6

Kuhfelde war ein langgezogenes Dorf mit knapp 600 Einwohnern. Es lag etwa acht Kilometer südlich von Solthaven Richtung Magdeburg.

Am Ortseingang empfing mich ein orangefarbenes Schild mit großen schwarzen Lettern: »Noch 100 Meter bis zum Kinderschänder«. Trotz des anhaltenden Schneefalls erkannte ich eine Gruppe von acht Demonstranten, kaum dass ich das Schild passiert hatte.

Die Gruppe hatte sich neben einem weiteren Plakat um einen Campingtisch versammelt, auf dem zwei Thermoskannen standen. Ein Polizeiwagen parkte gegenüber, und zwei Beamte standen neben den Bewohnern, die mein Auto misstrauisch beäugten, als ich es hinter dem Einsatzwagen parkte.

Bevor ich ausstieg, kramte ich vorsorglich meinen Presseausweis aus dem Portemonnaie und steckte ihn in die Jackentasche. Entschlossen, mich nicht in eine Diskussion verwickeln zu lassen, zwängte ich mich durch die Leute, die vor der Gartenpforte standen.

Eine gedrungene Frau in einem langen grauen Daunenmantel versperrte mir den Weg. Ihr Gesicht war kantig und ihre Wangen vor Kälte gerötet. Sie trug derbe geschnürte Männerschuhe und dicke Fäustlinge, auf denen eine dünne Schneeschicht wie Raureif lag.

»Was wollen Sie hier?«, fauchte sie mich an. Vor ihrem Mund bildeten sich kleine Wölkchen.

»Ich mache nur meinen Job«, antwortete ich, zog meinen Presseausweis aus der Jackentasche und hielt ihn ihr unter die Nase. Die Schneeflocken hinterließen im Nu einen feuchten Film auf dem Plastikausweis.

»Der kriegt Gelegenheit, sich zu rechtfertigen?« Sie sah zu einem älteren Mann.

»Lassen Sie mich bitte einfach durch.«

»Jetzt lass sie schon gehen«, sagte der Mann.

Ich wischte den Ausweis an meiner Jeans ab, steckte ihn zurück in die Jackentasche und zwängte mich an der Frau vorbei.

»Das stinkt doch zum Himmel!«, hörte ich sie hinter meinem Rücken, während ich den Gartenweg auf das Haus zuging. »Warum befragen Sie nicht die Angehörigen der Opfer, Eltern, Freunde?«

In einem der beiden Fenster, die nach vorn gingen, bewegte sich eine Gardine.

Ein Schneeball traf meinen Rücken, ein weiterer flog vorbei, dann traf mich einer am Kopf. Ich drehte mich nicht um, und ich erwartete auch nicht, dass einer der Polizisten einschritt.

»Meine Güte, Iris«, hörte ich wieder die Männerstimme. »Davon wird es auch nicht besser.«

Jemand öffnete die Haustür, bevor ich sie erreichte, und zog mich hastig ins Haus. Ich wollte etwas sagen, doch der Mann kam mir zuvor.

»Erschrecken Sie nicht. Ich bin Ludger«, sagte er. »Der Bruder. Tut mir leid, wir hätten Sie warnen sollen.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Schon okay.«

Ich trat mir den Schnee von den Schuhen und folgte ihm in ein spärlich möbliertes Zimmer, in dem die Jalousien heruntergelassen waren und in dem sich der kalte Rauch verglommener Zigaretten mit einer stickigen Heizungsluft mischte und mir beim Betreten fast den Atem nahm.

Die Hände vor sich verschränkt, saß Roland Koslowski in Jeans und dunkelblauem T-Shirt an einem runden Esstisch und starrte mir wortlos entgegen. Ich nickte ihm zu und setzte mich ihm gegenüber auf einen Holzstuhl, der verdächtig knarrte.

Zu gern hätte ich ein Fenster aufgerissen und gelüftet, doch der Raum ging nach vorne raus, und jede Bewegung am Haus würde den Zorn der Demonstranten nur weiter schüren. Ich hoffte nur, dass mir nicht wieder übel würde. Immerhin hatte ich das Baguette gegessen. Manchmal dämpfte es die Übelkeit, wenn ich etwas im Magen hatte.

Obwohl Koslowski in Solthaven aufgewachsen war, war ich ihm während meiner Schulzeit nie begegnet. Das erste Mal gesehen hatte ich ihn vor rund 20 Jahren auf Schwarzweißfotos, die in den Zeitungen erschienen waren, nachdem ihn die Polizei als Kindermörder überführt und verhaftet hatte. Inzwischen war er 62. Sein Haar war ergraut, und er trug es kürzer, doch er war noch immer breitschultrig und muskulös. Nur seine massigen Züge hingen in einem seltsam erschlafften Gesicht, das mich an das eines Mastino Napoletano erinnerte. Er besaß die gleichen hängenden Lefzen und überschüssigen Hautwülste, und er verströmte die gleiche unterschwellige Gereiztheit.

»Ich hatte doch gesagt, keine Aufzeichnungen«, brach seine raue Stimme das Schweigen, als ich mein Aufnahmegerät auf den Tisch stellte. »Das war die Bedingung.«

»Okay«, sagte ich. »Aber reden wollen Sie schon noch mit mir?«

»Weshalb sitze ich wohl hier?«

Mir lag eine Entgegnung auf der Zunge, doch ich schluckte sie hinunter.

»Dann reden Sie«, sagte ich und steckte das Gerät zurück in meine Handtasche.

»Sie wissen, weshalb ich 20 Jahre gesessen habe?«

»Vor dem Haus demonstrieren trotz des Wetters etliche Dorfbewohner gegen Ihre Anwesenheit, und am Ortseingang hängt unübersehbar ein Plakat von Ihren Mitbürgern«, sagte ich. »Darauf steht: Noch 100 Meter bis zum Kinderschänder.«

»Sexualstraftäter wäre korrekt. Und korrekterweise würde ich auch noch im Knast sitzen und da auch bis ans Ende meiner Tage bleiben, wenn dieser Richter damals seine Gedanken beisammengehabt hätte.«

»Dieser Verfahrensfehler …«

»… bedeutet die Hölle für mich und meine Familie«, unterbrach er mich aufgebracht. »Als Sie eben vor dem Haus ankamen, hat dieser Mob doch selbst Sie beschimpft und bedroht. Was glauben Sie, wie das ist, wenn man das täglich erlebt?«

»Machen Sie sich um mich mal keine Gedanken. Ich kann mit der Wut der Leute schon umgehen«, sagte ich und fragte mich, wie weit er gehen würde.

Als Gerichtsreporterin kannte ich dieses Verhalten zur Genüge. Kriminelle kultivierten mitunter eine merkwürdige Logik, um sich unter allen Umständen als Opfer darzustellen. Befragte man solche Angeklagten oder Häftlinge, standen sie entweder unschuldig vor Gericht oder saßen wegen eines Justizirrtums im Gefängnis. Koslowski allerdings war der Erste, dem ich begegnete, der aufgrund eines Verfahrensfehlers freigekommen war und sich deshalb zum Opfer stilisierte.

»Seit ich vor vier Monaten aus dem Knast kam, erlebe ich das jeden Tag«, sagte er. »Inzwischen verlasse ich das Haus nicht mehr. Die Frau meines Bruders ist zu ihren Eltern gezogen, sein Sohn nach Berlin abgehauen. Ich hab meine Strafe abgesessen und bin rechtmäßig auf freiem Fuß. Trotzdem wollen die da draußen meinen Kopf.«

Er brach ab und wischte sich mit einer dramatischen Geste über die Augen, als sei er erschöpft von so viel Ungerechtigkeit.

Mein Mitgefühl für ihn hielt sich in Grenzen.

»Weshalb lassen Sie sich nicht in eine psychiatrische Einrichtung einweisen? Damit wären all Ihre Probleme zumindest für die nächste Zeit gelöst.«

»Sind Sie irre? Ich hab die ganzen Jahre hinter Gittern verbracht. Sie glauben doch nicht ernsthaft, ich lasse mich freiwillig noch mal einsperren.«

»Was wollen Sie also von mir?«, wechselte ich das Thema.

Koslowski lächelte und beugte sich vor. Das Lächeln veränderte etwas in seinem Gesicht. Es wurde weicher, beinahe sympathisch, und ich bekam eine Ahnung davon, wie der Mann die Kinder angelockt hatte. Es war ein besänftigendes »Guter-Onkel-Lächeln«, und er hatte es immer noch drauf.

»Das, was ich Ihnen erzählen werde, ist die Wahrheit.«

Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor dem Brustkorb und fixierte mich, während das Lächeln seine nikotingelben Zähne freilegte.

»Die Wahrheit?« Ich konzentrierte mich auf das Gelb seiner Zähne und bemühte mich, möglichst emotionslos und professionell zu reagieren. »Ich nehme an, Ihr Prozess brachte die Wahrheit an den Tag. Was wäre dem also noch hinzufügen?«

»Es gab da etwas«, sagte er und fummelte eine Zigarette aus dem Päckchen, das vor ihm auf dem Tisch lag.

»Könnten Sie das bitte lassen?« Ich deutete auf die Zigaretten.

»Eine?«, fragte er.

Ich zuckte mit den Achseln. In der Handtasche klingelte mein Handy.

»Sorry.«

Ich warf einen Blick aufs Display. Es war Alex. Ich stellte das Handy ab. Er konnte mir eine Nachricht hinterlassen, und ich würde ihn später zurückrufen.

»Also?«, wandte ich mich wieder an Koslowski.

»Ich hab so meine Vorlieben, wissen Sie.«

Ein Streichholz flammte auf. Koslowski zündete die Zigarette an und schickte einen Rauchschwaden an die Decke.

»Schön für Sie.«

»Ich hab auch meine Prinzipien.«

Er pustete das Hölzchen aus und warf es achtlos in einen schmutzigen Aschenbecher, in dem bereits ein Dutzend Kippen lag. Das Lächeln wich einer konzentrierten Wachsamkeit, und seine Stimme nahm schlagartig einen arroganten Unterton an.

»Die hat jeder Serienkiller«, erwiderte ich und fragte mich inzwischen, weshalb ich eigentlich hier war und mir das selbstgefällige Geschwätz eines pathologischen Mörders anhörte. Das brachte doch nichts, und ich hatte Besseres zu tun. Ich stand auf.

»Sie sollten sich in Geduld üben«, sagte er und zog an seiner Zigarette.

»Das reicht.«

Ich bückte mich nach meiner Handtasche.

»Sehen Sie, ich bin kein gewöhnlicher Serienmörder.«

»Begreifen Sie eigentlich, worüber Sie hier reden?«, fragte ich mit einer Schärfe in der Stimme, die jedem, der mich kannte, signalisierte, dass meine Geduld am Ende war. Wie oft hatte ich dieses aufgeblasene Selbstbewusstsein vor Gericht erlebt. Wie oft war ich Angeklagten begegnet, die logen und betrogen, manipulierten und erpressten, um Stärke, Unangreifbarkeit und Coolness zu demonstrieren.

»Bleiben Sie, Frau Lambert. Und hören Sie mir zu.«

Er atmete Rauch aus und musterte mich durch den Qualm hindurch.

»Bitte, Julie«, sagte er. »Es ist wichtig. Sie werden schon sehen.«

Seine Stimme war leiser geworden, die Arroganz daraus verschwunden.

»Frau Lambert für Sie«, erwiderte ich nicht minder scharf als zuvor und blickte auf ihn hinunter. Hatte ich da gerade ein Bitte gehört?

»Frau Lambert«, wiederholte er und fügte erneut ein »Bitte« an, als hätte er meine Gedanken gelesen.

»Sie haben drei Minuten«, erwiderte ich unwirsch und setzte mich wieder hin.

»Ich habe Kinder getötet«, sagte er.

»Nachdem Sie sie gequält und vergewaltigt hatten.«

»Sie hören mir nicht zu«, sagte er. »Ich sprach von Kindern.«

»Und?«

»Ihre erste große Liebe Charles Swann soll 1989 von Ihrem Bruder hinterrücks erschossen worden sein«, sagte er und inhalierte erneut. »Daraufhin haben Sie Solthaven fluchtartig verlassen, sind nach Leipzig gezogen und haben dort studiert. Sie sind nur noch zu Kurzbesuchen zurückgekommen. Sie haben in Berlin gearbeitet und sind schließlich nach Hamburg gegangen, wo Sie als Reporterin für irgend so ein angeblich aufgeklärtes Blatt schreiben. Vor anderthalb Jahren hatte Ihre Mutter den ersten Schlaganfall. Vor zwei Tagen haben Sie sie hier beerdigt. Ich nehme mal an, Sie hofften, Ihr liebreizender Bruder ließe sich noch mal am Grab seiner Mutter blicken. Das tat er vielleicht sogar, nicht wahr?«

Mir lief es kalt den Rücken hinunter, doch ich hielt seinem Blick stand.

»Worauf wollen Sie hinaus?«

Koslowski starrte einen Moment lang auf seine Hand, die breit und mächtig die schlanke Zigarette hielt.

»Ich versuche Ihnen zu erklären, was Ihr Bruder Ihnen und Ihrer Familie angetan hat.«

»Was geht Sie das an?«

»Sie schleppen ganz schön was mit sich rum.«

»So gut kennen Sie mich?«

»Ich kenne Sie besser, als Sie vermuten«, sagte er. »Sie sind 40 Jahre alt, aufgewachsen hier um die Ecke in Solthaven, abgeschlossenes Studium. Ihr Bruder ist damals untergetaucht, Ihre Mutter war Bibliothekarin, Ihr Vater Arzt. Ihr Sohn heißt Max. Seit Sommer 1989 keine besonderen Vorkommnisse in Ihrem Lebenslauf.«

»Ich kenne meinen Lebenslauf«, sagte ich ruhig, während in mir ein Orkan tobte. Woher hatte Koslowski diese Informationen? »Was also wollen Sie von mir?«

»Wie ich schon sagte, ich hatte mich auf Kinder spezialisiert.«

Er sprach so emotionslos, als würde er über ein beliebiges Hobby reden. Ich nahm an, er sah es im Wesentlichen auch so. Vielleicht sollte ich mich vor ihm ekeln oder wütend werden. Doch das tat ich nicht. Ich arbeitete nicht umsonst als Gerichtsreporterin. Ich hatte Mütter auf der Anklagebank kennen gelernt, die ihre Kinder erst erstickt und dann in Kühltruhen gelagert hatten. Ich hatte Männer erlebt, die ihre Kinder schlugen, bis die zarten Rippen brachen und sich in die kleinen Lungenflügel bohrten. Ich hätte niemals über diese Fälle berichten können, wenn ich nicht gelernt hätte, jederzeit eine professionelle Distanz zu den Tätern, zu ihren Verbrechen und zu ihren Opfern einzunehmen.

Doch es war anstrengend, und ich war mir bewusst, wie schmal der Grat war. Schlussendlich jedoch siegte meine Professionalität als Journalistin, und so nickte ich. Ja, ich wusste, dass er sich auf Kinder spezialisiert hatte.

»Nehmen Sie mal an, ich plante alles perfekt und weit im Voraus. Wissen Sie, was das bedeutet?«

»Sagen Sie es mir.«

»Man muss Geduld haben. Man sucht das perfekte Opfer unter Hunderten aus. Man studiert seine Gewohnheiten. Wann es zur Schule geht, wann es nach Hause kommt. Wie oft es bummelt. Wo es zum Sport hingeht. Wann die Eltern arbeiten oder zu Hause sind. Ich kannte die besten Freunde, die Vorlieben, jedes Detail, und ich wartete auf die perfekte Gelegenheit.«

»Ich verstehe immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen.«

»Haben Sie etwas Geduld«, sagte er. »Alle reden immer vom Druck, der sich bei einem Sexualstraftäter aufbaut.«

»Und?«

»Das ist richtig. Doch der Druck bedeutet nicht, dass jemand mit Prinzipien wie ich wahllos wird. Jemand wie ich braucht den Kick. Der Kick muss wachsen.«

»Sie meinen, Ihre Vergewaltigungen und Morde wurden zunehmend ausschweifender?«

»Meine Fantasien wurden raffinierter.«

»Größenwahnsinniger.«

»Perfekter«, sagte er. »Sie haben es hier mit Kunst zu tun. Das dürfen Sie nie vergessen. Ich war ein Künstler.«

»Kommen Sie auf den Punkt.«

»Erinnern Sie sich an Claudia Langhoff?«

Ich starrte ihn an. Sie war die Freundin meines Bruders gewesen. Die Polizei war wochenlang davon ausgegangen, dass Leo sie vergewaltigte und ermordete, nachdem er Charles erschossen hatte. Erst Koslowskis Geständnis hatte meinen Bruder offiziell entlastet. Nach dem Mord hatte Koslowski Claudias Leiche auf eine stillgelegte Müllhalde geworfen wie einen ausrangierten Putzlappen. Der oft herumstreunende Mischlingshund ihrer Eltern fand sie zwei Tage später und kam stolz mit einem verdreckten Schuh zurück.

»Sie war neunzehn«, fuhr Koslowski fort, als ich schwieg.

»Und?«, fragte ich mit einer Stimme, die mir selbst fremd vorkam.

»Sie hatte einen Freund. Ihren Bruder Leo. Vier Jahre älter als sie. Dabei soll sie ganz scharf auf Charles Swann, Ihren Freund, gewesen sein.«

»Das war schon damals nur dummes Getratsche. Also hören Sie auf, es zu kolportieren.«

Meine Stimme klang ruhig, doch mein Herzschlag folgte seinem eigenen Rhythmus.

»Diese Gerüchte waren aber der Grund dafür, dass man Ihren Bruder zunächst verdächtigte, nicht nur Charles Swann, sondern auch Claudia Langhoff umgebracht zu haben. Aus Eifersucht.« Koslowski grinste.

»Noch ein Wort, und ich gehe.«

»Das werden Sie nicht. Ich habe Sie am Haken.«

Er legte eine Kunstpause ein. Das Grinsen erlosch, und wir starrten einander an. In seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Er hatte Recht, und er wusste es.

»Sie war kein Kind«, sagte er, jede Silbe betonend.

Ich schwieg.

»Haben Sie verstanden?«, hakte er nach.

»Sie eignete sich nicht als Kunstwerk«, beendete ich seinen Gedankengang, und dann brach sich etwas in mir Bahn, an das ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte.

Claudia war nachmittags oft bei uns gewesen, wenn meine Mutter arbeitete und Leo und sie »sturmfreie Bude« hatten. Ich sah ihr Lächeln vor mir, ihre langen blonden Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz band, wenn sie in die Schule ging, und sofort löste, wenn sie Leos Zimmer betrat. Ich sah, wie sie die Tasche mit den Schulbüchern auf die Kommode in seinem Zimmer warf und ihm um den Hals fiel.

Doch Claudias Tod war nur der traurige Abschluss jener Tragödie im Sommer 1989 gewesen. Zwei Tage bevor man Claudias Leiche fand, starb mein Freund Charles an einer Kugel, die ihn von hinten getroffen hatte und in seiner Lunge steckengeblieben war. Innerhalb weniger Tage musste ich auf gleich zwei Beerdigungen, während mein Bruder auf der Flucht war und meine Mutter mit ihrer ersten schweren Depression tagelang im Bett lag.

Die Erinnerung rief lange verdrängte Gefühle hervor.

»Sie war so jung«, sagte ich. »So lebenslustig und unschuldig.«

Ich meinte nicht nur Claudia. Wir alle waren jung gewesen, voller Elan und Freude auf das, was das Leben nach dem gerade bestandenen Abitur für uns bereithielt.

Koslowski schwieg.

»Warum?«, fragte ich mit einer Stimme, die meine Erregung nur mühsam verbarg.

»Ich habe sie nicht umgebracht«, sagte Koslowski.

»Das habe ich verstanden. Aber warum musste sie sterben?«

»Warum hat sich jemand die Mühe gemacht, es so aussehen zu lassen, als hätte ich es getan? Wissen Sie es? Ich weiß nur eines. Diese 19-Jährige passt nicht in mein Schema.«

»Warum erzählen Sie es ausgerechnet mir?«

Er zuckte mit den Schultern. »Fragen Sie Felix Kortner. Der hat den Fall bearbeitet, wie Sie wissen. Denn er hat ja auch Sie vernommen.«

»Er hat die Serienmorde und den Mord an Charles bearbeitet.«

»Er stufte den Tod von Claudia Langhoff als Sexualverbrechen ein und schob es mir in die Schuhe, weil Ihr Bruder nicht zu fassen war.«

»Sie haben sich schuldig bekannt«, sagte ich gequält.

»Ich verhandelte, nachdem Kortner mich geschnappt hatte. Bei mir kam es auf einen Mord mehr nicht an. Kortner brauchte eine perfekte Aufklärungsquote. Sie wissen doch noch, wie das mit dem Plansoll in der DDR war, oder? Immer 105 Prozent, nur ja nicht darunter. Sonst gab es keine Prämie, keine Beförderung und Privilegien wie den neuen Lada schon gar nicht. Und bitte keine unaufgeklärten Morde, wenn es in dem sozialistischen Laden hier schon solchen Ausschuss wie Mörder gab. Dann mussten sie zumindest geschnappt werden. Und zwar alle. Warum sollte ich mich nicht schuldig bekennen? An meinem Strafmaß änderte eine Leiche mehr oder weniger nichts.«

»Sie behaupten also, Kortner hat Beweise manipuliert und für den Mord an Claudia Langhoff einen Täter, nämlich Sie, erfunden? Ist Ihnen klar, was Sie da sagen?«

Grinsend zuckte er mit den Schultern.

»Was haben Sie von Kortner für Ihr Entgegenkommen erhalten?«

»Sie wissen doch, dass es solche Gefängnisse gibt und solche. Kortner drohte mir mit Berlin-Hohenschönhausen. Sie kennen den Ruf. Es unterstand bis zum Mauerfall der Staatssicherheit. Normalerweise brachten sie da die Politischen hin, die Abweichler. Aber manchmal auch Leute wie mich. Hohenschönhausen war zu DDR-Zeiten ein saumäßiger Knast mit saumäßigen Bedingungen. Sie schnappten mich im Herbst 89, kurz vor dem Mauerfall. Ich war mir sicher, dass er nach meiner Verurteilung nicht wesentlich komfortabler sein würde.«

»Sie haben in Magdeburg gesessen.«

»Eben. Das war ein Vorzeigeknast. Modernes Zellengebäude, helle Duschen, Zwei-Bett-Zellen. Ich wollte eine Einzelzelle. Die kriegte ich dann auch. Wenn ich Sonderwünsche hatte … nichts Großes, regelmäßig Zigaretten, ab und zu mal ein Extrabesuch … Die Beamten drückten schon mal ein Auge zu. Das war’s zwar, aber es hat mir das Leben erleichtert, wie Sie sich vorstellen können. Sie wissen doch, dass Leute wie ich …«

Er brach ab.

»… selbst unter Schwerverbrechern nichts zu lachen haben und in der Hackordnung ganz unten stehen«, vervollständigte ich den Satz. »Es soll vorkommen, dass Kindermörder wie Sie einen tödlichen Unfall im Knast haben.«

Er beugte sich vor. »Wie waren denn Ihre Erfahrungen mit Kortner? Man hörte ja damals so Geschichten. Als Schwester eines Mörder mussten Sie sich doch bestimmt warm anziehen?«

»Das geht Sie nichts an«, sagte ich barsch.

»Keinen Hass auf Kortner oder Ihren Bruder? Wäre es nicht eine Erleichterung für Sie, wenn Ihr Bruder im Knast säße, um für seine Taten zu büßen?«

»Welche Taten?«, fragte ich mit wenig Überzeugung in der Stimme. »Die Sache mit Charles war ein Unfall, und nie im Leben hat Leo Claudia vergewaltigt und getötet.«

»Wenn er es nicht war, wer dann? Interessiert Sie das nicht?«

»Ich wüsste nicht, weshalb.«

Er lachte auf, zog an seiner Zigarette und lehnte sich zurück.

»Sie arbeiten als Gerichtsreporterin. Sie kennen sich aus, und Sie haben Biss. Sie haben Ihren Bruder doch noch jahrelang gesucht.«

»Weshalb sollte mich ein Mord kümmern, der vor 20 Jahren geschah?«

»Sie werden es tun«, sagte er und stand auf. »Jemand läuft da draußen frei rum. Jemand, der diese Claudia Langhoff vergewaltigt und ermordet hat. Sie wissen doch am besten, dass die Gespenster der Vergangenheit nicht einfach verschwinden. Sie kehren immer zurück. Manchmal früher, manchmal später. Nur eines ist sicher: Sie kommen wieder.«

»Das war es?« Ich stand ebenfalls auf, ergriff meine Tasche und wandte mich zum Gehen.

»Moment noch«, sagte er und ging zum Wohnzimmerschrank. Das Scharnier der Schranktür quietschte leise, als er sie öffnete. Als er sich umdrehte, hielt er einen grau marmorierten Aktenordner in der Hand.

»Nehmen Sie den«, sagte er. »Das Gespenst ist längst wieder unter uns.«