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Das Dossier hielt mich länger auf als erwartet. Doch Cornelius nahm es gelassen, als ich ihm mitteilte, dass ich der Morgenkonferenz fernbleiben würde.
Gegen zehn fuhr ich los, die Sitzheizung auf vier gestellt, die Klimaanlage auf 26 Grad. Ich wusste nicht, wie lange ich bei dem anhaltenden Schneefall für die 160 Kilometer bis Solthaven brauchen würde, und ich wollte es zumindest warm und gemütlich haben. Die Straßenlage war katastrophal, und es war mit Blitzeis, Schneeverwehungen und Staus zu rechnen.
Ich rief Alex vom Auto aus an. Er war nicht sehr begeistert, als ich ihn bat, Max von der Schule abzuholen.
»Du weißt doch genau, dass ich mit Kindern nichts anfangen kann«, sagte er mit kaum unterdrücktem Ärger. Damit hatte ich gerechnet.
»Irgendwann müsst ihr euch mal besser kennen lernen. Warum nicht auf der Fahrt zu meinem Vater?«
»Es geht nicht anders, oder?«, fragte er nach, obwohl er die Antwort längst kannte.
»Nein.«
»Julie, ich tue das für dich. Aber das nächste Mal fragst du mich erst und verplanst mich nicht einfach. Könnten wir uns darauf einigen?«
Grundsätzlich hatte er Recht, und ich maßte mir gemeinhin auch nicht an, über das Leben anderer zu verfügen. Doch es war eine Ausnahme. Außerdem hatten wir ohnehin geplant, heute zu dritt zu meinem Vater zu fahren, sobald Max aus der Schule kam. Insofern konnte keine Rede davon sein, dass ich Alex verplant hatte. Ich behielt diesen Gedanken jedoch für mich, entschuldigte mich vielmehr, gelobte Besserung und erklärte Alex dann, wo die Schule lag und wie er Max finden konnte. Danach machte ich ein Kussgeräusch, hoffte das Beste und legte auf.
Ich hatte solche Konflikte zwischen uns schon mehrmals erlebt. Sie entsprangen seiner stets lauernden Abwehr gegen zu viel Nähe und zu viel Familie. Ich hatte Verständnis, denn ich kannte dieses Verhalten von mir selbst. Dennoch ermutigte es mich nicht besonders, ihm von meiner Schwangerschaft zu erzählen. Ich konnte nicht einschätzen, wie es mit uns weitergehen würde, sobald er es erfuhr. Ich wusste, was ich mir wünschte. Aber reichte das, um gemeinsam glücklich zu werden?
Alex arbeitete freiberuflich für ein Fernsehmagazin, und wir waren seit einem Jahr zusammen. Bei einem Empfang des Hamburger Senats war ich in ihn hineingerannt, als ich mich auf der Suche nach dem kalten Buffet durch die Menschenmenge schob und er gerade einen Beitrag über die Wahlen und die neue Bürgerschaft drehte. Wir hatten geplaudert und schließlich unsere Visitenkarten ausgetauscht. Einen Tag später rief er mich an und lud mich zum Essen ein. Es war angenehm und leicht gewesen, mit ihm zu reden, und ich nahm an, das, was er hörte, hatte ihm gefallen. Das, was er sah, wohl auch, denn wir gingen noch am selben Abend miteinander ins Bett. Alex war ein Frauentyp, mittelgroß, kernig, durchtrainiert, mit leuchtend blauen Augen, kurzen blonden Haaren und mit jeder Menge Lachfalten.
Nach unserer ersten gemeinsamen Nacht erwachte ich in jener frühen Stunde des Morgens, wenn das Zwielicht die nächtlichen Schatten verdrängt. Ich hatte am Vorabend zu viel getrunken, Sodbrennen plagte mich, und unerträglicher Durst zwang mich aufzustehen, um im Bad Wasser gleich aus dem Hahn zu trinken. Als ich zurückkam, betrachtete ich den Mann, dessen Körper gekrümmt unter der Decke lag, die Knie fast bis zur Brust gezogen, das Gesicht mir zugewandt.
»Leg dich wieder hin«, murmelte er unvermittelt, blinzelte und streckte sich. Unter der Daunendecke kam eine Hand hervor, griff nach mir, warm und behutsam, und zog mich zurück ins Bett.
Er schob sich an meinen Rücken, küsste meinen Nacken und hielt mich fest umarmt. Ich wagte nicht, mich zu rühren, so sehr genoss ich die Wärme seiner Haut und den Atem an meinem Hals, während ich auf den Wind horchte, der draußen um das Haus pfiff. Während ich diesem gleichmäßigen Atem lauschte, wurde mir klar, dass ich endlich frei war und dass die Schwermut, die sich vor zwei Jahrzehnten auf meine Seele gelegt hatte, fort war.
Vielleicht würde sie eines Tages wieder hervorgekrochen kommen, doch solange Alex an meiner Seite war, würde alles gut sein. Vor Dankbarkeit machte mein Herz einen Sprung, und ich begriff, dass ich verliebt war. Ohne Vorbehalte, ohne Ängste und ohne die üblichen Abwehrmechanismen, die mich seit Charles’ Tod begleitet hatten. So lag ich zufrieden in seinen Armen, mit wirren Haaren und zerknittertem Gesicht – und es war mir völlig egal.
Seit dieser Nacht waren wir ein Paar – und das verwunderte mich selbst am meisten, denn bis dahin war ich im Beenden von Affären oder Beziehungen mindestens ebenso versiert wie darin, sie zu beginnen.
Bis Lüneburg klebten meine Augen an den Hecklichtern eines LKWs, dessen breite Reifen eine komfortable Spur auf der Autobahn zogen. Ich fuhr ihm hinterher und lauschte im Radio dem Morgenmagazin des NDR.
Hinter Lüneburg quälten sich die Räder meines Audis über vereiste Bundesstraßen. Dörfer, dichte Nadelwälder und Felder krochen auf mich zu und wichen wieder zurück. Die langen Arme von Windrädern, alte Fabriken, neue Lagerhallen, das Skelett einer Kirchenruine, die umgefallenen Grabsteine eines alten, längst aufgegebenen Friedhofs ließ ich hinter mir.
Meine Schultern wurden langsam steif, meine Beine brauchten Bewegung, und mein Kopf verlangte nach einem Kaffee.
An einer Tankstelle besorgte ich mir einen Kaffee extra large und ein frisches Salamibaguette mit dem üblichen Salatblatt. Danach war ich etwas wacher.
Inzwischen fegten Sturmböen den Schnee über die weiten Felder auf die Straße, und das offene Land verschmolz zu einem Tunnel wild tanzender Flocken. Ich fuhr nur noch 30, höchstens 40.
Meine Gedanken schweiften ab. Ich dachte an Charles und an meinen Bruder Leo, der Wert darauf legte, dass wir ihn Lio nannten.
Ich meine, hey!, es waren die Achtziger. Wir hörten NDR oder selbstgemixte Kassetten, die wir mit Songs aus dem Radio bespielten. In den Läden gab es Platten von Stevie Wonder, Rod Stewart oder Tina Turner. An den Schulen wurde Englisch gelehrt, und wer etwas auf sich hielt, nannte sich Piet statt Peter oder Lio statt Leo. Eltern gaben ihren Kindern Namen wie Marcel oder Robin, Jacqueline oder Roxanne. Hauptsache, es klang irgendwie nach großer weiter Welt und nicht nach schäbiger DDR, baumwollenen Schlüpfern und spießigen Polyesterpullovern.
Schon während meiner Kindheit in den Siebzigern war Leo mein großer Held gewesen, mein heimlicher Ritter, an dem ich wie eine Klette hing und dem ich überallhin folgte. Sicher, es gab Tage, da er mit seinen Kumpeln allein unterwegs sein wollte, und dann verbot er mir, ihnen zu folgen. Ich tat es trotzdem. Wenn er mich entdeckte, wie ich hinter einem der Büsche kauerte in dem Bemühen, nicht gesehen zu werden, aber auch ja nichts zu verpassen, lachte er, zerrte mich hervor und wies mir irgendeine Rolle in ihren Spielen zu. Und sei es nur, dass ich die Fußbälle einsammeln musste, die sie früher oder später über den Zaun in einen der Nachbargärten schossen. Manchmal durfte ich auch die Prinzessin sein, die aus den Fängen eines bösen Prinzen befreit wurde und die – die Schultern umweht von einer alten Spitzengardine und auf dem Kopf eine goldene Pappkrone – mit ihrem Retter in eine glückliche Zukunft ritt. Das war meine Lieblingsrolle.
Doch von einem Tag auf den anderen zog sich Leo von mir zurück. Sein Lachen war wie weggezaubert, und er wurde launisch und unberechenbar. Meine Mutter beruhigte mich. So sei das eben mit den Jungs, wenn sie in die Pubertät kämen und erwachsen würden. Ich wusste zwar damals nicht genau, was Pubertät bedeutete, aber ich wusste genau, dass Leos Verhalten nichts damit zu tun hatte.
Natürlich war mein Bruder nicht perfekt. Schon mit zehn Jahren war er leicht reizbar gewesen und nie einer Konfrontation oder einem Kampf aus dem Weg gegangen. Ich erinnerte mich noch genau, wie er einen Jungen verprügelte, der drei Jahre älter und anderthalb Köpfe größer war als er. Er tat es, um mich zu verteidigen, denn der Junge hatte mich auf dem Nachhauseweg aus Übermut vom Fahrrad gerissen. Ich hatte mir die Knie aufgeschlagen und einen langen Riss in meinem Rock, mit dem ich am Sattel hängengeblieben war. Meine Mutter hatte mir den Rock auf einer alten Singer-Nähmaschine genäht, und ich trug ihn das erste Mal in der Schule, denn eigentlich war er nur für besondere Anlässe gedacht. Ich hatte tagelang gebettelt und das geradezu heilige Versprechen abgegeben, besonders gut auf ihn zu achten, bis ich Eddie endlich herumgekriegt hatte.
Eddie war über den ramponierten Rock so empört, dass sie mir einen dreitägigen Stubenarrest verordnete, und während Leo draußen herumtollte, saß ich heulend in meinem Zimmer. Am Abend kroch ich zu ihm ins Bett und erzählte ihm, was dieser Junge mir angetan hatte. Leo dachte nicht lange nach. Der Junge war fällig, und so lauerte er ihm nach der Schule auf. Als er von ihm abließ, war das linke Handgelenk seines Gegners gebrochen.