Kapitel neunundsechzig
ZENTRALIRAN
1. Dezember, 22:06 Uhr GMT+3:30
Sarie van Keuren bewegte sich vorsichtig in ihrem Schutzanzug und blickte sich in dem offenbar in aller Eile notdürftig eingerichteten Labor um. Die Sicherheitsvorkehrungen waren äußerst lückenhaft und im Ernstfall möglicherweise wertlos.
Eines musste sie Omidi jedoch lassen. Er hatte dafür gesorgt, dass das Labor und so gut wie jeder andere Raum, den sie benutzte, eine Glaswand hatte, durch die man in die Zelle sehen konnte, in der das Opfer des Parasiten gefangen gehalten wurde. Eine ständige Erinnerung, wo sie landen würde, wenn sie nicht tat, was man von ihr verlangte.
Bei dem Mann, den Omidi einen Mörder und Vergewaltiger genannt hatte, waren die Symptome nun voll ausgebrochen, doch er zeigte noch keine Anzeichen von Schwäche. Sobald sie oder die Leute in den anderen Labors sich bewegten, stürmte er immer wieder gegen die Glaswand, um dem Parasiten einen neuen Wirt zu verschaffen.
Sie versuchte, nicht an ihn zu denken, doch das vermochte sie kaum zu beruhigen. Zwei Meter neben ihr lag De Vries’ Leiche auf einem Tisch – ohne Schädeldecke und mit einem Ausdruck der Wut auf dem Gesicht. Auf dem Fußboden hatte sich eine Blutpfütze gebildet, weil der Abfluss verstopft war, durch den das Blut wahrscheinlich unbehandelt in die Erde gelangte. Alles in allem war die Situation hier etwas besser als in Bahames Höhle, aber nicht viel.
Sie hatte gerade einen Querschnitt seines Gehirns unter dem Mikroskop studiert; einige ihrer Vermutungen hatten sich bestätigt, andere hatten sich überraschend als falsch erwiesen.
Der Parasit griff zuerst eine bestimmte Region des Frontallappens der Großhirnrinde an und unterband damit jedes zusammenhängende Denken, das es dem Betroffenen ermöglicht hätte, seine Emotionen im Zaum zu halten oder die möglichen Konsequenzen seiner Handlungen zu verstehen.
Noch interessanter war die Beschädigung der Spiegelneuronen, die wichtig für die Entwicklung von Empathie sind und mit dem Bezug zu den Mitmenschen zu tun haben. Sarie vermutete, dass der Parasit dem Betroffenen die Fähigkeit raubte, sich in nicht infizierte Mitmenschen hineinzuversetzen, während der Bezug zu anderen Infizierten erhalten blieb – was erklären würde, warum sie sich nicht gegenseitig angriffen.
Das Interessanteste waren jedoch die Blutungen. Die Kapillargefäße im Kopf platzten aufgrund der hohen Konzentration des Parasiten in dieser Region, und nicht unbedingt, weil sie von der Infektion direkt angegriffen wurden. Statt der üblichen Verbreitungswege wie Husten, Niesen oder Durchfall hatte der Parasit zu dieser Ansteckungsmethode gegriffen. Die Blutungen aus der Kopfhaut waren jedoch keineswegs so dramatisch, wie sie aussahen. Die Opfer starben nicht am Blutverlust, wie man zuerst angenommen hatte. Sie starben an der massiven Schädigung des Gehirns.
Der Parasit vermehrte sich ungehemmt, und sein genetischer Code schien beängstigend wandlungsfähig zu sein. Wurde die Konzentration in den Zielgebieten zu hoch, suchten sich mutierte Parasiten Wege in andere Teile des Gehirns und trieben dort ihr Unwesen. Schließlich beeinflussten sie auch autonome Funktionen wie die Herzfrequenz, die Körpertemperatur und die Atmung.
Positiv an dem Ganzen war, dass sie viel mehr über den Parasiten herausgefunden hatte, als in der kurzen Zeit zu erwarten war. Negativ war jedoch, dass sie nicht wusste, was sie mit ihren Erkenntnissen anfangen sollte.