Kapitel achtzig
ZENTRALIRAN
5. Dezember, 10:15 Uhr GMT+3:30
Jon Smith spähte über den Rand des trockenen Grabens und studierte den Turm am Nordostrand des Geländes, auf der Suche nach dem Scharfschützen, der dort postiert war. Es war ein schwerer Rückschlag, dass Hakims Laster umgestürzt war. Farrokhs Team war darin eingeschlossen, was den Erfolg ihrer Operation immer unwahrscheinlicher machte.
Howell lag auf der Brücke über ihm und gab den Männern hinter dem umgekippten Laster Feuerschutz. Farrokh kroch zwischen ihnen hin und her, klopfte ihnen auf die Schulter und sprach ihnen Mut zu, doch die meisten sahen trotzdem so aus, als wären sie nervlich am Ende.
Aufgrund der relativ großen Entfernung zu den übrigen Türmen waren die Wachposten von den MGs zu Gewehren gewechselt. Sie waren zum Glück nur durchschnittliche Schützen – bis auf einen Mann auf dem Nordostturm, der ein wahrer Meister seines Fachs war. Er hatte schon drei Männer ausgeschaltet und drohte ihren ohnehin schon stark gebremsten Angriffsschwung völlig zum Erlahmen zu bringen.
Wieder tauchte sein bärtiges Gesicht über dem Rand des Turms auf, doch Smith vermochte ihn nicht ins Visier zu nehmen, bevor der Schuss kam. Die Kugel schlug in die Brücke ein, und er drehte sich um und sah, dass das Geschoss einen Betonbrocken neben Howells Schulter herausgerissen hatte. Der Brite blieb völlig still, das Auge an sein Zielfernrohr geheftet.
»Ich wär dir sehr verbunden, wenn du den Hundesohn abknallen würdest, Jon.«
»Ich arbeite dran.«
Eine Kugel wirbelte einen halben Meter neben Smiths Kopf etwas Sand auf, und Howell feuerte ein paarmal in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Sie wussten, dass es nicht ratsam war, abzuwarten, bis die Iraner irgendwann trafen oder bis Verstärkung kam. Wenn sie sich jedoch aus der Deckung wagten, würde der Scharfschütze auf dem Nordostturm leichtes Spiel mit ihnen haben.
Es war ein Ratespiel. Auf welcher Seite des Turms würde er als Nächstes auftauchen? Um einen präzisen Schuss anbringen zu können, musste Smith seine Position vorausahnen.
»Ich glaube, ich krieg langsam einen Sonnenbrand«, sagte Howell und meinte damit, dass er nicht hergekommen war, um in dieser tödlichen Pattsituation zu verharren.
»Süd, Ost oder West?«
»Was?«, erwiderte Howell.
»Such dir eins aus.«
»Süd.«
»Sag eine Zahl zwischen eins und zehn.«
»Sechs.«
Smith zielte auf die Südseite des Turms, etwa sechs Fuß vom linken Rand, und wartete. Fünf Sekunden. Zehn. Fünfzehn. Das dunkle Gesicht tauchte fast genau an der Stelle auf, die Howell – ohne es zu wissen – vorhergesagt hatte.
Smith hielt den Atem an und drückte ab; er wartete den Sekundenbruchteil, den die Kugel bis zum Turm brauchte, dann sah er, wie der Kopf zurückgerissen wurde und das Blut spritzte.
»Du hast das Glück der Iren, Peter. Lauf!«
Farrokhs Männer feuerten auf die Linie der Schützen, die Howell in Schach gehalten hatte, doch aus ihrer Position konnten sie nichts gegen die Scharfschützen in den anderen Türmen ausrichten.
Smith hörte die Kugeln pfeifen, während er über den schweren Sand rannte, was seine Beine hergaben. »Nach rechts!«
Howell kam der Aufforderung nach und warf sich hinter die Sandsäcke, die aus dem umgekippten Laster geschleudert worden waren. Er gab ein paar gezielte Schüsse auf die Wachtürme ab, während Smith über die Leiche eines ihrer Männer sprang und neben Farrokh in Deckung ging, der seine Männer davon abzuhalten versuchte, in ihrer Panik ihre ganze Munition zu verpulvern.
»Wir sind in Sicherheit! Geht in Deckung!«
Farrokh rief seinen Männern zu, sich wieder ganz hinter dem Laster zu verschanzen. Smith schnappte sich den jüngsten der Männer, schlug ihm das Handy aus der Hand, mit dem er die Schlacht filmen wollte, und zog ihn mit sich zu Howell.
»Den Turm an drei Uhr!«, sagte Smith und warf ihn neben dem Briten auf den Boden. »Hast du verstanden? Schieß auf den Turm an drei Uhr!«
Der junge Mann schrie auf, als eine Kugel einen Meter neben ihm einschlug, doch dann rollte er sich auf den Bauch und legte sein Gewehr auf einen Sandsack. Es war für ihn das erste Mal, dass er kämpfen musste, doch er war in seiner Jugend oft mit seinem Vater zur Jagd gegangen und war ein überdurchschnittlich guter Schütze.
Howell klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. »Guter Junge. Du machst das schon.«
Farrokh und die anderen hatten sich hinter der Ladefläche verschanzt, während Omidis Männer wie wild auf die Unterseite des Fahrzeugs feuerten, zweifellos um den Tank zu erwischen.
Smith hatte jetzt freie Sicht auf den Felsvorsprung mit dem Eingang zur Anlage. Die schwere Tür war geschwärzt und verbeult, doch die Lücke, die die Explosion in die Stahlplatten gerissen hatte, war höchstens einen halben mal eineinhalb Meter groß. Nicht viel, aber es musste reichen. Vorausgesetzt, sie kamen überhaupt hin. Der Laster war das Einzige, was sie vor dem Kreuzfeuer der Verteidiger schützte. Und da sie ihre Deckung nicht aufgeben konnten, ohne in Stücke geschossen zu werden, mussten sie ihn mitnehmen.
»Kommt!«, rief Smith und grub seine Hände in den Sand unter dem Dach des Fahrerhauses. »Stellen wir die Karre wieder auf die Räder!«
Farrokh und seine Männer verteilten sich über die ganze Länge des Fahrzeugs, und als alle zehn zusammenhalfen, begann sich der Laster vom Boden zu heben.
»Weiter!«, rief Smith über den Gewehrsalven, die zwischen Howell und seinem neuen Schützling und den Wachposten in den Türmen hin und her gingen. Der Mann links neben Smith wurde in den Rücken getroffen und ging zu Boden, und der Laster sank ebenfalls ein Stück zurück. »Weiter!«
Sie hoben den Truck bis auf den Rand der Räder, und im nächsten Augenblick wurde die Last leichter, bis ihnen die Schwerkraft die Arbeit abnahm. Als der Laster auf seinen vier Rädern stand, sprang Smith durch das Fenster, schob den toten Hakim zur Seite und drückte die Kupplung mit der Schulter.
Er drehte den Zündschlüssel um und war überrascht, dass der Motor sofort ansprang. Vielleicht war das Glück endlich auf ihrer Seite.
Er hockte immer noch unter dem Armaturenbrett, als er mit dem Knie den Schalthebel nach vorn drückte und die Kupplung losließ. Der Laster setzte sich in Bewegung, direkt auf den Eingang zu, während die Kugeln auf die gepanzerte Tür einprasselten.
Es kam ihm vor wie eine Stunde, obwohl wahrscheinlich nicht einmal eine Minute verging, bis der Laster gegen ein Hindernis krachte und zum Stillstand kam. Der Motor starb ab, und Smith trat die Tür auf und schlüpfte hinaus. Er sah, dass Howell und sein Helfer die Position gewechselt hatten und wieder die Wachtürme unter Beschuss nahmen.
In der Ferne kam eine Staubwolke näher – der Konvoi der Männer, die sich zunächst zurückgehalten hatten, damit die Wachposten nicht sofort erkannten, dass es sich um einen Angriff handelte. Bis zu ihrem Eintreffen würde jedoch noch eine Viertelstunde vergehen – von ihnen war also keine unmittelbare Hilfe zu erwarten.
Eng an den Laster gedrückt, näherte sich Smith der geschwärzten Stahltür. Er spürte die kalte Luft, die durch die Lücke herausströmte, und sah Licht schimmern. Doch das war alles. Es war nichts zu hören – nichts, was darauf hindeutete, dass sich da drin etwas rührte.
Im nächsten Augenblick zertrümmerte eine Kugel die Windschutzscheibe hinter ihm. Howell tat, was er konnte, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die Scharfschützen die beiden erwischten.
»Was jetzt?«, fragte Farrokh, als er an seine Seite kam. Smith schulterte sein Gewehr und zog die alte Fünfundvierziger hervor, die er bekommen hatte. Sie fühlte sich schwer und unhandlich an im Vergleich zu der Waffe, die Janani für ihn angefertigt hatte, doch es musste auch damit gehen.
Er machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn, doch sobald er die Lücke in der Tür erreichte, krachte ein Schuss und riss ihm die Pistole aus der Hand.
»Verdammt!«, stieß er hervor und zählte rasch seine Finger. Es waren noch alle dran.
Weitere Schüsse folgten und zerstreuten Farrokhs verwirrte Männer, während Smith zu ergründen versuchte, womit sie es zu tun hatten. Drei, vielleicht vier Gewehre, alle auf die schmale Lücke gerichtet, durch die sie gelangen mussten.
»Haben wir noch Sprengstoff oder Granaten?«
Farrokh schüttelte den Kopf. »Die Männer, die nachkommen, haben Granaten, aber alles andere haben wir in den Laster gesteckt.«
»Das ist nicht dein Ernst. Ihr habt nichts mehr übrig?«
»Wir mussten alles auf eine Karte setzen, um die Tür aufzubrechen.«
Er hatte nicht ganz unrecht, auch wenn es schwer zu akzeptieren war. Nur der Laster war ihnen jetzt noch geblieben. Wie konnten sie ihn einsetzen? Es war wohl sinnlos, zu versuchen, die Tür zu rammen – sie sah immer noch solide aus.
Mit etwas mehr Zeit wäre es bedeutend einfacher gewesen. Und wenn da nicht jemand gewesen wäre, der nur darauf wartete, sie abzuknallen.
Von drinnen hörte man weitere Schüsse, und Smith wich zurück, bis ihm klar wurde, dass die Kugeln nicht mehr in ihre Richtung flogen. Im nächsten Augenblick hörte man panische Stimmen und ein unheimliches Gekreische. Affen?
Er hob die verkohlten Überreste eines Kotflügels auf und hielt ihn vor die Lücke in der Tür. Die Schüsse und Schreie waren immer noch hörbar, doch sie waren nicht an ihre Adresse gerichtet.
So ungern er blind hineinging – hier bot sich eine Chance, und wer konnte schon sagen, ob es eine zweite geben würde.
»Peter!«, rief er. »Wir gehen rein!«
Howell klopfte dem jungen Mann neben ihm auf den Rücken, und sie liefen zu Smith hinüber, der den Männern Kommandos zurief, die Farrokh übersetzte.
»Du. Nimm Peters Platz ein und feuere auf die Türme, so gut du kannst. Ihr drei versperrt den Eingang, wenn wir drin sind – nehmt dazu alles, was ihr finden könnt, vom Laster oder sonst wo. Es darf nichts raus. Ihr wisst ja, womit wir’s zu tun haben, okay?«
Sie nickten. »Gut. Haltet durch. Verstärkung ist unterwegs. Der Rest kommt mit uns.«
Smith hob sein Sturmgewehr und atmete tief durch, ehe er durch die Lücke sprang. Er warf sich auf den Boden, hielt sich dicht bei der Wand und rief den anderen zu, es ebenso zu machen.
Er hatte recht gehabt – da waren wirklich drei Männer, die den Eingang bewachten, doch sie schienen im Moment ganz andere Sorgen zu haben und hatten ihr Kommen nicht einmal bemerkt. Sie feuerten wie wild auf zwei kleine blutüberströmte Affen, die so flink von der Wand an die Decke und herunter sprangen, dass man glaubte, sie hätten Flügel. Querschläger prallten von Stein und Stahl ab, als würden die Kugeln etwas suchen, das nicht so undurchdringlich war.
Farrokh kam als Nächster durch die Tür, und Smith zog ihn auf den Boden hinunter, während seine Männer nachfolgten.
»Nicht schie…«, begann er, doch es war zu spät. Der zweite Mann feuerte wild auf die blutigen Blitze, die durch die Luft zuckten.
»Peter! Die Affen!«, rief er, als der Brite hereinkam.
Dass Omidis Wächter nur noch mit den Tieren beschäftigt waren, hatte den Vorteil, dass sie leicht zu treffende Ziele abgaben. Sie gingen nacheinander zu Boden, als Smith jedem von ihnen eine Kugel in die Brust jagte.
»Aufhören zu schießen!«, rief Smith, während Howell aus einem Winkel des Raumes versuchte, einen Affen aufs Korn zu nehmen, der sich von einer Deckenlampe zur nächsten schwang. Niemand schien ihm zuzuhören, deshalb warf er sich über Farrokh und entriss dem Mann daneben das Gewehr. »Halt!«
Glühbirnen explodierten an der Decke, und Smith stürzte sich auf den Nächsten, der übereilt feuerte. Im Dunkeln hatten sie gegen diese kleinen Teufel nicht den Hauch einer Chance. Er riss dem Mann das Gewehr aus der Hand und wollte zum Letzten weitereilen, der feuerte, als ihm einer der Affen zuvorkam und sich aus der Luft auf den Schützen stürzte.
Der junge Mann schrie und ließ das Gewehr fallen, in dem verzweifelten Versuch, sich von dem Tier zu befreien, das ihm die Zähne in den Nacken schlug.
Das war die Gelegenheit, auf die Howell gewartet hatte. Seine Kugel zertrümmerte die rechte Hälfte des Affenkopfs und durchtrennte das Rückenmark des Mannes. Ein schneller und schmerzloser Tod für Tier und Mensch.
Der letzte Affe war kleiner und schneller, doch offensichtlich verwirrt von dem Schatten, den eine hin und her schwingende Deckenlampe warf. Farrokh und seine Männer folgten dem Tier mit ihren Waffen, doch sie bezähmten ihre Angst und feuerten nicht ziellos.
Der Affe sprang zur Wand und verfehlte das Loch im Beton, das er anvisiert hatte. Einen Moment lang wurde er langsamer, benommen von dem Aufprall, und gab ein leichter zu treffendes Ziel ab. Howells erster Schuss wirbelte das Tier herum, der zweite riss ihm die halbe Brust heraus.
Von einem Moment auf den anderen war nichts mehr zu hören als ihr keuchender Atem und das Quietschen der hin und her schwingenden Lampen. Smith stand als Erster auf und fühlte sich ein wenig orientierungslos in der plötzlichen Stille. Er zog Farrokh auf die Beine und hielt auch den drei anderen die Hand hin, um ihnen aufzuhelfen. Sie starrten ihn ausdruckslos an, während Howell zu einer steilen Rampe lief, die tiefer hinunterführte.
»Seht mal das Positive«, sagte der Brite, ehe er hinter einer Ecke verschwand. »Viel schlimmer kann’s nicht mehr werden.«
Als sie das Hauptgeschoss erreichten, hatte sich Smiths Herzschlag zumindest einigermaßen beruhigt. Hoch konzentriert bog er um eine Ecke, das Gewehr schussbereit.
Nichts.
»Alles klar!«, sagte er. Ihm war nicht entgangen, dass an der Decke Überwachungskameras montiert waren, doch das ließ sich nun einmal nicht ändern.
Etwa in der Mitte des Ganges stießen sie auf drei Tote mit Laborkitteln, jeder mit einem Einschussloch im Hinterkopf.
»Nichts anfassen!«, mahnte Smith.
Als keine Reaktion kam, drehte er sich zu Farrokh um. »Übersetzt du es ihnen nicht?«
Der Iraner sah ihn fragend an und zeigte mit dem Daumen auf seine Männer zurück. »Glaubst du wirklich, dass das notwendig ist?«
Er hatte recht. Sie waren wie versteinert vor Angst. Nicht für alles Geld auf der Welt hätten sie diese Leichen angefasst.
Sie eilten von einem Raum zum nächsten, manche davon leer, einige mit Toten, die am Boden lagen. Sie waren aber nicht von den Affen angefallen worden – jemand hatte sie regelrecht hingerichtet.
Smith verließ einen Raum, in dem zwei Tote auf ihren Schreibtischen zusammengesunken waren. Er war erleichtert, dass Sarie nicht dabei war. In Wahrheit wäre es vielleicht sogar besser gewesen, sie hier leblos vorzufinden. Es war viel besorgniserregender, sich vorzustellen, dass sie sich in der Gewalt des iranischen Geheimdienstes befand.
Ein schauriges Heulen in der Ferne ließ ihn erstarren. Als das Geräusch näher kam, erkannte er, dass es ein Chor von Schreien war.
»Hörst du das?«, fragte Howell. »Diesmal sind es nicht bloß zwei.«
Er hatte recht. Es war schwer zu sagen, wie viele Tiere dieses Gekreische erzeugten. Wenn sie sein Team in der Enge des Ganges erwischten, würden sie keine dreißig Sekunden überleben.
»Schnell rein!« Smith sprang in den Raum zurück, aus dem sie gekommen waren, und die anderen folgten ihm. Er knallte die Tür zu, doch der Schließriegel ragte so weit heraus, dass sie nicht ganz zuging.
»Farrokh – das Schloss. Weißt du, wie es sich schließen lässt?«
Der Iraner kniete sich zur Tür und untersuchte das Schloss. »Nein. Das wird elektronisch gesteuert.«
»Sie kommen!«, rief Howell, schnappte sich sein Gewehr und schob den Lauf in den schmalen Spalt zwischen Tür und Pfosten.
Es waren mindestens zehn Affen, ihr Fell so blutüberströmt, dass sie Blutspuren am Boden und an den Wänden hinterließen, als sie durch den Gang stürmten. Smith warf sich unterhalb des Briten auf den Boden und richtete seine Fünfundvierziger in den Gang hinaus, in dem vergeblichen Versuch, einzelne Ziele zu finden.
»Farrokh! Haltet die Tür zu!«
Der Iraner stemmte sich mit dem Rücken gegen die Tür und winkte seine Männer herbei, damit sie ihm halfen. Ihre Gebete waren kaum zu hören über dem schaurigen Geheul der infizierten Affen.