Kapitel neunzig
AUSSERHALB VON AVASS, IRAN
5. Dezember, 15:40 Uhr GMT+3:30
Jon Smith schirmte seine Augen mit der Hand ab und beobachtete, wie sich immer mehr Fallschirme am Himmel öffneten. Verängstigte Stimmen erhoben sich unter den etwa fünfzig Dorfbewohnern, denen sie sich angeschlossen hatten, und das Tempo der Gruppe steigerte sich zusehends, als sie den Ort hinter sich ließen und in das offene wüstenartige Gelände hinauskamen. Zwanzig Meter weiter sah er Saries blonden Haarschopf aufleuchten, als sie mit Farrokh zu ihm eilte.
»Wir haben sieben Verletzte gefunden«, berichtete sie, als sie in Hörweite war.
»Hast du mit ihnen gesprochen? Hatten sie Kontakt mit einem Infizierten?«
Farrokh nickte. »Einer ist eine Treppe hinuntergestürzt, und einer wurde von einer Kugel getroffen. Aber die anderen wurden von Infizierten angegriffen.«
»Und alle fünf haben offene Wunden«, fügte Sarie hinzu. »Ich weiß nicht, wie sich die höhere Dosis des Parasiten auswirken wird, aber ich glaube, wir sollten auf einen schnelleren Ausbruch gefasst sein.«
»Wie lange wird es dauern?«
»Ich schätze, sieben Stunden, bis die Symptome voll ausbrechen. Acht, wenn wir Glück haben.«
»Können wir sie irgendwie von den anderen absondern?«
»Ein Amerikaner, ein Brite und eine Südafrikanerin wollen die Familien dazu bringen, ihre verletzten Angehörigen im Stich zu lassen?«, erwiderte Farrokh. »Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird.«
»Was ist mit dir? Du bist Iraner, und die Leute kennen dich.«
»Meine Position ist sogar noch schlechter, Jon. Das ist eine sehr konservative Gegend mit nicht sehr gebildeten Menschen. Wenn diese Leute wüssten, wer ich bin, würden sie mich wahrscheinlich umbringen. Aber auch so bin ich für sie nur ein liberaler Außenseiter aus der Stadt.«
Smith wurde langsamer und blieb schließlich stehen, während die erschöpften Flüchtlinge an ihm vorbeizogen. In ihrer Not würden sie das tun, was schon ihre Vorfahren seit Hunderten von Jahren getan hatten – sie flüchteten sich in ein Gelände, in das Fremde ihnen nicht folgen konnten.
»Was ist?«, fragte Howell, während seine Hand zur Pistole in seinem Hosenbund ging. »Gibt’s ein Problem?«
Das Problem war, dass Smith keine Ahnung hatte, wohin sie gingen und ob es überhaupt sinnvoll war, was sie taten. Zweifellos flüchteten Gruppen wie die ihre in allen Richtungen aus dem Dorf – Leute, die keine Ahnung hatten, was hier überhaupt vor sich ging. Er hatte völlig die Kontrolle über die Situation verloren, und wenn die iranischen Truppen glaubten, sie könnten die Lage in den Griff bekommen, so würden sie wahrscheinlich eine böse Überraschung erleben.
»Farrokh«, sagte Smith. »Gib mir dein Telefon.«
Der Iraner machte einen zögernden Schritt zurück. »Was willst du damit? Willst du euren Militärs sagen, dass sie mein Land zerstören sollen? Um wieder einen Diktator an die Macht zu bringen?«
»Soll ich ganz ehrlich zu dir sein?«, erwiderte Smith so wütend, dass die Leute, die vorbeigingen, einen Bogen um sie beide machten. »Ich habe keine Ahnung, was Castilla tun wird. Aber das hier wird sich ausbreiten – zuerst über den Iran, dann über die ganze Region. Im Vergleich dazu wäre ein neuer Diktator geradezu harmlos.«
»Nein!«, beharrte Farrokh, doch seine Stimme verlor bereits ihre Schärfe. »Wir können …«
»Ja – was könnt ihr tun? Ich habe nämlich den Eindruck, dass wir nichts tun, als in der Wüste herumzuirren. Oder willst du vielleicht diesen Fallschirmjägern in die Hände laufen? Willst du mit einem Haufen infizierter Leute in diese Canyons rennen und warten, dass es dunkel wird?«
»Nein. Ich …«
»Okay, was sollen wir dann tun, Boss?«
Eine Frau mit einer blutdurchtränkten Jacke brach zwanzig Meter vor ihnen zusammen; sie konnte nicht mehr weiter. Die Leute eilten ihr zu Hilfe, und Sarie schlängelte sich zwischen ihnen hindurch. »Halt! Fasst sie nicht an!«
Keiner sprach Englisch – einige sahen sie überrascht an, dann beachtete sie niemand mehr.
Farrokh sah einige Augenblicke schweigend zu, dann tippte er den Code in sein Telefon ein und hielt es ihm hin.
Smith wählte schnell und ging an den Rand der Gruppe, während Howell die Gesichter ringsum nach irgendeinem Anzeichen einer Bedrohung absuchte.
»Hallo?«
Er war durchaus erleichtert, als er Fred Kleins Stimme hörte, wenn auch nicht so sehr, wie er gehofft hatte.
»Wir haben ein paar Probleme hier.«
»Jon? Herrgott! Sind Sie okay? Wo sind Sie?«
»Ungefähr zwei Kilometer vor einem Ort namens Avass.«
»Dann habt wirklich ihr diese unterirdische Anlage angegriffen.«
»Sie wissen davon?«
»Wir haben ein paar Satellitenbilder, aber das ist auch schon alles. Wir wollten ein paar U-2-Maschinen hinschicken, aber die iranische Luftwaffe ist ziemlich aktiv in der Gegend. Wie ist eure Situation?«
»Schlecht, Fred. Die Iraner haben den Parasiten in der Anlage losgelassen, und ich weiß nicht, wie die Lage dort ist. Was ich weiß, ist, dass es Infizierte in Avass gibt und dass sich viele Bewohner, auch Infizierte, in die Canyons flüchten.«
»Die Verbindung ist nicht besonders gut, Jon, und es darf jetzt keine Missverständnisse zwischen uns geben. Heißt das, es gibt infizierte Leute, die in Avass frei herumlaufen, und auch welche, die den Ort verlassen?«
»Das ist richtig. Kann ich davon ausgehen, dass Sie auf eine solche Situation vorbereitet sind?«
»Wir haben in der vergangenen Woche Ausrüstung und Teams für Biokriegsführung an die iranischen Grenzen zum Irak und zu Afghanistan gebracht. Ihre Freunde beim USAMRIID und CDC glauben aber nicht, dass das reichen wird.«
Ein durchaus begründeter Zweifel, dachte Smith. Normalerweise hatten diese Teams mit bewegungsunfähigen Opfern zu tun, die sich helfen lassen wollten. Sie trafen Vorkehrungen gegen die Ansteckungsgefahr und hatten selbst gegen so verheerende Erreger wie das Pockenvirus gewisse Behandlungsmöglichkeiten. Doch hier war die Lage völlig anders.
»Wir arbeiten hier mehr oder weniger blind«, fuhr Klein fort. »Und ich sage Ihnen ganz offen, dass die Sache durchaus eine gewisse Panik hervorruft. Der Präsident bespricht sich gerade mit den Vereinigten Stabschefs und Vertretern aus Europa, China und Russland. Wir haben ein U-Boot mit Atomwaffen vor der Küste, und es steht auch die Möglichkeit im Raum, sie einzusetzen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
Smith antwortete nicht, sondern sah zu, wie Sarie und Farrokh versuchten, die Leute von der verletzten Frau wegzuziehen. Er dachte an all die Dorfbewohner, die sich ebenso um die Opfer kümmerten. Er dachte an die eben erst infizierten Leute, die im Begriff waren, sich in den Canyons zu verkriechen, und an die, die es geschafft hatten, mit dem Auto wegzufahren, und die bald in die umliegenden Dörfer gelangen würden.
»Jon? Sind Sie noch da?«
»Tun Sie’s, Fred. Setzt die Atomwaffen ein. Auf die ganze Gegend.«
Klein schwieg eine ganze Weile, ehe er sagte: »Nur um sicherzugehen, dass ich Sie nicht falsch verstehe – als Spezialist für Infektionskrankheiten, der diese Krankheit kennt, raten Sie dazu, taktische Nuklearwaffen einzusetzen, direkt auf Ihre aktuelle Position.«
»Ja, dazu rate ich.«
»Ist noch jemand bei Ihnen? Van Keuren? Peter?«
Smith hielt Howell das Telefon hin. Der Brite sah ihn etwas verwirrt an, dann nahm er das Handy. »Hallo? Ja, Brigadegeneral, ich erkenne Sie.«
Smith beugte sich vor und unterdrückte den Drang, sich zu übergeben. Wahrscheinlich hatte er gerade sich selbst, seine Freunde und Tausende unschuldige Menschen zum Tod verurteilt.
»Einen Streifschuss am Kopf«, hörte er Howell sagen. »Aber er scheint ganz okay zu sein. Ja, leider, ich denke, dass es in dieser Situation wahrscheinlich vernünftig wäre.«
Smith spürte, wie ihm jemand auf die Schulter klopfte, und Howell gab das Telefon zurück.
»Jon?«, sagte Klein.
»Ich bin hier.«
»Können Sie uns Ihre aktuelle Position geben? Ich kann unsere Leute anrufen. Es wäre möglich, dass wir einen Hubschrauber durchbringen und …«
»Wir wissen beide, dass das aussichtslos ist, Fred. Tun Sie’s einfach, okay?«
Wieder folgte längeres Schweigen. »Ich werde Ihre Empfehlung an den Präsidenten weitergeben, und mich auch dafür aussprechen. Danke für alles, was Sie getan haben, Jon. Und viel Glück euch allen.«
Die Verbindung wurde getrennt, und er steckte das Telefon langsam ein.
»Alles okay, Kumpel?« Howell legte eine Hand unter seinen Arm, um ihn zu stützen.
»Nicht mein bester Tag heute.«
»Tja, es hätte wohl besser laufen können.« Howell streckte ihm die Hand entgegen. »Trotzdem möchte ich dir sagen, es ist mir eine Ehre, mit dir zusammenzuarbeiten.«