Kapitel siebenundsiebzig
ZENTRALIRAN
5. Dezember, 09:02 Uhr GMT+3:30
Sarie van Keuren saß vor Zarins Computerterminal, lauschte dem ewigen Kreischen der Affen und sah zu, wie auf der Wanduhr eine Minute nach der anderen verstrich. Sie hatte gehofft, er würde zurückkommen, damit sie das nicht allein tun musste. Aber sie respektierte seinen Wunsch, allein zu sein.
Als sie ihr Spiegelbild im Bildschirm sah, erkannte sie sich kaum wieder. Die ausgezehrten Gesichtszüge, die dunklen Ringe unter den Augen und der tote Ausdruck schienen zu jemand anderem zu gehören. Zu jemandem, der sich auf Dinge eingelassen hatte, die ihm zum Verderben wurden.
Sie wischte eine Träne weg und drückte eine Taste, um den Bildschirm wieder zum Leben zu erwecken. Mit einigen Mausklicks rief sie die Schaltfläche für den Notfallalarm auf, dann zog sie den Cursor auf das Feld und dachte an Zarin und die Familie, die er zurückließ. An die Familie, die sie nie haben würde.
Mit einem kaum merklichen Zucken ihres Fingers löste sie den Alarm aus, der das Kreischen der Affen übertönte. Sie hielt den Atem an und unterdrückte den Drang, loszulaufen. Besser, sie hatte es schnell hinter sich.
Aber nichts geschah.
Sarie drehte sich auf ihrem Stuhl um und blickte auf die geschlossene Tür zum Flur. Sie hätte automatisch aufgehen sollen. Verwirrt klickte sie die Schaltfläche noch einmal an. Der Alarm dröhnte weiter durch das Gebäude, doch die Tür blieb zu und die Affen in ihren Käfigen.
Der Bildschirm flackerte und wurde für einen Moment lang dunkel, ehe er zur Login-Seite zurückkehrte. Sie tippte Zarins Passwort ein und wollte den Plan der Anlage wieder aufrufen, als sich die Tür hinter ihr plötzlich öffnete.
Doch es geschah nicht, weil sie es am Computer veranlasst hatte. Sie sprang auf, als drei Männer mit Maschinengewehren hereingestürmt kamen. Omidi folgte einen Augenblick später und zog Yousef Zarin mit sich. Das rechte Bein des Wissenschaftlers war gebrochen und gab unter ihm nach, als Omidi ihn losließ. Blutend und verwirrt lag er auf dem Fliesenboden.
»Glaubt ihr, ich habe euch nicht beobachtet?«, schrie Omidi. »Glaubt ihr, ich habe den Bericht nicht gelesen, den Zarin über die Anlage geschrieben hat?«
»Ich …«, stammelte Sarie. »Ich dachte, eines der Schlösser an den Käfigen wäre defekt. Das …«
Der Iraner stürmte zu ihr und schlug ihr so wuchtig mit der flachen Hand ins Gesicht, dass sie zu Boden ging. »Unsere Leute überwachen die Computer! Wir haben gesehen, wie er das Programm umgeschrieben hat. Jetzt sagen Sie mir, was Sie getan haben!«
Sarie schüttelte den Kopf und bemühte sich, klar zu denken. Zarin hatte nicht geredet. Er hatte der Folter standgehalten und nichts gesagt.
»Ich … ich habe die restlichen Labortiere infiziert«, sagte sie schließlich, weil das ohnehin offensichtlich war. »Wir …«
»Das weiß ich«, fiel ihr Omidi ins Wort und richtete seine Pistole auf Zarin. »Sie haben Tag und Nacht an dem Parasiten gearbeitet. Sagen Sie mir, was Sie damit gemacht haben!«
»Nichts!«
Omidi drückte den Lauf der Waffe gegen den Hinterkopf des Wissenschaftlers. »Sagen Sie’s mir, oder er stirbt!«
»Es stimmt – ich habe gar nichts gemacht!«, erwiderte Sarie. Sie würde nicht mehr preisgeben, als seine Getreuen ebenfalls leicht herausfinden würden. »Ich habe den Ausbruch der Symptome nicht wirklich beschleunigt – ich habe die Tiere nur mit einer höheren Dosis infiziert.«
»Das ist alles, was der großen Sarie van Keuren eingefallen ist?«, erwiderte er und krümmte den Finger um den Abzug. »Ich will die Wahrheit hören! Los!«
Es war vorbei. Sie konnte höchstens noch ein kleines Ablenkungsmanöver versuchen, um vielleicht ein paar Menschenleben zu retten. »Okay! Tun Sie ihm nichts. Ich habe Parasiten selektiert, die die Hornhaut angreifen und die Infizierten blind werden lassen.«
Sie zuckte zusammen, als der Schuss krachte, und hob die Hand, um die Augen gegen das Blut und die Gehirnmasse abzuschirmen, die bis zu ihr spritzten.
»Sie werden unseren Wissenschaftlern genau zeigen, wie Sie den Parasiten sabotiert haben und wie man den Schaden reparieren kann«, sagte Omidi und richtete die Pistole auf sie.
Sarie starrte auf den toten Wissenschaftler hinunter – und spürte keine Angst mehr. Sie spürte gar nichts mehr. Schließlich hob sie die Hand und streckte den Mittelfinger heraus.