Kapitel siebzig
ZENTRALIRAN
1. Dezember, 07:55 Uhr GMT+3:30
Der einzige freie Platz am Tisch war der am Kopfende neben Omidi. Entlang des Tisches saßen die »Abteilungsleiter« des Projekts, hochgebildete Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen. Keiner von ihnen war auf das Gebiet der Parasitologie spezialisiert, doch sie waren alle höchst kompetent, und das machte sie gefährlich.
»Dr. van Keuren«, hob Omidi an, als sie sich setzte. »Sie haben jetzt eine erste Autopsie von Thomas De Vries vorgenommen. Was haben Sie dabei herausgefunden?«
Sie war noch nie gut im Lügen gewesen, doch nun musste sie es rasch lernen, um zu überleben. Auf eine Rettung in letzter Minute brauchte sie nicht zu hoffen. Sie war ganz auf sich allein gestellt.
»Der Parasit vermehrt sich extrem schnell und passt sich erstaunlich gut an seine Umgebung an. Dadurch sollte er relativ einfach zu verändern sein. Will man zum Beispiel erreichen, dass die Symptome schneller auftreten, kann man sich mit Versuchstieren heranarbeiten und danach selektieren, wie schnell die Symptome jeweils einsetzen.«
Sie erzählte Omidi damit nichts, was ein Biologiestudent im zweiten Jahr nicht auch hätte wissen können, doch das schien ihm nicht aufzufallen. Vielleicht würde es leichter gehen, als sie gedacht hatte.
»Würde man damit eventuell auch die Zeit bis zum Tod verkürzen, Doctor? Und wenn ja, könnte das nicht die Ausbreitung des Parasiten beeinträchtigen, wenn die Wirte schneller sterben?«
Der Hoffnungsschimmer, der kurz aufgeflammt war, schwand wieder. Sie hatte gehofft, diese Frage so lange wie möglich hinausschieben zu können, weil sie hier zu Lügen greifen musste, durch die man ihr auf die Schliche kommen konnte. Omidi war zwar ein verdammter Hundesohn, doch er war keineswegs dumm, wie er soeben wieder einmal bewiesen hatte.
»Die Beeinträchtigung des Frontallappens der Großhirnrinde ist zwar mit Blutverlust verbunden, aber das ist nicht das Wesentliche. Das Ziel muss sein, dass der Parasit zielgerichteter agiert. Es könnte sogar sein, dass wir eine Verzögerung des tödlichen Blutverlusts erreichen, weil die Blutung nur ein sekundärer Effekt ist.«
»Sind Sie sicher, dass der Blutverlust die Todesursache ist?«
Seine Frage versetzte ihr einen Adrenalinschub, den sie zu überspielen versuchte. Konnte es sein, dass er etwas wusste?
»Die Betroffenen versterben wahrscheinlich vor allem an ihren Verletzungen und der Erschöpfung«, antwortete sie ausweichend.
»Aber abgesehen davon?«, bohrte er weiter.
»Ich … ich denke, dass der Blutverlust die logische Erklärung ist – aber damit habe ich mich nicht näher beschäftigt. Ich bin keine Neurologin.«
»Ah«, sagte er und zeigte auf den Mann zu seiner Rechten. »Zum Glück haben wir einen Neurologen hier. Yousef.«
Dr. Yousef Zarin war der einzige Angehörige ihres Teams, den sie nicht in eine der Kategorien hatte einordnen können, die sie selbst aufgestellt hatte. Die Männer, die sie für sich als Softies klassifizierte, waren im Allgemeinen glatt rasiert und hatten ein rundliches Gesicht; sie waren Akademiker und Forscher, die Omidi offenbar aus ihren ruhigen Jobs an einer Universität herausgerissen hatte, kurz bevor sie hergekommen war. Viele von ihnen schienen genauso viel Angst zu haben wie sie selbst; sie ließen manchmal vor Schreck etwas fallen, wenn man sich ihnen abrupt näherte.
Die zweite Kategorie waren die Gläubigen. Das waren drahtige Männer mit Vollbart, die auf ihren Gebieten vielleicht nicht solche Koryphäen waren wie die Softies. Sie schienen Omidi ebenfalls zu fürchten, jedoch auf eine respektvolle und ehrfürchtige Weise. Wenn er von der künftigen Macht des Iran und vom Niedergang des Westens sprach, begannen ihre Augen zu glänzen.
Und dann war da Zarin. Er war drahtig und trug einen prächtigen Bart, wodurch er eindeutig in die Gruppe der Gläubigen gehörte. Andererseits war er ein brillanter Kopf, und wenn er sich unbeobachtet fühlte, wirkte er ziemlich besorgt. Was er wirklich war, hätte sich eigentlich darin zeigen müssen, wie er sich gegenüber Omidi verhielt – doch auch in dieser Hinsicht war der Mann ein Rätsel. Er schien Omidi fast zu ignorieren.
»Es würde mich sehr interessieren, was Dr. Zarin herausgefunden hat«, sagte Sarie.
Er nickte und richtete seine dunklen, ruhig dreinblickenden Augen auf sie. »Ich glaube, dass der Blutverlust der Opfer durch ihre ständige Bewegung und das Schwitzen stärker wirkt, als er tatsächlich ist. Dr. van Keuren hat recht, wenn sie sagt, dass die Verletzungen und die Erschöpfung die wahrscheinlichsten Todesursachen sind – aber außer diesen Faktoren ist es vor allem die Schädigung der autonomen Funktionen, die zum Tod führt, nicht der Blutverlust.«
Sarie merkte, dass ihr höfliches Lächeln wie eingefroren war. Sie versuchte sich zu entspannen, doch innerlich fluchte sie, wie ihr Vater es getan hatte, wenn eine der Kühe wieder einmal einen Zaun niederriss. Wenn Zarin sogar das herausgefunden hatte – was wusste er dann noch alles? Was hatte er Omidi noch gesagt?
»Was ist mit der Transportfähigkeit?«, warf einer der Gläubigen ein, an dessen Namen sie sich nicht erinnern konnte. »Wenn die Krankheit schneller ausbricht, wird es ja noch schwieriger, den Parasiten mit einem menschlichen Wirt zu transportieren.«
»Das sollte kein großes Problem werden«, erwiderte Sarie. »Ich hatte schon mit vielen Parasiten zu tun, und sie ließen sich mit viel primitiveren Mitteln transportieren, als Sie sie hier zur Verfügung haben. Aber es wäre Zeitverschwendung, sich jetzt schon mit dieser Frage zu beschäftigen. Wir können ja nicht sagen, wie sich der Erreger verändern wird, wenn wir mit der selektiven Vermehrung beginnen – es könnte also sein, dass irgendeine Transportmethode, die wir jetzt entwickeln, später vielleicht nicht mehr funktioniert.«
In Wirklichkeit war die Wahrscheinlichkeit, dass die entsprechenden Veränderungen die Transportfähigkeit beeinträchtigten, gleich null. Doch je länger sie verhindern konnte, dass diese Waffe einsetzbar war, umso mehr Zeit hatte sie, die Pläne der Iraner zu sabotieren.