Kapitel einundneunzig

FREDERICK COUNTY, MARYLAND, USA

5. Dezember, 07:22 Uhr GMT-5

 

 

»Hallo?«

Lawrence Drake machte einen zögernden Schritt nach vorne; die gefrorenen Blätter unter seinen Schuhen knackten laut in der Stille der Lichtung. »Ist da jemand?«

»Larry, mit wem …«, rief Dave Collen aus dem Hubschrauber, doch Drake ließ ihn nicht ausreden.

»Halt den Mund und pack die Unterlagen ein!«

Die dichten Wolken im Osten leuchteten im Licht der aufgehenden Sonne und ließen die Umrisse eines SUV und eines großen Kastenwagens hervortreten. Vier menschliche Gestalten – drei Männer und eine Frau – standen vor den Fahrzeugen und rührten sich nicht.

Drake hielt den Atem an, als er stehen blieb, sich umblickte und die schwarze Wand aus Bäumen sah, die die Lichtung umgab.

Es war nun klar, dass der technische Defekt des Hubschraubers nur vorgetäuscht war; der Pilot war offenbar dafür bezahlt worden, sie hier herunterzubringen. Aber von wem? Terroristen? Ausländische Agenten? Waren sie hier, um ihn zu töten?

Noch vor wenigen Jahren wäre so etwas unmöglich gewesen. Aber die Muslime hielten sich nicht an die Regeln, die im Kalten Krieg aufgestellt worden waren. Heute war niemand mehr absolut sicher. Der Tod war etwas, mit dem man leben musste.

»Was wollen Sie?« Sein Mund war staubtrocken.

Das Leuchten der Morgendämmerung wurde intensiver und hob einzelne Details der Szene vor ihm hervor. Die Frau war groß und athletisch und hatte blondes Haar, das im Halbdunkel schimmerte. Ihr Gesicht war zwar immer noch nicht zu erkennen, doch sie hatte etwas Vertrautes an sich, ihre Energie war irgendwie zu spüren, obwohl sie sich nicht bewegte.

Er begann zurückzuweichen, doch ihre Stimme ließ ihn innehalten.

»Wo wollen Sie denn hin, Larry?«

»Russell?«, erwiderte er. »Randi Russell? Was zum Teufel soll das? Was tun Sie hier?«

»Ich habe das Team gefunden, das Sie auf Jon und Peter angesetzt haben.«

Er versuchte vergeblich, sich den Schock und die Angst nicht anmerken zu lassen, und hoffte, dass sein Gesicht im Halbdunkel nicht so genau zu erkennen war. »Wovon reden Sie?«

»Alles, was Sie gesehen haben, war eine Fälschung«, sagte sie. »Der Flug von Diego Garcia, die Satellitenbilder des Autos, mit dem sie in die Berge fuhren. Das ist alles von mir und Chuck Mayfield gekommen. In Wirklichkeit waren die zwei die ganze Zeit hundert Meilen entfernt.«

Einen Moment lang bekam Drake keine Luft mehr, doch dann zwang er sich zur Ruhe. Es gab mit Sicherheit einen Ausweg. Er musste ruhig bleiben und nachdenken.

Wenn es stimmte, was sie sagte, und er die ganze Zeit mit falschen Informationen gearbeitet hatte, dann war Smith fast sicher noch am Leben und an den Ereignissen in Avass beteiligt. Das bedeutete, der Anruf von Sepehr Mouradipour war eine Falle; bestimmt hatten sie ihn aufgenommen.

Er wagte nicht, zu Collen zurückzublicken, doch er musste vor allem an die Unterlagen denken. Es war alles da – alles, was sie getan hatten, was sie dem Präsidenten vorenthalten hatten.

Bleib ruhig!

Wenn Russell diese Unterlagen in die Hände bekam, würde ihn das in eine extrem schwierige Lage bringen, aber vielleicht ließ sich die Katastrophe auch dann noch abwenden. Die Politik war manchmal ein sehr schmutziges Geschäft.

»Ich will mit dem Präsidenten sprechen.«

Russell schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er mit Ihnen sprechen will.«

Drake stieß einen gedämpften Schrei aus, als ihn ein Schlag von hinten gegen die Beine zu Boden schickte. Seine Arme wurden zurückgerissen, und er hörte das metallische Klicken von Handschellen, während hinter ihm Dave Collen unter lautem Protest aus dem beschädigten Hubschrauber gezerrt wurde.

Als Drake wieder auf die Füße gezogen wurde, kam Russell über die Lichtung auf ihn zu.

»Was wollen Sie machen, Randi? Mich vor Gericht bringen? Wissen Sie, wie viele schmutzige Geheimnisse ich von diesem Land kenne? Die ganzen schwarzen Operationen, die Auslieferungen, die Deals im Hinterzimmer? Und was ist mit Ihnen und Smith? Für wen arbeiten Sie eigentlich? Könnte es vielleicht sein, dass der Präsident eine Gruppe zusammengestellt hat, die außerhalb der Gesetze operiert? Das könnte ziemlich ungemütlich für ihn werden, wenn es an die Öffentlichkeit kommt.«

Sie blieb zwei Meter vor ihm stehen und neigte den Kopf leicht zur Seite, als sie ihn musterte. »Die Ärzte haben mir gesagt, wenn der Schütze, den Sie zu mir nach Hause geschickt haben, zwei Zentimeter weiter links getroffen hätte, dann hätte mir die Schutzweste nichts genutzt. Dann wäre ich jetzt im günstigsten Fall gelähmt.«

»Sie sind eine verdammt gute Agentin, Randi, das muss man Ihnen lassen. Aber hier geht es um Dinge, mit denen Sie keine Erfahrung haben.«

»Und Sie sind ein Mann, der geschworen hat, dieses Land und seine Menschen zu schützen!«, rief sie. »Sie schulden ihnen Ihre Loyalität – und nicht nur ihnen, sondern auch den Agenten, die jeden Tag für Sie ihr Leben aufs Spiel setzen.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie naiv das klingt, was Sie da sagen, Randi? Jetzt machen Sie schon diese verdammten Handschellen auf. Und sagen Sie Castilla, ich biete ihm meinen Rücktritt aus persönlichen Gründen an. Aber dieses Angebot gilt nicht ewig.«

»Und danach vielleicht ein lukrativer Job in der Privatwirtschaft, was, Larry? Vergessen wir einfach, dass Sie schweigend zugesehen haben, wie sich der Iran eine Biowaffe verschafft, die vielleicht Millionen Amerikaner umbringt. Und was ist mit den vielen unschuldigen Menschen in Uganda? Oder denen, die gerade im Iran sterben? Was ist mit Jon und Peter, die nie mehr nach Hause kommen werden? Das vergessen wir einfach alles, was?«

Die Wut in ihrer Stimme ließ ihm den Schweiß auf die Stirn treten, vor allem, wenn er daran dachte, was man ihr alles nachsagte. Aber das hier war trotzdem nur Theater. Randi Russell war eine ganz gewöhnliche Soldatin – ein ersetzbares Rädchen in dem Getriebe, das sie nicht wirklich durchschaute.

»Sie können schimpfen, so viel Sie wollen, Randi, aber Castilla wird mich nicht vor Gericht bringen – dafür weiß ich einfach zu viel. Und nach dem Lazarus-Fiasko kann sich die CIA nicht noch ein blaues Auge leisten.«

Sie lachte und ging zu den Fahrzeugen zurück, die am Rande der Lichtung abgestellt waren. »Wer von uns beiden ist hier naiv, Larry?«

Drake spürte eine Pistole am Hinterkopf und sah sich gezwungen, ihr zu folgen. Collen tauchte neben ihm auf; der Mann, der ihn aus dem Hubschrauber geholt hatte, hielt in der einen Hand die Pistole, in der anderen die Tasche mit den Unterlagen.

Die Hecktür des Kastenwagens war offen, und Russells Männer zogen drei große Säcke hervor. Verwirrt sah Drake zu, wie sie die schwarzen Plastiksäcke zum Hubschrauber schleppten. Erst als sie an ihm vorbeigingen, konnte er erkennen, was drinnen war.

Leichen.

»Warten Sie!«, sagte er. »Was …«

Der Mann hinter Drake gab ihm einen so heftigen Stoß, dass er auf dem eisigen Boden fast das Gleichgewicht verlor. Randi packte ihn im Nacken und schob ihn in den Kastenwagen. »Wie Sie gesagt haben, Larry, die CIA kann sich nicht noch ein blaues Auge leisten.«

»NEIN!«, rief er, als Collen nach ihm in den Wagen geworfen wurde.

Die Tür ging zu, und sie hockten im Dunkeln, als der Motor gestartet wurde und der Wagen mit einem Ruck losfuhr. Im nächsten Augenblick hörte er das Geräusch, das er befürchtet hatte – die Explosion, in der der Hubschrauber mit den drei Leichen verbrennen würde.

Die ganze Welt würde glauben, dass er bei dem Absturz ums Leben gekommen war.

Es würde ein Staatsbegräbnis geben, und in der Grabrede würde man seinen selbstlosen Dienst für das Land würdigen. Seine Frau würde an einem Sarg trauern, in dem die Leiche eines Fremden lag. Sie würde keine Ahnung haben, dass ihr Mann in einem namenlosen Grab lag, irgendwo in dem Land, das er verraten hatte.

Die Ares Entscheidung
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