dass sie im Haus war, als es niederbrannte.«
»Und was glaubst du?«
»Ich weiß es nicht. Wir haben das Haus nicht überwacht, um nichts zu riskieren. Wir wissen immer noch nicht genau, wie das Feuer ausbrach und was mit Gholam passiert ist. Vielleicht hat er kein Gewehr benutzt, sondern Sprengstoff, und sich dabei selbst in die Luft gejagt – zufällig oder absichtlich.«
»Das ist reine Spekulation, Dave.«
»Ich weiß, aber im Moment können wir nichts machen. Es ist natürlich möglich, dass Russell entkommen ist und sich versteckt, aber ich halte es für unwahrscheinlich. Der Anschlag wurde von einem Afghanen durchgeführt. Sie wird also versuchen, unsere Ressourcen zu nutzen, um herauszufinden, woher die Anweisung kam.«
»Es sei denn, Brandons Nachricht hat sie abgeschreckt.«
Collen nickte. »Leider kommt es noch schlimmer. Wir müssen nämlich davon ausgehen, dass die Iraner van Keuren haben.«
»Haben wir schon neue Opferschätzungen?«
»Selbst mit dem Plan, den wir haben ausarbeiten lassen, könnte die Zahl auf eine Million ansteigen – jetzt wo sie mit im Spiel ist.«
Drake atmete langsam aus und zeigte auf die Akte, die Collen ihm auf den Tisch gelegt hatte. »Smith und Howell?«
Sein Assistent nickte. »Sie waren in dem Flugzeug nach Brüssel, das zum Militärstützpunkt auf Diego Garcia umgeleitet wurde. Der offizielle Grund war ein Problem mit dem Navigationssystem. Nach dem wenigen, das wir vom Militärgeheimdienst rauskriegen konnten, war ein Sudanese mit einer unbekannten Infektion an Bord, der noch im Flugzeug getötet wurde. Die Passagiere werden noch untersucht, sollen aber bald entlassen werden.«
»Was ist mit Smith und Howell?«
»Sie sind mit einem Privatjet weitergeflogen, über den wir nichts wissen. Alle Spuren, denen ich nachgegangen bin, führen in eine Sackgasse.«
Castilla, dachte Drake. Bestimmt steckte der Präsident dahinter. »Wissen wir, wo sie jetzt sind?«
Collen klappte die Mappe auf und blätterte zu einem Satellitenbild, das einen kleinen Jet zeigte, der auf einem abgelegenen Flugplatz landete. »In der Türkei. Sie sind gleich nach der Landung in ein Auto gestiegen und zur iranischen Grenze gefahren. Der Satellit hat sie in der Wolkendecke verloren, als sie in die Berge fuhren. Als unser Mann hinkam, waren die Spuren schon verwischt. Er schätzt, dass sie mit dem Auto höchstens bis auf zehn Kilometer an die iranische Grenze herankamen, weil dort einfach zu viel Schnee liegt.«
»Was wollen sie dort?«
Collen zeigte mit dem Finger auf eine Karte der östlichen Türkei. »Smith und Howell sind höchstwahrscheinlich zu Fuß diese Schlucht hinaufgewandert.«
»Dann dringen die beiden also jetzt in iranisches Territorium ein. Der rätselhafte Dr. Smith und dieser ehemalige Agent vom MI6 … Die Anweisung dazu kann nur vom Weißen Haus kommen. Die Iraner haben vielleicht van Keuren, und Randi Russells Leiche hat auch noch niemand gesehen. Herrgott, Dave. Kann’s eigentlich noch schlimmer kommen?«
»Na ja, es gibt nicht nur schlechte Neuigkeiten. Selbst wenn Castilla wirklich dahintersteckt, muss er ziemlich verzweifelt sein, zwei Männer auf diese Art über die Grenze zu schicken. Wie sollen sie die Anlage finden, in die Omidi den Parasiten gebracht hat? Selbst wenn sie sie tatsächlich finden sollten – wie sollen sie ihn aufhalten?«
Beides interessante Fragen, aber Drake beschäftigte etwas anderes noch mehr. Die CIA wurde ganz offensichtlich nicht in den Plan eingebunden. Gewiss, Castilla hatte diesen Weg gewählt, um zu verbergen, dass er ein Team mit einer illegalen Mission beauftragt hatte. Trotzdem war es extrem beunruhigend.
»Haben wir irgendjemanden, den wir in diesem Teil des Irans einsetzen können?«
Collen nickte. »Sepehr Mouradipour. Ein ehemaliger Angehöriger der iranischen Sondereinsatzkräfte, der nicht weit von dort aufgewachsen ist.«
»Zuverlässig?«
»Wenn das Geld stimmt, ist auf ihn und seine Männer immer Verlass.«
Drake beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und starrte auf den Teppich hinunter. Er sah zwei Möglichkeiten. Er konnte aussteigen und die Tatsache, dass die CIA nichts von der drohenden Gefahr mitbekommen hatte, mit einem normalen Versagen in der Geheimdienstarbeit erklären. Oder er konnte dranbleiben und alles tun, um einen Feind zu vernichten, der möglicherweise gefährlicher war als Nazideutschland oder die Sowjetunion. Hitler hätte nie Amerika einnehmen können, und die Leute im Politbüro waren vor allem daran interessiert, ihre Datschen auf der Krim und ihre jungen tschechischen Geliebten nicht zu verlieren.
Aber diese Muslime waren anders. Sie verschafften sich Erstschlagwaffen, von denen Hitler nur träumen konnte, und hatten auch keinerlei Bedenken, selbst ausgelöscht zu werden, wie die Sowjets. In gewisser Weise forderten sie das geradezu heraus.
Schließlich blickte er zu Collen auf. »Zahl dem Kerl, was er verlangt, damit wir die zwei endlich los sind.«