Kapitel vierundachtzig
AVASS, IRAN
5. Dezember, 12:04 Uhr GMT+3:30
Avass kam jenseits einer Hügelkuppe in Sicht, und Mehrak Omidi überblickte die alten Gebäude an den verwinkelten Straßen. Das Gelände fiel am Rand des Dorfes steil ab, wo es statt Asphaltstraßen nur noch abgenutzte Pflastersteine gab.
»Da!«, rief er, tippte seinem Fahrer auf die Schulter und zeigte auf vier Autos, die am Straßenrand warteten. Ein Polizeiwagen und ein Pick-up mit bewaffneten Männern fuhren vor ihnen los und beschleunigten, um sich ihrem Tempo anzupassen. Omidi blickte in den Außenspiegel, als sie die beiden anderen Fahrzeuge passierten, die nun ebenfalls losfuhren, um sie an den Flanken abzusichern. Khamenei hatte ihm gesagt, dass man sie ins Ortszentrum eskortieren und zur Polizeiwache bringen würde, einem Gebäude, das sich gut gegen Angreifer verteidigen ließ.
Zehn Minuten später erreichten sie den Ort. Omidi hielt den Koffer eng an seiner Brust, während sein Blick von den Häusern an der Straße zu den Fußgängern schweifte, die ihnen eilig Platz machten. Farrokhs Verräter waren überall, sie beobachteten, warteten und schmiedeten ihre Pläne. Man konnte keinem mehr vorbehaltlos vertrauen.
Sie kamen zu einem belebten Markt mit Verkaufsständen, an denen neben Schmuck und Gewürzen auch westliche Waren angeboten wurden, auf die seine Landsleute so versessen waren.
Am nördlichen Rand des Marktes mühten sich zwei Männer in Wollpullovern ab, eine große Kiste an den Straßenrand zu stellen, während eine Frau teilnahmslos zusah und mit ihrem Handy telefonierte.
Als die Autokolonne langsamer wurde, gaben die beiden Männer auf und gingen zu einer Gasse. Ihr Gang wirkte ein wenig unnatürlich, so als würden sie sich zwingen, nicht zu laufen. Die Frau beendete ebenfalls ihr Gespräch, schlängelte sich zwischen den Leuten auf der Straße durch und trat ins Marktgebäude ein.
»Halt!«, rief Omidi, und sein Fahrer trat so abrupt auf die Bremse, dass der MG-Schütze hinten gegen das Fahrerhaus geschleudert wurde und das nachkommende Auto nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte, sondern dem Laster ins Heck fuhr. Der Aufprall ging jedoch im Donnern einer Explosion unter.
Der Sprengsatz in der Kiste war in Nägel gepackt, und der Pick-up vor ihnen fuhr mitten in eine tödliche Wolke aus Feuer und Granatsplittern. Der Polizeiwagen scherte nach rechts aus und stieß ein paar flüchtende Fußgänger nieder, ehe er in den steinernen Torbogen einer Apotheke krachte.
Im nächsten Augenblick brach Gewehrfeuer los, von allen Seiten, so schien es – aus den engen Gassen, die von der Hauptstraße wegführten, von den Dächern und aus den offenen Fenstern von Geschäften und Privathäusern.
»Fahr los!«, rief er und duckte sich unter das Armaturenbrett. »Bring uns hier raus!«
Der Laster rollte jedoch nur langsam vorwärts, und als er aufblickte, sah er, dass der Fahrer über dem Lenkrad zusammengesunken war. Das Maschinengewehr auf der Ladefläche begann zu feuern, verstummte aber bald wieder, als der Schütze tot auf die Straße stürzte.
Die Kugeln pfiffen über Omidi hinweg und machten es ihm unmöglich, sich aufzurichten. Der Dampf, der aus dem Kühler aufstieg, hüllte ihn in eine dichte heiße Wolke. Er würde hier nicht lange überleben – ein Glücksschuss oder eine gut geworfene Granate, und er würde sterben, und mit ihm die Hoffnung des ganzen Landes.
Die Tür wurde aufgerissen, und er wich zurück und schob den Koffer hinter sich.
Doch statt zu schießen hielt ihm der Mann die Hand hin. »Komm, schnell!«
Omidi folgte ihm und lief tief geduckt zur Apotheke hinüber, während sich andere Regierungstreue um ihn scharten und wild in alle Richtungen feuerten.
Die Männer vor ihm und rechts neben ihm fielen kurz nacheinander – Omidis menschlicher Schutzschild bröckelte, und er reagierte instinktiv und sprintete auf den Torbogen vor der Apotheke zu. Er hatte nur noch wenige Meter vor sich, als ihn etwas im Rücken traf und auf einen Tisch warf, auf dem Öllampen angeboten wurden. Er fiel über den Tisch und landete am Boden, ehe ihn eine kräftige Hand hochhob und zur Tür der Apotheke zog.
Er konnte den Koffer festhalten, doch er war feucht von seinem eigenen Blut. Der Mann ließ ihn los und ging sofort zu einem der zertrümmerten Fenster; er drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, als ein Kugelhagel hereinbrach, der die Waren von den Regalen fegte.
Omidi kroch auf den Knien zu den Kunden hinüber, die unter einer Reihe von Tischen kauerten. Als er nur noch zwei Meter entfernt war, kamen zwei Männer hervor und zogen ihn in Sicherheit.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte einer der beiden. »Ich glaube, Sie sind verletzt!«
Er wollte die Wunde untersuchen, doch Omidi schob seine Hand weg. Das Gefühl in seinen Beinen begann zu schwinden, genauso wie die Schärfe seines Denkens. Farrokhs Streitkräfte waren zu groß und zu gut vorbereitet für die Männer, die Khamenei geschickt hatte. Sie würden die Apotheke stürmen, bevor das Militär hier war.
»Arbeiten Sie hier?«, fragte er die Frau neben ihm und bemühte sich, seiner schwächer werdenden Stimme Autorität zu verleihen.
Sie schüttelte den Kopf und deutete auf einen weißhaarigen Mann, der in der Ecke kauerte. Omidi schleppte sich zu ihm und zog den Koffer mit gefühllosen Fingern hinter sich her.
»Sie da! Sind Sie der Apotheker?«
»Ja«, antwortete er und verfolgte mit geweiteten Augen, wie die Splitter von einem hölzernen Ausstellungsregal flogen, das zwei Polizisten vor ein zertrümmertes Fenster schoben. »Ich bin Muhammad Vahdat.«
»Ich bin Mehrak Omidi, der Geheimdienstminister.«
Der Mann starrte ihn einen Moment lang an, dann schien er ihn zu erkennen. »Ja … ja, natürlich. Ich habe Sie gesehen …«
»Hören Sie mir zu«, begann Omidi, doch dann verlor er den Faden; der Blutverlust ließ ihn kaum noch zusammenhängend denken. Was musste unbedingt geschehen? Der Parasit! Er musste sich konzentrieren. Für eine Weile musste er seine Gedanken noch im Zaum halten.
»Die Männer draußen sind Farrokhs Soldaten. Sie haben eine biologische Waffe entwickelt, die sie in eurem Dorf testen wollen.«
Der Mann wurde immer blasser und sah aus, als könnte er jeden Moment in Ohnmacht fallen. »Hier? Aber wir sind doch nur …«
»Euer Ort ist dafür ideal. Klein, abgelegen und fromme Leute«, sagte Omidi und legte die blutige Hand auf den Koffer. »Hier habe ich das Gegenmittel – ich habe es persönlich hergebracht, als ich hörte, was er vorhat. Ich brauche Spritzen. Haben Sie welche?«
»Ja. Natürlich. Hinter dem Ladentisch.«
»Sie müssen sie holen, dann kann ich euch impfen.«
»Aber sie sind ganz vorne …«
»Wollen Sie lieber langsam an einer Krankheit sterben, die Sie von innen auffrisst?«
Der Apotheker überlegte einen Augenblick, dann legte er sich auf den Bauch und kroch in den hinteren Bereich des Ladens.
Omidi sah ihm nach, dann ließ er sich gegen die Wand sinken und kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren.
Sie hatten in Tests festgestellt, dass mit der Höhe der Dosis die Wirkung des Parasiten deutlich gesteigert werden konnte. Er hatte genug davon in seinem Koffer, um jedem der Leute hier eine Dosis zu verpassen, die um vieles höher war als bei einer normalen Übertragung. Seine Wissenschaftler hatten herausgefunden, dass es nach nicht einmal zwei Stunden zum vollen Ausbruch der Symptome kommen würde.
Es war der einzige Weg, der ihm noch blieb. Das Schicksal des Parasiten und das Schicksal des Landes waren nun untrennbar miteinander verbunden. Weder das eine noch das andere durfte zerstört werden oder den Verrätern in die Hände fallen. Er musste beides bewahren.