20

Ich erfuhr es eine halbe Stunde später in der Küche meines Vaters.

Adam hatte das Radio eingeschaltet, und wir lauschten schweigend den Nachrichten. Die Moderatorin berichtete in kurzen Sätzen, dass sich Roland Koslowski am vergangenen Abend auf dem Dachboden erhängt hatte, nachdem sein Bruder gegen halb zehn zur Nachtschicht in eine Tankstelle gefahren war. Ein zugeschalteter Reporter befragte den Bürgermeister und eine ältere Frau nach der Stimmung im Dorf, und es wunderte mich nicht, dass beide von einem allgemeinen Aufatmen und von einer grundsätzlichen Erleichterung vor allem unter den Eltern sprachen. Der Sprecher des Justizministeriums erklärte, man plane eine Gesetzesänderung, um die Sicherungsverwahrung bei Altfällen, wie Koslowski einer war, auch im Nachhinein anordnen zu können.

In mir regte sich kein Erstaunen, als ich von Koslowskis Selbstmord hörte, und auch sonst kein Gefühl. Ich hatte zwar nicht eine Sekunde angenommen, dass er sich umbringen würde, doch es schien mir nun nur folgerichtig, und ich nahm an, er starb auf seine Art mit einem reinen Gewissen.

»Der hat sich also umgebracht, nachdem du mit ihm gesprochen hast?« Mein Vater saß mir gegenüber und köpfte ein Ei.

»Ja«, sagte ich, eine unbestimmte Abwehr in der Stimme, weil der Satz einen Zusammenhang herstellte, den es meines Erachtens nicht gab.

»Was wollte er von dir?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Keine Anzeichen einer Depression?«, fragte er und klang jetzt ganz wie ein Arzt.

Depressionen? Ich dachte nach.

»Nein. Nichts.«

»Meinst du, es war eine Art Sühne?«

Ich zuckte erneut mit den Achseln, während die Nachrichtensprecherin weitere Meldungen verlas.

Ich hörte nur mit halbem Ohr hin, während ich darüber nachsann, ob Koslowski so etwas wie Reue oder Sühne gekannt haben mochte.

Nein, dachte ich. Der Mann, den ich erlebt hatte, hatte nichts bereut.

Letztlich waren die Gründe für seinen Selbstmord meines Erachtens profan und eher pragmatischer Natur. Koslowski hatte völlig Recht. Er war ein Süchtiger. Er hätte bei nächster Gelegenheit wieder gemordet. Doch wo sollte er eine Gelegenheit finden? Wie sich vor den Augen einer Öffentlichkeit verstecken, die sein Haus belagerte? Wie die Polizeieskorte abschütteln? Wie seine Opfer finden und observieren? Wie eine Gegend erkunden, wenn er seine Bewacher nicht abschütteln konnte? Und warum sollte er sich damit abfinden, dass ein anderer »seine« Morde plante und sich an den Opfern vergnügte?

Als ich nun darüber nachsann, wurde mir klar, dass er seinen Selbstmord wie jeden seiner Morde exakt geplant hatte – und dass ich, Julie Lambert, eine Figur in diesem Plan war. Die Erkenntnis traf mich unvorbereitet, und Übelkeit überschwemmte mich wie eine Jahrhundertwelle, die über mir zusammenbrach und mit sich riss. Kein Ort, nirgends. Nur Ohnmacht, Chaos und alles erstickende Gewalt.

Ich sprang vom Frühstückstisch auf und hörte meinen Vater hinter mir rufen, was los sei. Ich antwortete nicht, sondern rannte auf die Toilette und übergab mich. Doch das, was ich loswerden wollte, ließ sich nicht einfach ausspucken und wegspülen. Ich trug das perfide Vermächtnis eines Serienkillers mit mir herum – und niemand konnte mir das abnehmen.

»Alles okay mit dir?«, fragte mein Vater, als ich zurückkam.

»Ich habe wohl etwas Falsches gegessen«, sagte ich.

In seinem Gesicht breitete sich ein teilnahmsvolles Lächeln aus, und in seinen Augen erschien ein warmes Glänzen. »Bist du schwanger?«

Ich nickte. Ich brachte es nicht über mich, ihm zu sagen, was die Übelkeit tatsächlich ausgelöst hatte.

»Weiß Alex es?«

Ich schüttelte den Kopf und hoffte, er würde nicht fragen, warum Alex abgereist war, ohne sich zu verabschieden. Mein Vater fragte nicht, und ich war ihm dankbar.

»Ich mach dir einen Kamillentee, und später isst du etwas Zwieback«, riet er mir, noch immer lächelnd. »Ich freue mich so für dich, Julie. Wenn Eddie es doch nur noch erfahren hätte.«

»Ich hab es ihr gesagt«, sagte ich. »An ihrem letzten Nachmittag. Ich weiß nur nicht, ob sie es gehört hat.«

»Sie hat dich bestimmt gehört. Noch einmal ein Kind in dieser Familie, das hat sie sich so gewünscht.«

Er lächelte. Dieses Lächeln kannte ich, seit ich denken konnte, und es hatte mir früher ein tiefes Vertrauen geschenkt, dass alles gut werden würde, egal, was passierte.

Bevor mein Bruder verschwand, war mein Vater sehr beliebt gewesen. Er gehörte noch zu jener Generation von Ärzten, denen das Wohl der Patienten wichtiger war als die anschließende Honorarabrechnung. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater jemals Patienten abgewiesen hätte. Dafür erinnere ich mich an so manch einen Sonntagvormittag, der eigentlich uns Kindern vorbehalten war und an dem mein Vater trotzdem seine Notarzttasche nahm und zu Hausbesuchen aufbrach. Er war freundlich zu seinen Patienten und fand für jeden die richtigen Worte, ohne jemals viel über sich selbst oder über seine Familie preiszugeben.

Seit jenem verhängnisvollen Sommer war mein Vater jedoch Fremden gegenüber grummelig und wortkarg geworden. Es hatte damit begonnen, dass ein paar seiner ältesten Patienten wegblieben und Bekannte auf die andere Straßenseite wechselten, wenn sie uns trafen. Handwerker sagten Termine ab, Gärtner kamen gar nicht erst, und vermeintlich nette Nachbarn hatten von einem Tag auf den anderen keine Zeit mehr für einen Plausch am Gartenzaun. Selbst ein paar meiner Klassenkameraden sagten nur noch mürrisch »Hallo«, wenn wir einander begegneten.

Im Vergleich zu meinen Eltern jedoch hatte ich es gut. Ich zog im September nach Leipzig, um Publizistik zu studieren. Meine Ankunft dort fiel in jene Zeit, in der die berühmten Montagsdemonstrationen das alles beherrschende Thema waren. Niemanden kümmerte, wer ich war, woher ich kam, was ich erlebt hatte. Wenn man jemanden kennen lernte, gab es nur eine Frage: Gehst du montags mit in die Nikolaikirche zum Friedensgebet und dann auf die Demo? Die Antwort spaltete die Menschen und trieb sie um. Von den Toten in einer weit entfernten kleinen Stadt nahe der Grenze zur Bundesrepublik hatte in Leipzig nie jemand gehört – und es interessierte auch niemanden.

Doch während das Land in diesem Herbst seiner Befreiung entgegendemonstrierte, begann für meine Eltern eine Zeit der Enttäuschungen und Demütigungen. Dass ihre Fenster im Herbst des Mauerfalls gleich zwei Mal mit einem Stein zertrümmert wurden, war nur der Auftakt zu einer jahrelangen Hetze, die meine Mutter immer tiefer in Depressionen stürzte.

Mein Vater tat alles, um ihr zu helfen. Nicht nur weil er Arzt war, sondern vor allem, weil er nie aufhörte, sie zu lieben. Nach ihrem ersten Schlaganfall verkaufte mein Vater seine Praxis, um sich ganz meiner Mutter zu widmen. Sie war das Zentrum seines Lebens, wie er das Zentrum ihres Lebens war, und sie hatten einander Halt gegeben.

Ich betrachtete meinen Vater, der noch immer lächelte. In den letzten Monaten war er stark gealtert, und seit einiger Zeit plagten ihn Schmerzen im Knie und in den Fingergelenken. Er hatte an die zehn Kilo verloren, und wenn er sich unbeobachtet fühlte, ließ er die Schultern hängen. In solchen Momenten sah man ihm an, wie müde und erschöpft er war. Doch wenn es darauf ankäme, dann würde er mich mit allem verteidigen, was ihm zu Gebote stand. Denn auch ich gehörte zum Zentrum seines Lebens, selbst wenn ich in den letzten zwanzig Jahren nur noch kurz zu Besuch kam wie ein flüchtiger Geist und dann wieder in einem anderen Leben verschwand, mit dem meine Eltern kaum etwas zu tun hatten und von dem sie auch nur wenig wussten.

»Geht es dir wirklich gut?«, fragte mein Vater, während die Nachrichtensprecherin den Wetterbericht verlas.

»Hm.«

»Bist du sicher?«

Ich nickte, dann hörten wir beide dem Wetterbericht zu. Es würde milder werden. Um die null Grad. In niederen Lagen, also bei uns, wäre am späten Nachmittag mit Schneeregen und überfrierender Nässe zu rechnen. Schönes Winterwetter klang anders.

»Wenn man jemanden liebt, sollte man ihn festhalten«, sagte mein Vater und legte sein Brötchen zur Seite.

Es war das falsche Thema.

»In all den Jahren hast du nicht gewagt, dich auf eine ernsthafte Bindung einzulassen. Ich hatte dafür immer Verständnis. Aber glaub mir, eine feste Beziehung wird dir dein Leben erleichtern. Deine so genannte Freiheit hat doch nur einen trügerischen Reiz, und deine Karriere wird dich nicht über die einsamen Abende hinwegtragen«, fuhr er fort.

»Paps …«, sagte ich ungeduldig, aber er unterbrach mich.

»Es ist dein Leben. Ich weiß. Und ich sollte mich nicht einmischen. Aber sieh dich an. Du bist aufgeblüht. Ich habe dich noch nie so glücklich gesehen wie im letzten Jahr. Und glaub mir, deine Mutter war darüber genauso froh wie ich.«

»Ja, ich weiß«, sagte ich. »Aber wie kann ich glücklich sein, wenn Alex nicht damit klarkommt, dass ich vor über zwanzig Jahren einen Mann liebte, den mein Bruder umgebracht hat?«

»Ist er deshalb weggefahren?«

Ich nickte, dann köpfte ich mit aggressivem Schwung das Ei, das mein Vater mir gekocht hatte.

»Du solltest ihm nachfahren.«

Jetzt reichte es mir aber.

»Ich laufe doch keinem Mann hinterher.«

Ich löffelte den oberen Teil des Eis. Köstlich. Seit ich schwanger war, gehörten weichgekochte Eier zu meinen Lieblingsspeisen.

»Jetzt lass mal deinen Stolz beiseite. Der Mann liebt dich, du hast ihm etwas Entscheidendes aus deinem Leben verheimlicht und es nur unter Druck erzählt. Das ist wahrlich kein Vertrauensbeweis. Mit mir hättest du so etwas auch nicht machen können.«

»Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte ich und widmete mich dem Rest des Eis, dessen Dotter mich goldgelb anlachte.

»Ich könnte sagen, du hättest es ihm früher erzählen müssen. Aber das steht mir nicht zu.«

»Es ist schwierig, darüber zu sprechen«, rechtfertigte ich mich.

»Das wird er wissen. Aber tu dir selbst einen Gefallen. Sitz hier nicht rum, sondern fahr nach Hause, pack deinen Alex beim Schopf und dreh dich nicht um. Leos Leben ist nicht dein Leben. Du kannst hier niemanden retten. Dein Bruder hat damals eine Entscheidung gefällt. Und du musst jetzt auch eine treffen. Ich meine, die kann nur lauten: Rette dich selbst. Es ist nicht davon auszugehen, dass du noch einmal jemanden wie Alex triffst.«

Ich wollte diese Diskussion nicht, und ich hatte noch etwas anderes auf dem Herzen.

»Koslowski hat gestern etwas Merkwürdiges erzählt«, sagte ich in die Stimme des Radiomoderators hinein, der soeben »Love Me Tender« ankündigte. »Er sagte, Leo sei nicht einfach verschwunden. Und Charles sei der Vater von Laurens Zwillingen.«

Einen Moment lang starrte Adam mich nur an, dann wandte er sich ab.

Ich berührte seinen Arm.

»Was?«, fragte er und sah mir in die Augen. »Solche Gerüchte kommen und gehen. So läuft das doch seit Jahren. Leo ist fort. Finde dich damit ab. Es hat schon deine Mutter ins Grab gebracht, dass sie nie damit abgeschlossen hat.«

»Aber warum hat Koslowski es mir erzählt?«, hakte ich nach und suchte in seinem Gesicht nach etwas, das ich nicht benennen konnte. War es Unsicherheit? Oder Gewissheit? Stärke oder Angst? Doch in seinem Gesicht lag nur diese leere Müdigkeit, die ihn umgab wie ein dunkler Mantel.

»Weil er pervers war«, sagte er, »und einen letzten großen Auftritt brauchte. Du warst nur sein Publikum.«

»Koslowski hat Claudia nicht umgebracht. Er hatte einen Deal mit Kortner«, sagte ich bestimmt und erzählte ihm, was ich von Koslowski erfahren hatte.

»Du glaubst also, dein Bruder hat Charles erschossen, dann seine eigene Freundin missbraucht, gefoltert und getötet – und Kortner hat ihn gedeckt? Willst du mir das sagen?«

Seine Stimme klang in keiner Weise aufgebracht. Sie hörte sich nur traurig an – und elend. Als könnte er es nicht mehr ertragen, darüber zu spekulieren, wo Leo war, warum er sich nicht ein einziges Mal gemeldet hatte und warum er uns so sehr misstraute, dass er uns aus seinem Leben verbannt hatte.

»Nein, ich will nicht sagen, dass Leo ein perverser Mörder ist. Natürlich nicht. Aber wenn es Koslowski nicht war, war es jemand anders, und dieser Jemand läuft noch immer frei herum.«

Mein Vater zuckte mit den Achseln. »Es bringt deinen Bruder nicht zurück.«

»Aber was, wenn Leo etwas gesehen hat? Was, wenn man ihm gedroht hat, uns alle umzubringen, sollte er jemals zurückkehren?«

»Fragst du dich das?«

Ich nickte.

»Leo kann nicht zurückkommen. Er würde wegen Mordes angeklagt, nicht wegen Totschlags. Und Mord verjährt nicht«, sagte mein Vater. »Außerdem ist er clever. Deshalb solltest du davon ausgehen, dass er keinen Kontakt zu uns will. Wollte er es, hätte er sich längst gemeldet.«

Wir schwiegen beide.

»Es gibt da noch etwas«, sagte ich.

Mein Vater zog kaum merklich die Brauen hoch.

»Vor ein paar Monaten wurde doch hier in der Nähe diese junge Frau ermordet.«

»Und?«

»Sie wurde ebenso wie Claudia vergewaltigt, und sie wurde auf dieselbe Weise ermordet wie die Kinder damals.«

Während ich es aussprach, war meine Stimme ruhig, doch es schien mir, als schlitzte jeder Satz mein Herz auf.

Mein Vater nahm die Fernbedienung, stellte das Radio ab und wandte sich mir zu, die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt.

»Der Typ hat versucht, dich zu manipulieren, Julie. Das war nichts anderes als Manipulation.«

»Es würde bedeuten, dass es sehr wohl einen Nachahmungstäter gibt.« Ich schwieg einen Moment.

»Oder dass dein Bruder wieder da ist, nicht wahr?«

Er sprach aus, was ich nicht zu sagen wagte. Ich nickte. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich hatte Mühe, mich zu beherrschen.

»Und wenn es so wäre?«, fragte er.

»Dann müssen wir ihn finden, bevor Kortner ihn findet. Koslowski sagte …« Meine Stimme erstickte in den Tränen, die ich noch immer zurückhielt.

»Koslowski …« Mein Vater spuckte den Namen aus, als hätte er fauligen Schlamm im Mund. »Leo war kein Mörder. So einfach ist das.«

»Woher weißt du das so genau? Woher willst du wissen, dass er Charles’ Tod nicht doch geplant hatte?«

»Weil deine Mutter und ich keinen Mörder großgezogen haben.«

»So einfach ist das für dich?«

Er stand auf. »Möchtest du ein Glas Wasser?«

Ich schüttelte den Kopf, und dann sah ich ihm nach, wie er durch die Tür in den Flur ging, schleppend und gebeugt wie ein alter Mann, dem das Leben eine kaum zu tragende Last auf die Schultern gelegt hatte.

Ich brauchte frische Luft.