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Ich passierte die alte Grenzanlage, von der aus es nicht mehr weit bis Solthaven war. Über Nacht hatte man die Grenze einst errichtet, über Nacht war sie gefallen. Lediglich ein Schild und die grauen Kolonnenwege erinnerten noch daran, dass Deutschland hier einmal geteilt war. Wie jedes Mal, wenn ich auf der Fahrt zu meinen Eltern den ehemaligen Todesstreifen passierte, befiel mich auch dieses Mal Beklommenheit.

Für meinen Sohn würde es später unvorstellbar sein, dass unsere Welt hier früher einmal zu Ende war. Einfach so. Selbstschussanlagen und Stacheldraht, Scheinwerfer und Schießbefehle. Ein Durchkommen war unmöglich.

Ich war mit der Vorstellung aufgewachsen, dass es dieses Ende meiner Welt gab. Es existierte ein Dahinter mit dem Camel-Mann hoch zu Ross, Fa-Seife, Tabac-Rasierwasser, Dallas und mit Tina Turner. Mit schnellen Autos und Frauen, die so schön waren, wie wir es niemals sein würden. Doch dieses Dahinter existierte für mich nicht. Es war wie ein Werbeclip, der einem Träume verkaufte, die man besser nicht träumte.

Hatte ich darunter gelitten? Nein. Es lag außerhalb meines Vorstellungsvermögens – und auch außerhalb des Vorstellungsvermögens aller anderen, die ich kannte. Es war verbotenes Land. Eine Welt hinter der Welt. Hinüberzuwollen kam einem Todeswunsch gleich. Man hätte sich auch einen Strick nehmen können.

Unweit dieser Grenzanlage hatte sich Koslowski Mitte der Achtziger einen Unterschlupf auf einem alten, verlassenen Bauernhof eingerichtet, gesichert durch die Grenze zum Westen und durch das etwa fünf Kilometer breite Sperrgebiet im Osten, in dem der Hof lag. Denn als die Mauer noch stand, brauchte jeder DDR-Bürger für das Betreten dieses Landstrichs eine Sondergenehmigung. Die Bauern der LPGs besaßen sie, um hier die Felder zu bestellen. Imker besaßen sie, um hier im Sommer ihre Wanderwagen aufzustellen, und Jäger, um zu jagen. Meine Mutter besaß keine. Sie hatte hier dennoch gejagt wie schon ihr Vater und ihr Großvater. Ja, ich stammte aus einer Dynastie von Wilderern, auch wenn das in unserer Familie niemals jemand zugegeben hätte.

Mein Bruder und seine Freunde hatten sich hier ebenfalls herumgetrieben, angezogen vom Reiz des Verbotenen. Hätte man sie oder meine Mutter in jenen Jahren im Sperrgebiet erwischt, wären sie wegen Republikflucht verurteilt worden.

Noch heute gab es in den Wäldern eine intakte Tunnelanlage der Wehrmacht aus dem Zweiten Weltkrieg, in denen die Jungs damals, so besagten die Gerüchte, einen Großteil des nicht gefundenen Diebesguts aus ihren Raubzügen und Geld aus ihren Erpressungen versteckt haben sollen. Ansonsten war das Land hier leer gewesen – bis auf die Tiere und bis auf Koslowski und seine Kinderleichen. Vielleicht hatte Koslowski das Versteck der Jungen sogar gekannt.

Ich bekam eine Gänsehaut. Was tat ich hier eigentlich? Vielleicht hätte ich Max besser selbst abholen und ihm Spaghetti bolognese kochen und dann gemeinsam mit ihm zu meinem Vater fahren sollen. Stattdessen versetzte ich meinen Sohn für einen Serienmörder. Weshalb tat ich das? Was wollte Koslowski ausgerechnet von mir? Ich konnte nur spekulieren. Vielleicht wollte er seine Memoiren schreiben und brauchte einen Ghostwriter. Vielleicht langweilte er sich und hatte mich zum Zeitvertreib zu sich bestellt. Oder er wollte die ganz große Story loswerden, die, die nie erzählt worden war. Nur was sollte das sein? Zumal sie nicht veröffentlicht werden sollte.

Wie auch immer ich es drehte, ich hatte keinen blassen Schimmer, worum es ihm ging. Ich konnte nur meinem beruflichen Instinkt vertrauen und jener plötzlichen Regung, die mich bewogen hatte, ihn zu treffen.

Endlich schälte sich das Ortsschild von Solthaven aus dem Schneetreiben hervor. Erleichtert atmete ich auf, denn mein Nacken war steif, und ich spürte einen warnenden Druck im Kopf. Wenn ich Pech hatte, würde der sich später zu rasanten Kopfschmerzen auswachsen.

Ich schaute auf die Uhr. Kurz nach halb zwei. Zu spät, um noch bei meinem Vater vorbeizuschauen. Das war nicht schlimm, denn als ich ihn morgens angerufen und gefragt hatte, ob wir mittags zum Essen vorbeikommen sollten, hatte er sich zu einer halbherzigen Einladung durchgerungen. Er aß mittags selten, und wir würden ohnehin gemeinsam zu Abend essen. So rief ich ihn an, sagte ab, und statt zu ihm abzubiegen, blieb ich auf der Hauptstraße, die mit weihnachtlichen Lichterketten überspannt war und mich ins Stadtzentrum führte. Ich hielt schließlich vor einem winzigen Blumenladen, den es seit über 40 Jahren gab.

Ein klappriger, rostbrauner Mercedes ohne Licht kam durch den Schneefall auf mich zu, als ich auf der Fahrbahnseite ausstieg. Der Mann am Steuer trug einen Hut und winkte mir zu. Ich winkte zurück, obwohl ich nicht wusste, wer mich da grüßte. Aber das spielte in einer Kleinstadt wie Solthaven auch keine Rolle. Hier winkte man stets zurück.

Dora, die Ladeninhaberin, kam hinter einem Vorhang hervor, als die Klingel über der Tür einen hellen Ton von sich gab. Sie erkannte mich nicht oder wollte mich nicht erkennen und bediente mich mit jener gleichgültigen Freundlichkeit, die viele Verkäuferinnen der anonymen Laufkundschaft entgegenbringen.

Ich suchte ein Grabgesteck mit Moos und Blautanne für meine Mutter aus und bezahlte mit meiner Kreditkarte. Sie las den Namen und gab mir die Karte zurück. Kein freundliches Erkennen überzog ihr Gesicht.

Sie wusste, wer ich war. Meiner Kreditkarte hatte es nicht bedurft.

Es hatte sich nichts geändert in dieser Stadt. Ich war noch immer die Schwester eines flüchtigen Mörders, die man am besten ignorierte oder der man gleich ganz aus dem Weg ging.

»Danke, Dora«, sagte ich und lächelte, als sie mir die Karte zurückgab. Sie presste den Mund zu einem dünnen Strich zusammen, wischte sich die Hände an der Schürze ab und wandte sich ab. Ich nahm das Gesteck an mich, ging ohne Abschiedsgruß und fragte mich, wer mir da eben aus dem Auto so freundlich zugewinkt hatte.