Kapitel fünfundachtzig
AVASS, IRAN
5. Dezember, 14:10 Uhr GMT+3:30
»Wieder ein Patt«, sagte Howell, während er um ein Gebäude herumging, das aus einheimischem Stein gebaut war.
Er hatte recht. Sie hatten den Ort zu Fuß betreten und näherten sich dem Zentrum auf einer schmalen Gasse. Das Gewehrfeuer war schwächer geworden, man hörte nur noch etwa alle dreißig Sekunden einen Schuss, was bedeutete, dass die Kämpfenden feste Positionen bezogen hatten.
Farrokh ging am Ende der Gruppe und telefonierte mit einem seiner Männer.
»Omidi sitzt in einer Apotheke fest – wir schätzen, mit vier bewaffneten Männern und ungefähr zwanzig Geiseln«, berichtete er. »Er hat den Koffer, und meine Leute sagen, dass er schwer verletzt ist.«
»Kommen sie an ihn heran?«, fragte Smith.
»Die Straße vor der Apotheke ist blockiert und man kommt nur durch den Haupteingang hinein.«
»Wisst ihr, wann die iranischen Truppen da sein werden?«
»In ungefähr einer Stunde«, antwortete Farrokh. »Zwei C-130-Transportflugzeuge mit Takavar-Fallschirmjägern. Sieben weitere sollen folgen, aber meine Leute können noch nicht sagen, wann.«
»Wisst ihr, wie viele davon nach Avass kommen, und wie viele zum Labor?«
»Nein. Aber meine Männer haben die Anlage abgesperrt und sind in einer guten Verteidigungsposition. Sie halten die Stellung, bis der Parasit dort ausgestorben ist.«
Smith war sich da nicht so sicher – neun Transportflugzeuge konnten über 600 Mann befördern, und die Soldaten der Takavar-Sondereinsatzkräfte waren die besten, die der Iran aufzubieten hatte.
Die Schüsse waren nun schon sehr nah, und er folgte Howell auf einen schlammigen Hügel, der an einer niedrigen Mauer endete. Von ihrer erhöhten Position aus erkannten sie rasch, dass die Situation schlimmer kaum sein konnte. Überall waren Männer postiert – hinter Autos, auf den Dächern, an Hausecken – doch es war unmöglich zu sagen, wer Freund oder Feind war. Die Überreste eines Pick-ups lagen brennend vor einem Marktgebäude, und der Rauch machte die Situation noch unübersichtlicher. Vor der Apotheke, von der Farrokhs Leute gesprochen hatten, spannten sich steinerne Torbögen, die aussahen, als könnten sie einen Panzer aufhalten, und an jedem der verbarrikadierten Fenstern war mindestens ein Mann postiert.
»Wenn wir zu dem Wagen in der Mitte des …«, begann Howell, verstummte jedoch, als ein Mann aus der Deckung stürmte, um zu einem umgestürzten Auto zu gelangen, das ihm eine bessere Position bieten würde, um die Fenster der Apotheke unter Beschuss zu nehmen. Die Stille wurde sofort von einer Gewehrsalve durchbrochen, und er wurde niedergestreckt, noch ehe er drei Meter weit gekommen war.
»Vergiss es«, sagte Howell.
Smith ließ sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden sinken und stieß einen leisen Fluch aus. Die Takavar-Truppen würden in nicht einmal einer Stunde wie der Zorn Gottes auf sie herabstoßen. Sie würden Farrokhs Leute überrollen und Omidi in ein Flugzeug nach Teheran setzen.
»Haben deine Leute irgendetwas Schwereres als Sturmgewehre?«
»Eine raketengetriebene Granate«, antwortete Farrokh und zeigte auf ein Dach im Norden. »Da oben.«
Smith riskierte einen kurzen Blick und sah einen Granatwerfer auf der Schulter eines Mannes, der seine Handykamera um einen Schornstein herumhielt. Der Winkel war nicht ideal, aber mit ein bisschen Glück war es vielleicht möglich, eine Granate durch den Torbogen und ein Fenster zu schießen.
»Wir müssen es damit versuchen«, meinte Howell. »Uns bleibt nichts anderes übrig.«
»Was?«, erwiderte der Iraner. »Nein. Da drin sind Geiseln. Frauen und Kinder.«
Smith spähte erneut über die Mauer. »Wenn Omidi wirklich schwer verletzt ist, geht er vielleicht auf einen Deal ein. Er gibt uns den Koffer, und wir lassen ihn gehen.«
»Ausgeschlossen«, erwiderte Sarie. »Ich kenne ihn besser als ihr alle. Den Koffer kannst du ihm erst abnehmen, wenn er tot ist.«
»Ich fürchte, das stimmt«, warf Farrokh ein. »Omidi ist kein Mann, der Kompromisse macht.«
Smith saß eine Weile still da – er versuchte sich auf die taktische Situation zu konzentrieren, und nicht an die Gesichter der verängstigten Menschen in dem Gebäude zu denken.
»Dann hat Peter recht. Frag deinen Mann, ob er den Schuss hinbekommt.«
Farrokh sah ihn zornig an. »Ich frage mich, ob du das auch vorschlagen würdest, wenn da drin amerikanische Geiseln wären und die Waffe den Iran bedrohen würde, und nicht Amerika.«
Smith hob den Kopf ein paar Zentimeter über die Mauer und versuchte die Situation in der Apotheke einzuschätzen, die Stärke der Barrieren und die Männer dahinter. Da sah er, wie sich etwas bewegte.
Das Regal, das sie vor eines der Fenster geschoben hatten, begann zu wackeln, und die wenigen Waren, die noch darauf standen, fielen zu Boden.
»Nein …«, murmelte er, als der Polizist, der dahinter postiert war, im Fenster auftauchte und sich verzweifelt gegen etwas oder jemanden wehrte, den man nicht sah. Sofort krachten Schüsse gegen die Wand um ihn herum. Er wurde in die Schulter getroffen, kämpfte aber weiter, bis zwei Kugeln seinen Rücken durchbohrten und er bizarr verkrümmt im Fenster hing. Im nächsten Augenblick erschien das blutverschmierte Gesicht einer Frau. Sie stürzte sich auf den leblosen Mann und biss ihn, während eine Kugel nach der anderen ihren dünnen Körper durchbohrte.
»Er hat sie infiziert!«, rief Smith. »Du musst deinem Mann sagen, er soll die Granate abschießen! Sofort!«
Farrokh war noch mit seinen Männern verbunden und schrie etwas ins Telefon. Wenige Augenblicke später schoss die Granate auf die Apotheke herab, krachte gegen den Torbogen und explodierte vor der schweren Tür mit viel Rauch und Lärm, aber wenig Wirkung.
Smith riss sein Gewehr von der Schulter und drückte es Sarie in die Hände, ehe er seine Fünfundvierziger zog. »Schieß auf alles, was sich rührt. Hast du verstanden? Auf alles.«
Omidis Opfer kamen aus dem Rauch hervor und liefen in alle Richtungen, während Farrokh seine Kommandos ins Telefon rief. Howell feuerte ruhig und traf wie gewohnt alles, worauf er zielte. Sarie hingegen musste feststellen, dass es etwas ganz anderes war, auf Menschen zu schießen, als auf Tiere oder Zielscheiben. Die Männer auf den Dächern und auf der Straße zögerten, und als sie begriffen, was da vor sich ging, war es schon zu spät.