Prolog
Jahrelang sprach ich weder über meinen Bruder Leo noch über meinen Freund Charles oder über das, was in jenem Sommer 1989 in Solthaven geschehen war, und das aus einem einzigen Grund: Es schmerzte mich zu sehr, wenn ich nur an sie dachte. Denn dachte ich an sie, erinnerte ich mich zwangsweise an den Tag, als mein Bruder Leo meine große Liebe Charles mit dem Gewehr meiner Mutter erschoss.
Es mag sein, dass der Schock über den Verlust geliebter Menschen bei manchen so tief sitzt, dass sie die Tragweite erst allmählich erfassen. Bei mir war das anders. Als ich erfuhr, dass mein Bruder meinen Freund erschossen hatte, war mir schlagartig klar, dass ich die beiden Menschen, die ich am meisten liebte, verloren hatte.
Mir war bewusst, dass Leo für Jahre ins Gefängnis gehen würde. Nie mehr würde er für mich das sein, was er bis zu diesem Sommer gewesen war: mein großer Bruder, der mich liebte und beschützte und dem ich bedingungslos vertraute. Mir war ebenso bewusst, dass ich Charles nie mehr würde lachen hören und dass er mich nie wieder in den Arm nehmen würde. Als ich von seinem Tod erfuhr, begann ich sofort zu weinen, und ich weinte die Nacht durch. Die Tränen liefen mir über die Wangen, und nichts konnte sie stoppen, weder die Umarmungen meiner Mutter noch die tröstenden Worte meines Vaters. Gefangen in meinem Schmerz, bemerkte ich nicht einmal, dass mein Bruder in jener Nacht nicht nach Hause kam. Dass er auf der Flucht war, erfuhr ich erst zwei Tage später, nachdem man die Leiche seiner Freundin Claudia gefunden hatte.
In den Tagen danach ließ ich weder meine Eltern noch meine Freunde an mich heran. Ich schlief abends nur schwer ein, das Gesicht vergraben in Charles’ Sweatshirt, das er bei einem seiner letzten Besuche bei uns vergessen hatte. Wenn ich morgens wach wurde, schnupperte ich als Erstes an dem Shirt. Ich tat es nicht, um mich zu trösten. Vielmehr stürzte es mich jedes Mal in einen Canyon reinen Schmerzes, mit tiefen Kratern und zerklüfteten Felsüberhängen, deren scharfe Kanten mein Herz stückweise auseinanderrissen. Ich wusste es. Ich tat es trotzdem. Ich war geradezu süchtig nach diesem Schmerz, denn nur seine alles verzehrende Gewalt bewies mir, dass ich noch lebte.
Natürlich gab es besorgte Freunde und Bekannte, die mich mit Ratschlägen überschütteten. Es würde vorübergehen, der Schmerz nachlassen, die Zeit die Wunden heilen. Ich sei doch erst neunzehn Jahre alt, und früher oder später würde ich jemand anderen lieben. Schlimmer waren nur jene, die mir erklärten, ich müsse Leo vergeben und den Schmerz über Charles’ Tod loslassen. Ich hatte keine Ahnung, worüber sie sprachen. Doch ich gelangte an einen Punkt, an dem mich all die guten Ratschläge nur noch wütend machten und ich mich fragte, warum der Himmel über mir und meinen Eltern eingestürzt war und alle anderen verschont hatte.
Noch viel schmerzhafter aber war ein anderer Gedanke. Charles wurde nur neunzehn Jahre alt, und es gab so viel, das er nie erlebt, nie gesehen, nie geschmeckt oder gerochen hatte.
Als im Herbst 1989 die Mauer fiel, wurde das Leben auf einmal bunt und abenteuerlich und die Welt grenzenlos. Ich fuhr zum ersten Mal zum Skilaufen in die Alpen und aß meinen ersten luftgetrockneten Tiroler Speck mit Knoblauch und Cornichons auf dunklem, mit Anis gewürztem Bauernbrot. Immer begleitete mich dabei dieser Gedanke: Was wäre, wenn … Ich hielt dann inne, und mich durchfuhr ein tiefer, beunruhigender Schmerz, der mich zurück in die Vergangenheit katapultierte.
Wenn mich damals jemand gefragt hätte, ob ich etwas in meinem Leben bedauere, so hätte ich geantwortet: Ich bedauere jeden Moment, den ich ohne Charles gelebt habe. Für einen Außenstehenden mochte das vergangenheitsbesessen klingen, zu wenig im Hier und Jetzt. Doch ich lebte im Hier und Jetzt, und ich liebte mein Leben. Ich bedauerte nur zutiefst, es nicht mit Charles teilen zu können.
Mit meinem Leben habe ich längst meinen Frieden gemacht. Ich habe einen zehnjährigen Sohn und einen Freund. Für diese beiden Menschen in meinem Leben bin ich zutiefst dankbar.
Dennoch war mir stets bewusst, wie dünn das Eis ist, das mich durch mein Leben trägt, und dass es jederzeit brechen kann.
Als es dann tatsächlich brach, gab es keine Vorzeichen, keine Vorboten, keine Warnung, und es erwischte mich eiskalt aus dem Hinterhalt, als die Gespenster aus meiner Vergangenheit zurückkehrten.