Kapitel dreiundachtzig
ZENTRALIRAN
5. Dezember, 11:21 Uhr GMT+3:30
»Das ist alles, was wir haben?« Smith blickte auf die Granate hinunter, die aussah wie ein Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg.
Der junge Mann nickte schwach, beugte sich keuchend vor und bemühte sich, seinen Atem zu beruhigen.
»Wie schwer wäre es, zum Haupteingang zurückzukommen?«
»Wir waren zu viert, als wir reinkamen«, antwortete er auf Englisch mit starkem Akzent. »Ich bin der Einzige, der noch da ist.«
»Oh Gott. Sarie, wie viele Affen sind denn hier?«
»Einunddreißig. Und zwei Leute, außer dem, den ihr getötet habt.«
»Alles zurück!«, rief Howell, als man weiter vorne am Gang einen Affen näher kommen hörte.
Sie hatten auf dem Gang Barrieren errichtet, die bis zur Decke reichten, doch mit dem verfügbaren Material – größtenteils Büromöbel – hatten sich nur ziemlich löchrige Barrikaden bauen lassen.
Howell und Smith standen mit ihren Pistolen in Augenhöhe da, während die anderen hinter sie zurückwichen. Das Tier kam rasch näher, und durch die Lücken blitzte es blutrot auf.
Doch die Barriere erfüllte ihren Zweck. Der Affe prallte hart dagegen und versuchte sofort, durch eine Lücke zu gelangen, die sie absichtlich offen gelassen hatten und die verlockend groß war, aber nicht groß genug, um ein Tier durchzulassen. Der Makak zwängte seinen Kopf durch das Loch, blieb aber mit den Schultern stecken.
Smith verzichtete auf den Schuss und überließ es Howell als dem besseren Schützen, dem Tier eine Kugel in den Kopf zu jagen.
»Es hat funktioniert!«, rief Farrokh hinter ihnen. »Ich muss zugeben, ich hatte meine Zweifel.«
»Wir haben Glück gehabt«, erwiderte Howell und überprüfte sein Magazin. »Mit einem wird man leicht fertig. Vielleicht auch mit zweien. Aber wenn es mehr sind, kommen sie durch.«
Er hatte recht. Es war schon schwer genug, sich gegen menschliche Infizierte zu wehren, doch diese waren relativ große und langsame Ziele im Vergleich zu diesen kleinen Monstern. Von Sarie wussten sie, dass es auch sechs ausgewachsene Schimpansen gab, die sich nicht von der Lücke in der Barriere verlocken lassen würden. Sie würden sich ihre eigene Lücke machen.
»Was jetzt?«, fragte Farrokh. Er hielt ein Walkie-Talkie in der Hand, doch seit er einen Mann hergerufen hatte, um ihnen die Granate zu bringen, war es ihm nicht mehr gelungen, mit seinen Leuten Kontakt aufzunehmen. Sie wussten zwar, dass Verstärkung eingetroffen war, hatten aber keine Ahnung, wie die Lage jenseits des Ganges war, in dem sie sich verschanzt hatten.
»Sarie, bist du sicher, dass das die Tür ist, durch die Omidi entkommen ist?«, fragte Smith.
»Ja. Dass sie verschlossen ist, bedeutet ja, dass sie hinausführt«, antwortete sie und zeigte auf die Blutflecken am Boden. »Und das ist von mir.«
»Dann müssen wir da durch.«
»Der Stahl ist zu dick«, wandte Farrokh ein. »Die Granate reicht nicht, um ihn zu durchbrechen.«
Er hatte recht. Selbst direkt gegen die Tür gerichtet, würde die Granate das Metall wahrscheinlich nur verbiegen, und die Tür wäre noch schwerer zu öffnen gewesen.
»Vielleicht …«, fügte Farrokh zögernd hinzu.
»Was? Wenn du eine Idee hast, dann sag’s.«
»Ich habe nie mit einem solchen Mechanismus zu tun gehabt, aber ich war Ingenieur. Wenn du eine solche Tür bauen würdest, wie würdest du das Schloss machen?«
»Klar …« Smith blickte nachdenklich auf die Wand links neben der Tür. »Warum die Sache komplizierter machen, als sie sein muss? Es braucht nur einen einfachen Mechanismus, der etwas bewegt, das die Tür verriegelt.«
Sie begannen rasch, die hintere Barriere abzubauen und die Möbelstücke so aufzuschichten, dass die Sprengwirkung auf die Wand neben der Tür gelenkt wurde. Sie waren nun schutzlos gegen einen Angriff, aber das Risiko mussten sie eingehen.
Als sie fertig waren, zog Smith den rostigen Stift der Granate. »Alles zurück!«
Sie duckten sich hinter die nächste Ecke und drückten sich gegen die Wand, als die Granate detonierte und die Luft mit einem Schleier aus zertrümmertem Beton erfüllte.
Es hatte funktioniert. Der Mechanismus lag frei, wenn auch verbogen und verkohlt. Smith räumte die Trümmer aus dem Weg, während Farrokh das Schloss studierte.
»Das ist es«, sagte er und zeigte auf eine einfache Stahlstange, die die Tür verriegelte.
Smith griff sich ein Stück Beton und hämmerte es mehrmals gegen die Stange, um sie weiter zu verbiegen, während Farrokh und seine Männer an der Tür zogen. Sie bewegte sich ein paar Zentimeter, aber nicht weiter.
»Fester! Los!«, feuerte Smith sie an.
Sie legten ihre ganze Kraft hinein, doch die Tür ließ sich nicht mehr bewegen.
»Noch einmal!«
»Jon?« Sarie trat zu ihm. »Was ist das da über dem Loch?«
Jetzt sah er den Kabelbaum auch, der die Tür blockierte, und wunderte sich, dass ihm das entgangen war. Er griff hinauf und riss den ganzen Kabelbaum heraus, während Farrokh und seine Männer ihre Finger in die schmale Lücke schoben, die sie schon geschaffen hatten.
Es ging quälend langsam, aber sie zogen die Tür Zentimeter für Zentimeter weiter auf. Als sie einen knappen halben Meter geschafft hatten, trat der junge Mann, der ihnen die Granate gebracht hatte, vor. »Ich glaube, das genügt!«, sagte er. »Ich komme durch.«
»Nicht!«, rief Smith – doch zu spät.
Kaum hatte sich der Mann in den Spalt gezwängt, krachte ein Schuss und er sackte zusammen. Tot steckte er zwischen Tür und Pfosten – so wie der Affe zuvor in der Falle, die sie den Tieren gestellt hatten.
Farrokh ging in Deckung, doch Smith sprang zu dem tödlich Getroffenen. So etwas wie einen pietätvollen Umgang mit den Toten konnten sie sich jetzt nicht leisten. Omidi entfernte sich mit jeder Minute weiter, und sie durften sich hier nicht festhalten lassen.
Weitere Schüsse krachten, und die Kugeln schlugen in den toten Körper des Mannes ein, während Smith ihn an der Jacke packte und ihn in eine aufrechte Position hob. Es klang nach einer einzigen Waffe, einem halbautomatischen Gewehr.
»Peter! Du kommst mit mir!«
Der Brite schloss sich ihm an, und Smith schob die blutige Leiche durch den Spalt und benutzte sie als Schild, während er in die höhlenartige, schwach beleuchtete Parkgarage vordrang.
Der Schütze feuerte weiter, doch die Kugeln wurden von dem toten Körper aufgefangen, der sich immer schwerer bewegen ließ. Howell war dicht bei ihm, als sie nach rechts eilten und hinter einer Betonsäule Schutz suchten, die aussah, als würde sie jeden Moment einknicken.
Howell erwiderte das Feuer, und seine Kugel schlug so nah bei dem flach auf dem Boden liegenden Schützen ein, dass ihm Sand und Steinsplitter in die Augen spritzten. Der Mann sprang auf und lief stolpernd zu einem Van, der zwanzig Meter hinter ihm stand, doch anstatt dahinter in Deckung zu gehen, rannte er weiter.
»Ich glaube, er hat genug für heute«, sagte Howell. »Kann ich irgendwie verstehen.«
Smith drehte sich zur Tür um. »Alles klar. Ihr könnt kommen.«
Als sich Sarie, Farrokh und seine überlebenden Männer durch die Tür gezwängt hatten, eilte Smith in die Anlage zurück und schob einen Tisch in die Höhle heraus, um damit den offenen Spalt zu blockieren.
»Ihr drei bleibt hier«, sagte er zu Farrokhs Männern. »Nichts und niemand darf hier raus – auch wenn es jemand ist, den ihr kennt. Verstanden? Wenn sie rauswollen, sagt ihnen, sie sollen zum Haupteingang zurückgehen – dort werden sie auf infizierte Wunden untersucht.«
Sie nickten, und er lief auf die andere Seite der Höhle, wo mehrere Fahrzeuge geparkt waren. Er warf einen kurzen Blick in die Autos und sah nirgends Schlüssel stecken. »Du bist doch Ingenieur«, sagte er, zu Farrokh gewandt. »Kannst du ein Auto kurzschließen?«
»Ein Ingenieur ist etwas anderes als ein Dieb, Colonel.«
»Na toll«, murmelte Smith, während Howell Wache stand, für den Fall, dass der Mann, den sie vertrieben hatten, seinen Mut wiederfand. Sarie war jedoch verschwunden.
Er wollte schon nach ihr rufen, als das Brummen eines startenden Motors durch den riesigen Höhlenraum hallte. Wenige Augenblicke später kam ein Pick-up schlitternd vor ihm zum Stillstand, voll beladen mit Wartungsgeräten und Werkzeug.
»Will jemand mitfahren?«, sagte Sarie, aus dem offenen Fenster gelehnt.
»Peter! Wir fahren!«
Sie rutschte zur Seite und ließ ihn ans Lenkrad, während Farrokh durch die Beifahrertür sprang. Sie fuhren schon los, als Howell sich auf die Ladefläche schwang und Werkzeugkisten hinunterwarf, um Platz zu schaffen. Smith beschleunigte und lenkte den Wagen in die Richtung, in der er hoffte, zum Ausgang zu gelangen.
Die Höhle war viel größer und verzweigter, als er erwartet hatte, doch sie folgten den frischen Reifenspuren am Boden, bis sie durch den sorgfältig getarnten Höhleneingang ins Freie gelangten.
Farrokh zog sofort sein Telefon hervor, und Smith blickte mit zusammengekniffenen Augen in die grelle Sonne und lenkte den Pick-up zur Straße nach Norden. Vom Gelände der Anlage hörte man keine Schüsse mehr – wie es aussah, hatten sich die Kämpfe inzwischen ganz auf den Innenraum verlagert.
Farrokh sprach eindringlich auf Persisch in sein Telefon, dann blickte er zu ihm herüber. »Meine Männer haben ein Militärfahrzeug mit einem fest montierten Maschinengewehr auf der Straße nach Avass angegriffen.«
»Das ist er«, sagte Sarie. »Das ist der Laster, mit dem Omidi geflüchtet ist. Haben sie ihn gestoppt?«
Der Iraner schüttelte den Kopf. »Wir haben aber Leute im Dorf. Sie wissen, womit sie es zu tun haben.«
»Können sie einen solchen Laster aufhalten?«, fragte Smith.
»Wenn sie nicht dran gehindert werden, ja. Aber Avass ist ziemlich konservativ, und die Regierung wird dort viele Freunde haben.«
»Was ist mit dem Labor?«
»Wir bekommen es nach und nach unter Kontrolle. Die zwei infizierten Männer sind tot, aber ein paar Tiere laufen noch frei herum.«
»Wie viele deiner Männer sind schon infiziert?«
»Viel mehr, als wir gerechnet haben. Aber das Problem wird mit den Vorkehrungen gelöst, die du getroffen hast. Jeder hat gewusst, welches Risiko er eingeht. Und was für Konsequenzen es haben kann.«
Sarie beugte sich vor und stützte den Kopf in ihre Hände. »Es ist meine Schuld. Ich habe die Tiere infiziert – wir wollten die Anlage absperren und die Affen freilassen. Wenn ich gar nichts getan hätte, dann hättet ihr es jetzt nur mit ein paar halb toten Tieren zu tun. Deine Leute wären gesund.«
»Das konntest du nicht wissen«, sagte Farrokh. »Du musstest etwas tun. Ich hätte selbst vorhersehen müssen, dass Omidi Labortiere benutzen wird, um seine Flucht abzusichern.«
»Wir sind alle ein bisschen schuld«, warf Smith ein. »Gibt’s etwas Neues von der iranischen Armee?«
»Ich fürchte, ja. Eine Eliteeinheit ist in der Luft.«