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Das Erste, was der Junge spürte, war Kälte. Sie lag um seinen Kopf wie eine Klammer, und sein Körper fühlte sich an wie ein Sack Kartoffeln, über den eine Traktor gerollt war. Unter seiner Schädeldecke pochte ein träger Schmerz, und sein Kopf schien gewachsen zu sein. Vorsichtig tastete er ihn ab. Etwas, das sich wie ein Verband anfühlte, war um seine Stirn und den Hinterkopf gewickelt.
Jan schlug die Augen auf. Dunkelheit umgab ihn. Er drehte vorsichtig den Kopf. Ein dünner Lichtstrahl kroch von irgendwoher über den Fußboden. Sein Blick folgte dem Licht, das durch einen Spalt unten an der Tür hereinfiel.
Angespannt lauschte er, doch er hörte keinen Laut. Er schnupperte. Es roch heimelig nach gebratenem Fleisch und Kartoffeln. Es erinnerte ihn an die Gerüche im Haus seiner Großmutter, wenn sie mittags auf dem alten Gasherd kochte. Er hatte Hunger, und der Hunger saß quälend in seinem Magen.
Er versuchte, sich zu erinnern. Die tote Frau hatte in der Scheune gelegen. Er war geflüchtet mit all dem Blut an den Schuhen. Er hatte sich verlaufen und diese merkwürdige Frau, Henny Langhoff, getroffen, und sie hatte ihn mit zu sich nach Hause genommen. Von dort war er wieder weggerannt.
Aber wieso lag er jetzt mit verbundenem Kopf in einem Bett?
Er richtete sich langsam auf. In seinem Kopf pochte der Schmerz stärker, und er presste die Hände gegen die Stirn, als könnte das den Schmerz wegdrücken.
Mit der rechten Hand tastete er auf dem Tisch nach einer Lampe. Er warf etwas um, dann noch etwas. Er ertastete einen runden Fuß mit einem Schalter darauf. Als er ihn herunterdrückte, füllte warmes Licht den Raum. Es war ein kleines, schmales Zimmer mit einem Bett, einem Schrank, einem Regal und dem Tisch. Zwei Bilderrahmen waren umgefallen, und er stellte sie wieder auf. Von den Fotos lachten ihm diese Henny Langhoff, ein junges Mädchen und ein junger Mann entgegen. Alle trugen altmodische Kleidung.
In dem Regal standen ein paar Bücher, deren Schutzumschläge an den Kanten eingerissen waren. Daneben lagen Schallplatten zu einem Stapel geschichtet. Auf dem Boden stand ein alter Plattenspieler.
Jan schlug die Bettdecke zurück und sah an sich hinunter. Sie hatte ihm einen Schlafanzug angezogen, einen grünen mit schmalen weißen und gelben Streifen. Sein Blick fiel auf einen Stuhl neben dem Bett. Darauf lagen eine braune Cordhose und eine grüne Wolljacke mit braunen Hornknöpfen, obendrauf eine braune Mütze. Sein Rucksack lag umgekippt daneben. Vor dem Bett standen seine neuen Schnürstiefel.
Hose, Jacke und Mütze gehörten ihm nicht. Er dachte einen Moment nach. Er war die Treppe hinuntergestürzt. Vielleicht war seine Kleidung dabei zerrissen.
Er rutschte an die Bettkante und hüpfte herunter. Schmerz durchschoss seinen linken Fuß. Er schrie leise auf und ließ sich zurück aufs Bett fallen. Er zog das Hosenbein hoch. Sein Knöchel glänzte teils gelb, teils dunkel, und das Knie war geschwollen. Vorsichtig betastete er die Stellen, an der sich die Haut straff über den Schwellungen spannte.
Er drehte den Fuß. Es schmerzte, aber es war auszuhalten. Wenn er vorsichtig war, würde er laufen können.
Behutsam rutschte er vom Bett, humpelte hinüber zum Schrank und schaute hinein. Auf Bügeln hingen fremde Blusen, Röcke und eine dünne Sommerjacke. Der Geruch von Lavendel stieg ihm in die Nase. Zu Hause in den Schränken roch es genauso. Im Frühherbst füllte seine Mutter Lavendelblüten in kleine Säckchen und legte sie in den Kleiderschrank, um den Motten den Spaß zu verderben, wie sie ihm erklärt hatte.
Er drehte sich um und musterte den Raum. Erst jetzt bemerkte er, dass vor dem Fenster ein dunkler Vorhang hing. Er ging hinüber, schob ihn zur Seite und spähte hinaus. Zwischen den hohen Tannen fiel der Schnee noch immer aus einem grauen, schweren Himmel.
Jan sah auf die Uhr. Es war halb vier. Um zwei hätte er Pauline aus dem Kindergarten abholen sollen. Sie würde tagelang schmollen, weil er sie vergessen hatte, und selbst wenn er es ihr erklärte, würde sie es nicht verstehen. Um sechs würden Pauline und Lauren zusammen essen. Wenn er bis dahin nicht zu Hause wäre, würden sie sich Sorgen machen. Seine Schwester würde seine Mutter mit Fragen löchern, selbst wenn seine Mutter ihr sagte, sie solle mal fünf Minuten still sein. Wenn sich Pauline aufregte, konnte sie nicht still sein.
Noch einmal betrachtete er die Sachen, die über dem Stuhl hingen, und entschied, sie anzuziehen. Er würde sie später zurückgeben, doch jetzt brauchte er sie.
Er zog den Schlafanzug aus, nahm die Hose vom Stuhl und stieg vorsichtig hinein. Die Hose war zu lang, und er musste sie unten umschlagen. Als er sich bückte, glaubte er, sein Kopf explodiere. Er schlüpfte in die Stiefel und band sie zu.
Er dachte an die fremde Frau, die in der Scheune gelegen hatte. Ob sie wohl auch solche Kopfschmerzen hatte, nachdem sie gestürzt war?
Umständlich zog er die Mütze über dem Verband zurecht, nahm die Jacke und seinen Rucksack und schlich über die Holzdielen zur Tür. Er drehte den Knauf und zog sie behutsam auf, bereit, beim ersten Quietschen sofort wieder zum Bett zu spurten.
Doch nichts geschah.
Sobald der Spalt breit genug war, schlüpfte er hindurch. Der Flur war hell erleuchtet, und unter seinen Füßen lag ein dicker Läufer, der bis zu einer Treppe führte. Im Flur roch es nach Braten und Bohnerwachs.
Er schlich humpelnd bis zur Treppe und spähte über das Geländer. Blank polierte Holzstufen führten hinunter in einen Flur. Er stand mucksmäuschenstill und lauschte angestrengt, den Kopf schiefgelegt. Er schmerzte und dröhnte bei jeder Bewegung.
Als er nichts anderes hörte als das Dröhnen in seinem Kopf, zog er die fremde Jacke über, setzte den Rucksack auf und zog die Nylonriemen stramm, damit er fest auf seinem Rücken saß. Mit einer Hand stützte er sich am Geländer ab und stieg leise die Stufen hinunter.
Schritte näherten sich von draußen.
Jan erstarrte.
Schlüssel rasselten, dann hörte er, wie einer ins Schloss gesteckt wurde.
Er wartete nicht länger, sondern humpelte hastig die Treppe nach oben, den Korridor entlang und in das Zimmer zurück. Bei jedem Schritt hatte er das Gefühl, jemand stieße ihm ein Messer in den Fuß.
Er riss sich die Mütze vom Kopf, warf sie auf den Stuhl, sprang in das Bett und zog die Decke bis zum Hals. Der Schmerz klopfte in seinem Knöchel, in seinem Knie, in seinem Kopf, und er zitterte am ganzen Körper. Angestrengt lauschte er den Geräuschen im Flur, während sein Atem viel zu laut ging.
Er hörte die Frau die Treppe heraufkommen. Ihre Schritte näherten sich der Tür. Er versuchte, leiser zu atmen, drehte den Kopf zur Wand und schloss die Augen.
»Wen haben wir denn da?«, fragte die Frau und lachte, als sie das Zimmer betrat. »Denkst du, ich habe dich nicht gehört?«
Sie trat ans Bett. Jan hatte die Augen fest geschlossen und hielt die Luft an. Vielleicht ging sie wieder.
»Hey, du Früchtchen.« Sie setzte sich neben ihn auf die Bettkante.
Jan spannte die Muskeln an. Wenn sie ihn berührte, würde er sofort aus dem Bett springen. Fremde durften ihn nicht berühren. Niemals.
»Tu nicht so, als würdest du schlafen. Wir müssen dir den Verband neu anlegen. Der hängt ja nur noch wie ein Putzlappen am Kopf.«
Jan rührte sich nicht. Sie nahm sein Kinn in ihre Hand. Er riss den Kopf so heftig weg, dass der Schmerz ihn aufschreien ließ.
Die Frau sprang erschrocken vom Bett auf.
»Sieh mich an«, sagte sie barsch.
Widerwillig öffnete er die Augen. Drei dürre, gebogene Finger hingen vor seinen Augen. Die helle Haut war übersät mit Sommersprossen und seltsam faltig, als sei sie viel zu groß für die kleinen Hände der Frau.
»Wie viele Finger siehst du?«, fragte sie. Die Finger kamen näher. Er schob sich am Kopfende des Bettes hoch, weg von den Fingern. Sie endeten in rosigen Nägeln mit schmutzigen Rändern.
»Antworte endlich«, sagte sie. »Du bist draußen ausgerutscht und auf den Stufen gelandet. Wenn du Pech hast, hast du eine Gehirnerschütterung und musst im Bett bleiben.«
Er kniff den Mund zusammen.
»Antworte mir.«
Er hob die Hand und spreizte drei Finger ab.
Die Frau sah ihn an und schüttelte den Kopf. »So ein sturer Geselle.«
Er sah sie an, die Lippen trotzig zusammengepresst.
»Und jetzt folge mit den Augen meinem Finger.«
Sie klang streng.
Er folgte dem Finger mit den Augen, erst nach links, dann nach rechts.
»Na also. Geht doch. Hast du Hunger?«, fragte die Frau und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab unten einen Lammbraten.«
Er schüttelte den Kopf. Die Frau konnte ihm sonst was erzählen.
»Hast du Durst?«
Er dachte einen Augenblick nach, dann nickte er.
»Zieh die Jacke aus, sonst schwitzt du und erkältest dich noch. Und komm mit nach unten in die Küche«, sagte die Frau und ging zur Tür. »Da hab ich auch neues Eis für deinen Kopf.«
Deshalb war es so kalt, dachte er. Sie hatte ihm einen Verband mit Eis angelegt.
In der Küche trank er ein Glas Apfelsaft. Er schmeckte längst nicht so gut wie der bei seiner Großmutter, aber er war durstig – und hungrig war er auch. Aber er mochte hier nichts essen. Vielleicht war das Fleisch ja doch nicht von einem Lamm.
Die Frau kam auf ihn zu und streckte die Hände nach seinem Kopf aus.
Er stieß ihre Hände weg.
»Meine Güte! Dann wickle den Verband doch selbst ab.«
Er wickelte umständlich den Verband vom Kopf. Zwei kleine Eiswürfel fielen zu Boden, zersplitterten und schmolzen, während die Frau weitersprach.
»Du hast dir die Rippen geprellt und außerdem blaue Flecke an den Beinen und am Oberarm. Und du hast eine große Beule mit einer Platzwunde am Kopf. Sie hat vorhin ziemlich geblutet. Aber das tun Kopfwunden immer. Sieht deshalb oft schlimmer aus, als es ist.«
Sie tippte mit der Hand an ihren Hinterkopf. Jan berührte die Stelle an seinem Kopf, die die Frau ihm gezeigt hatte. Seine Finger glitten über eine Schwellung, die aufgerissen war und schmerzhaft brannte und pochte.
»Ich war vorhin am Haus deiner Großmutter. Die Polizei war auch da«, sagte die Frau und schüttelte erneut den Kopf, als könnte sie es nicht fassen.
Ihm wurde speiübel. Er wusste nicht, was schlimmer war, der Schmerz im Kopf oder die Übelkeit im Magen. Zugleich wurden seine Lider schwer, und er fühlte sich ausgelaugt und müde.
»Wovor bist du weggelaufen?«
Jan rührte sich nicht.
Er dachte an seine Mutter. Er hatte keine Ahnung, ob sie schon nach ihm suchte. Doch er wusste, dass er in einer schrecklichen Situation steckte. Er war ein Zeuge. In den Filmen, die er kannte, war es für Kinder schlecht, Zeuge eines Verbrechens zu sein. Er dachte an die arme Mathilda in »Leon der Profi« und an Mark Sway in »Der Klient«. Sie waren so alt wie er. Sie hatten Ähnliches erlebt. Sie schwebten in Lebensgefahr, weil Verbrecher sie umbringen wollten. Beide hatten nur überlebt, weil sie Erwachsene gefunden hatten, die ihnen halfen. Er war sich sicher, dass Henny keine gute Erwachsene war. Sie schoss auf Kinder und aß sie.
Die Übelkeit bohrte in seinem Magen.
»Was ist passiert?«, wiederholte die Frau.
Er drehte den Kopf zur Seite und sah nach unten. Die Übelkeit arbeitete wie ein eifriger Maulwurf in ihm, der zielsicher seine Gänge anlegte. Er faltete die Hände, bis seine Knöchel weiß hervortraten.
»Wovor hast du Angst?«, bohrte die Frau.
Jan starrte weiter auf den Boden, wo das Eis kleine Pfützen hinterlassen hatte. Es wäre gut, wenn ein Mensch auch einfach schmelzen und sich so davonstehlen könnte.
Die Frau wiederholte die Frage.
Weshalb musste sie immer alles wiederholen? Er mochte das nicht.
»Ich werde jetzt bei dir zu Hause anrufen«, sagte sie, als er nicht antwortete. »Deine Mutter wird sich längst Sorgen machen.«
Heftig schüttelte er den Kopf.
»Jemand muss dich hier abholen.«
Er sprang auf und krallte seine Hand in ihren Arm.
Sein Mund arbeitete, die Zunge kaute an dem Wort.
»Nein«, stieß er endlich hervor. Er konnte sich kaum noch konzentrieren.
»Hey!«
Erschrocken machte Henny einen Schritt zurück und rieb die Stelle, an der er sie gekniffen hatte.
Jan fiel zurück auf den Stuhl. Er fing ihren Blick auf. Sie beobachtete ihn so ausdruckslos und konzentriert wie einen Hasen, auf den sie gleich anlegen würde. Seine Schultern fielen nach vorn, und er senkte den Kopf. Unter ihrem Blick wurde er ganz klein. Der Maulwurf wühlte in seinem Magen und katapultierte den Inhalt nach oben. Es saß schon in der Speiseröhre. Er schluckte. Schluckte noch einmal und stemmte sich gegen das, was die Speiseröhre hochschoss. Es half nichts.
Er riss den Mund auf. Sein Mageninhalt ergoss sich in einem Schwall neben den Stuhl auf den Fußboden.
Die Frau war zu ihm gesprungen, hielt ihm den Kopf und half ihm, als er sich ein zweites Mal übergab.
»Du musst dringend ins Bett«, sagte sie. »Wenn du Pech hast, hast du eine Gehirnerschütterung.«
Sie schnappte sich ein fleckiges Geschirrtuch, das auf der Spüle lag, hielt es unter den Wasserhahn und ließ kaltes Wasser drüber laufen.
»Hier.«
Sie reichte ihm das Tuch.
»Wisch dir den Mund und die Hände sauber.«
Sie drehte sich um und verließ die Küche.
Der Lappen roch muffig, und er versuchte nicht zu atmen, als er sich den Mund abwischte.
Kurz darauf kam sie mit einem Eimer zurück. Sie füllte ihn mit Wasser, streifte sich gelbe Gummihandschuhe über, die sie aus dem Schrank unter der Spüle hervorholte, und wischte das Erbrochene auf.
Die Frau war ihm unheimlich. Dennoch hätte er sich gern entschuldigt. Doch es hatte jetzt keinen Sinn, das Sprechen noch einmal zu versuchen. Die Müdigkeit umgab ihn längst wie ein weites dunkles Meer.
»Die Sachen sind von meinem Sohn. Noch von früher«, sagte sie, nachdem sie den Eimer geleert und weggetragen hatte. »Deine waren völlig kaputt, als ich dich vor der Treppe aufgelesen habe. Ich dachte, du hättest dir das Genick gebrochen.«
Henny ging zum Kühlschrank und holte eine blaue Gummipalette mit Eiswürfeln aus dem Gefrierfach. Sie drehte die Palette um und klopfte auf den Rand der Spüle. Scheppernd fiel das Eis hinein.
»Wieso wolltest du auf mich schießen?«, fragte sie, als sie das Eis in ein Geschirrtuch wickelte.
Jan starrte auf die Hände der Frau und zuckte mit den Achseln.
Sie reichte ihm das Geschirrtuch, und er presste es hinten auf den Kopf. Alles tat ihm weh, und er war so müde.
Der Junge kippte nach vorn, schob die Arme auf dem Tisch zusammen und bettete seinen Kopf darauf. Schlafen war fast so gut wie Davonschmelzen, dachte er, bevor ihm die Augen zufielen und ein gnädiger Schlaf ihn aus der Übelkeit und dem Schmerz hinaustrug.