14
Alex öffnete die Haustür, bevor ich meinen Schlüssel aus der Tasche gefischt hatte. Ich fiel ihm um den Hals, Koslowskis Ordner zwischen uns.
»Wie schön, dass du da bist«, sagte ich.
Er drückte mich eine Spur fester an sich. Aus der Küche erreichte mich der köstliche Geruch eines Bratens wie der Vorabbote eines normalen Lebens. Mehr wollte ich nicht. Nur ein ganz normales Leben. Ich würde Alex alles erzählen, und dann würden wir gemeinsam überlegen, was zu tun war, um diesem Alptraum zu entkommen, in den Leo mich noch heute zog.
Hinter Alex tauchte Max in seiner verblichenen Lieblingsjeans und einem dicken roten Fleecepulli auf. Als er uns fest umarmt sah, blieb er abrupt stehen. Verlegen zog er seine Stirn kraus.
»Wir vertiefen das später«, flüsterte Alex an meinem Ohr, während ich mich aus der Umarmung löste.
»Hallo, Max.«
Ich ging auf ihn zu, ohne mir die Stiefel auszuziehen. Sie hinterließen kleine dunkle Pfützen auf den Dielen. Max stand am Ende des Korridors und rührte sich nicht.
Als ich ihn erreichte, verschränkte er die Arme vor der Brust.
»Hi, Mama.«
Es klang mürrisch und erinnerte mich an Leo, wenn Eddie ihn genervt hatte. Während meine Mutter jedoch die Kunst beherrscht hatte, selbstbewusst und nonchalant darüber hinwegzugehen, überkam mich in diesem Moment ein schlechtes Gewissen, so dass ich prompt das Falsche tat. Ich ignorierte die verschränkten Arme, drückte ihn an mich, verwuschelte seine Haare und küsste ihn auf den Scheitel. Er konnte nicht ahnen, wie glücklich es mich machte, ihn zu sehen.
Er zog den Kopf weg, Empörung in den grauen Augen.
»Tut mir leid, dass ich allein gefahren bin«, sagte ich. »Ich musste überraschend zu einem Interview hier in der Nähe.«
»Wir haben verabredet, dass einer den anderen anruft, wenn was dazwischenkommt. Und ich krieg Ärger, wenn ich es vergesse. Aber du darfst das. Das ist doch gemein.«
Abrupt drehte er sich um und marschierte zurück in die Küche.
Ich sah Alex an. Er zuckte mit den Achseln, schloss die Haustür und kam zu mir.
»Wo er Recht hat, hat er Recht.«
»Aber du warst doch da«, entgegnete ich resigniert und ging an ihm vorbei.
Er griff mir an den Hintern.
»Lecker«, sagte er. »Wann bekomme ich mehr?«
Ich lächelte, auch wenn mir nicht danach war. Manchmal hatte er so eine Wirkung auf mich. Er wischte meine Sorgen weg und brachte mich zum Lächeln, wenn ich es gerade am dringendsten brauchte, und dafür mochte ich ihn seit unserem ersten gemeinsamen Abend. Ich mochte ihn auch jetzt, und ich hatte ihn jede Sekunde dazwischen gemocht. War ich verliebt? Ja. Liebte ich ihn? Auch nach einem Jahr hatte ich keine Antwort darauf, und ich wusste nicht, ob zu verstehen war, dass ich ihn trotzdem heiraten wollte. Ich verstand es ja nicht einmal selbst genau. Aber Alex gab mir Sicherheit, und von der konnte ich nicht genug bekommen. Besonders nicht an diesem Abend.
»Wo ist Adam?«
»In der Küche.«
Adam, mein Vater, stand mit einer Kelle vor der offenen Herdtür und begoss eine Lammkeule. Neben dem Herd stand eine Schüssel mit selbstgemachten rohen Klößen, die noch gekocht werden mussten. In einem kleinen Topf auf dem Herd köchelte Rotkohl vor sich hin, ebenfalls selbst gemacht. Mein Vater konnte das wie kein Zweiter, und für seinen Rotkohl mit Äpfeln und Champagner ließ ich jeden Hummer stehen.
»Besser ihr geht die nächste halbe Stunde hier raus, bevor ich alles anbrennen lasse«, sagte Adam, als ich ihn auf die Wange küsste. Er betupfte sich mit einem alten Küchenhandtuch die Stirn, zwinkerte mir zu und widmete sich dann wieder dem Braten.
»Kommst du mit nach oben, Max?«
Max saß am Küchentisch, kaute angelegentlich an einem Buntstift und starrte konzentriert auf ein leeres Blatt.
Ich holte tief Luft, während mein Vater mir über die Schulter hinweg einen fragenden Blick zuwarf. Ich rollte mit den Augen. Mein Vater lächelte, wohl in Erinnerung an alte Zeiten, als ich bockig an diesem Küchentisch gesessen und nicht geantwortet hatte. Er legte die Kelle beiseite.
»Jetzt geh schon, Max. Du kannst ja später weiterzeichnen.«
Max ignorierte auch seinen Großvater.
Immer noch lächelnd, zuckte Adam die Achseln. »Er sagt, er hat keine Hausaufgaben auf.«
»Fein.« Ratlos sah ich auf Max hinunter, und mir wurde schwer ums Herz. Ich hatte es vermasselt. Wieder mal.
»Es tut mir leid«, sagte ich und wartete vergeblich auf eine Reaktion.
Ich versuchte es erneut.
»Wenn du willst, können wir nachher Lauren anrufen und fragen, ob Jan morgen rüberkommt.«
Max schwieg starrsinnig, obwohl ich wusste, dass er sich auf Jan freute.
Er konnte entsetzlich dickköpfig sein. Zu gern würde ich behaupten, das hätte er von seinem Vater, aber das stimmte nicht.
Es hatte zwischen seinem Vater Konrad und mir nicht geklappt, doch das lag weder an Konrad noch an mir. Konrad war ein liebenswerter Mensch, dem man lediglich vorwerfen konnte, dass er sich vor elf Jahren auf mich eingelassen hatte. Denn ich war die Schwester des Mannes, den seine Familie trotz Koslowskis Geständnis noch Jahre später im Verdacht hatte, ihre Tochter Claudia getötet zu haben.
Konrad Langhoff war Claudias Bruder, und in jenem Sommer arbeitete er als Bauleiter in Hamburg. Die Firma seines Vaters Thor hatte eine Ausschreibung der Hamburger Baubehörde für sich entschieden und erneuerte einen Streckenabschnitt des Autobahnzubringers in der Nähe des Horner Kreisels. Ich hatte Konrad jahrelang nicht gesehen und war erstaunt, aber auch erfreut, als er mich eines Tages in der Redaktion anrief und fragte, ob ich später mit ihm in einem Café an der Alster zusammen ein Bier trinken wollte. Ich hatte keinen Freund zu der Zeit und ohnehin nichts vor, und so sagte ich zu. Wir unterhielten uns bis in die frühen Morgenstunden, und dann trafen wir uns zwei Tage später noch einmal und sprachen über Leo und Claudia, über Charles und die alten Zeiten – und wir redeten über unsere Trauer. Sowohl für Konrad als auch für mich war es das erste Mal, dass wir darüber mit einem anderen Menschen sprachen.
Unsere Trauer war keine Krankheit gewesen, die sich in ein paar Tagen auskurieren ließ, und das war das Scharfe, Kantige und Heimtückische daran. Durch Schmerz und Verlust mussten sowohl Konrad als auch ich hindurch. Deshalb wussten wir genau, wovon der andere sprach, wie es sich anfühlte und wie viel Zeit und Energie uns dieser Schmerz gekostet hatte, und das verband uns.
Vor allem aber war es wohl unsere Sehnsucht nach den unbeschwerten Tagen unserer Kindheit und Jugend mit all ihren Hoffnungen und Träumen, die dazu führte, dass wir miteinander schliefen. Es war keine Leidenschaft dabei, kein ungestümes Staunen, nicht diese Rosa-Wolken-Phase, in der man sich nacheinander verzehrte und schon morgens beim Aufwachen dem Abend entgegenfieberte, an dem man sich wieder begegnen würde. Es war vielmehr ein Zur-Ruhe-Kommen, das wir in all den Jahren vermisst hatten und das uns in diesen Tagen miteinander verband. Doch so, wie dieser betörend schöne Sommer dem Ende zuging, die Sonne langsam blasser wurde und die Wärme abends der herbstlichen Kühle zu weichen begann, so verblassten auch unsere Gefühle, denn sie besaßen keine Basis – außer dem Verlust jener Menschen, die wir geliebt hatten.
Mitte September musste Konrad zurück nach Solthaven. Es gab Schwierigkeiten in der Firma, sein Vater brauchte ihn dort, und ein anderer Bauleiter übernahm den Hamburger Auftrag.
Als wir uns voneinander verabschiedeten, wussten wir, dass unsere gemeinsame Zeit beendet war. Wir standen in der Abenddämmerung auf dem Bürgersteig vor meinem Haus. Ein frischer Wind strich durch die Straßen, die Häuser warfen lange Schatten, und der Berufsverkehr ebbte bereits ab.
Konrad strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr, und dann küssten wir uns ein letztes Mal im Schatten der Kastanie vor dem Haus.
»Pass auf dich auf«, sagte er, und ich nickte.
Er überquerte die Straße und ging zu seinem Auto, blieb noch einmal stehen, drehte sich um und winkte mir zu. Ich warf ihm eine Kusshand zu und wandte mich ab.
Mit Tränen in den Augen stieg ich die Treppe hinauf in meine Wohnung. Es war eine kurze, schöne Zeit gewesen – und es tat weh, ihn gehen zu lassen. Etwas blieb jedoch von ihm zurück. Ich war schwanger.
Ich hatte mir zwar immer ein Kind gewünscht, eine Schwangerschaft jedoch nie forciert, und so war ich eher überrascht als erschüttert, dass ich ausgerechnet von Konrad ein Baby erwartete. Als ich ein paar Tage darüber nachgedacht hatte, traf ich eine Entscheidung: Ich würde dieses Kind zur Welt bringen, und Konrad würde niemals erfahren, dass er der Vater war.
»Max? Deine Mutter hat dich etwas gefragt«, versuchte Adam gerade noch einmal, meinen störrischen Sohn zu einer Reaktion zu bewegen.
Max reagierte. Er stand auf und verließ die Küche, ohne mich anzusehen.
Kurz darauf hörte ich im Wohnzimmer den Fernseher laufen. Ich wollte schon hinter ihm hergehen und ihn zurechtweisen, weil er nicht um Erlaubnis gefragt hatte, ließ es jedoch, denn ich wollte mit Alex reden.