22
Ich war schon auf der Höhe unseres Hauses, als mein Handy klingelte. So früh konnte das nur Alex sein. Er würde sich entschuldigen und mir den Himmel auf Erden versprechen. Ich würde ihm verzeihen und nach Hamburg in seine Arme eilen. Erwartungsvoll lächelte ich, als ich das Handy aus der Jackentasche zog.
»Unbekannte Rufnummer« las ich, und mein Lächeln erlosch.
»Lambert«, sagte ich kühl.
»Kortner hier, wir sind für zehn Uhr verabredet.«
»Es ist erst neun«, erwiderte ich und beschränkte mich auf einen meiner Standardsätze für Situationen, die mich irritierten: »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin gleich bei Ihnen.«
Hinter mir hörte ich ein Auto. Ich drehte mich um. Es war der braune, dreckverkrustete Mercedes, der vor Laurens Haus geparkt und den ich schon am Vortag gesehen hatte. Kortner bremste neben mir, und der Wagen kam auf der eisbedeckten Straße schlitternd zum Stehen. Er beugte sich zur Seite und öffnete die Beifahrertür, die laut quietschte.
Ich drückte das Gespräch weg und stieg über den Schnee am Straßenrand und beugte mich zum Auto.
»Steigen Sie schon ein«, sagte Felix Kortner und traktierte die Gangschaltung. Ich hatte gerade noch Zeit, mich auf den Beifahrersitz zu setzen und die Tür zuzuziehen. Kortner gab Gas, und ich suchte vergeblich nach einem Sicherheitsgurt. Er fuhr durch ein Schlagloch, dann durch ein zweites. Ich klammerte mich am Armaturenbrett fest und hüpfte auf der durchgesessenen Federung des Sitzes auf und nieder.
»Der Gurt ist kaputt«, beschied er. »Den neuen mussten sie in der Werkstatt erst bestellen. Da kam ich gestern nämlich her, als ich Sie auf der Straße sah.«
Er grinste mich von der Seite an. Das Grinsen saß verrutscht in seinem Gesicht, als würde es sich unwohl fühlen. Tatsächlich verschwand es so schnell, wie es gekommen war.
»Sie also waren das gestern.« Ich hielt mich weiter am Armaturenbrett fest, falls Kortner für die Straßenverhältnisse wieder zu hastig bremste.
»Es war nur ein Zufall.«
Die Straße machte eine scharfe Kurve.
»Worüber wollen Sie mit mir reden?« Meine Hände stützten mich und hielten mich aufrecht.
Vor uns tauchte die orangefarbene Rückseite eines Räumfahrzeugs auf, das in einer breiten Bahn Salz streute. Kortner ging vom Gas, hielt Abstand und sagte: »Ist eine lange Geschichte.«
Ich musterte ihn von der Seite. Noch immer war er ein stämmiger, kräftiger Mann, den man sich nicht zum Feind wünschte. Doch etwas stimmte nicht. Ich sah es an seiner Haltung. Sein Oberkörper war leicht nach vorn geneigt, seine Schultern fielen müde herab, während er das Lenkrad mit beiden Händen so fest umklammerte wie ein Schiffbrüchiger eine Holzplanke im Ozean und angespannt auf die Straße starrte.
Kortner hatte schon bei der Kripo gearbeitet, als ich noch zur Schule ging. Gemeinsam mit ein paar Kollegen hatte er Leo und Konrad verhaftet, als es genug Beweise dafür gab, dass die Jungen in Datschen einbrachen und alles stahlen, was sich ihnen bot. Damals hatte er es noch gut mit uns gemeint und meinen Eltern Mut zugesprochen, nachdem Leo verhaftet worden war. Bei guter Führung, hatte Kortner gesagt, wäre Leo in sechs Monaten wieder zu Hause, und wahrscheinlich würde er trotz der Jugendstrafe studieren können. Es gäbe bestimmt Wege, das zu arrangieren.
Doch weder Leo noch Konrad durften studieren.
Nach dem Zusammenbruch der DDR gab es – wie in anderen Behörden auch – eine Aufräumwelle bei der Polizei, und etliche Beamte wurden entlassen. Kortner gehörte zu den wenigen, die als politisch unbelastet galten und sich frühzeitig für einen Reformkurs ausgesprochen hatten. Kurz vor dem Ende der DDR hatte ihm das ein Parteiverfahren und eine vorübergehende Versetzung in den Innendienst eingebracht. Sie wurde erst aufgehoben, als man im Zusammenhang mit zwei neuerlichen Kindermorden in Solthaven im Frühsommer 1989 jeden Mann brauchte und eine Sonderkommission bildete. Kortner übernahm die Leitung, und es war vor allem ihm zu verdanken, dass Koslowski geschnappt wurde. Inzwischen musste er kurz vor der Rente stehen.
»Wohin fahren wir?«, fragte ich.
Kortner ignorierte meine Frage. Er starrte auf die Straße. Das Räumfahrzeug blinkte und bog rechts in eine Nebenstraße ein.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, versuchte ich es nach einer Weile erneut.
Er warf mir einen skeptischen Blick zu.
»Ich möchte wissen«, fragte ich, »warum Sie damals zuerst annahmen, dass Leo Claudia umgebracht hat?«
Etwas erschütterte ihn. Ich konnte es von der Seite sehen. Sein Gesicht wirkte, als würden es winzige seismische Wellen durchrütteln.
»Meine Güte! Wir haben alle verdächtigt, die sie kannten und kein Alibi hatten.«
»Und dann hat Koslowski den Mord an Claudia gestanden. Wie schön für Sie.«
»Was soll das? Fragen Sie doch einfach, was Sie wissen wollen.«
»Ich kenne die gerichtsrelevanten Beweise nicht, die Koslowski überführt haben, Claudia umgebracht zu haben. Aber ich habe vorhin die Nachrichten gehört.«
»Sie können das alles in Koslowskis Ordner nachlesen. Den hat er Ihnen ja gegeben.«
»Das beweist nichts. Und der Prozess …«, begann ich, doch er unterbrach mich.
»… Koslowski hat gestanden. Belassen wir es dabei.«
»Nein«, sagte ich. »So einfach kommen Sie aus der Nummer nicht raus. Koslowski hat Claudia nicht umgebracht.«
»Das wird niemand mehr beweisen können, und in Ihrem eigenen Interesse sollten Sie es besser gar nicht erst versuchen. Der Mann ist tot«, sagte er eher müde als aggressiv.
Ich antwortete nicht. Stattdessen wiederholte ich meine Frage, wohin wir führen, denn wir waren inzwischen stadtauswärts unterwegs. Auch er antwortete nicht, und so sah ich schweigend aus dem Fenster.
In Kürze würden wir den Friedhofseingang passieren. Danach käme das Sportstadion, mit dem Fußballplatz und der roten Aschebahn auf der einen Seite und der Springreiteranlage auf der anderen, die noch aus DDR-Zeiten stammte. Ein neues Gewerbegebiet schloss sich an mit ein paar Baufirmen, die in modernen Betonklötzen residierten, mit einem Kücheneinrichtungsladen in einem langgestreckten Bungalow und mit der ehemaligen Reithalle, einer windzerfurchten Holzkonstruktion aus sozialistischen Zeiten, in der jeden Donnerstag ein Bauernmarkt stattfand. Es war ein kleines Gewerbegebiet, und kurz darauf verließ man die Stadt.
Kortner fuhr auf den Friedhofsparkplatz. Auch an diesem Morgen waren wir die Einzigen.
»Lassen Sie uns ein paar Meter laufen.« Er stieg aus und knallte die Tür zu.
»Schließen Sie nicht ab?«, rief ich und war noch mit dem Reißverschluss meiner Jacke beschäftigt, als er bereits loslief. Ich hatte Mühe, ihn einzuholen.
»Sie haben es ja eilig.« Ich vergrub meine Hände in den Jackentaschen, als ich ihn erreicht hatte.
»Ich will Ihnen etwas zeigen«, sagte er mürrisch.
Als wir vom Hauptweg abbogen, ahnte ich, wohin er mich führen würde. Unter gleichmäßig gestutzten Bäumen folgten wir dem Weg zu den Urnengräbern, die abgeschirmt hinter einer mächtigen Rhododendrenhecke lagen. Was sollte das werden?
Er blickte stur geradeaus. Etwas in seinem Profil wirkte weich und nachgiebig. Eine runde hohe Stirn, die Nase weich gebogen, ein voller Mund, darunter ein rundliches Kinn. Auf dem Kopf ein beigebraun karierter Fedora-Hut, der von jeder Generation zwischen Humphrey Bogart und Johnny Depp neu entdeckt wurde. Bei Kortner bedeckte er die Glatze, die sich schon kreisförmig auszubreiten begann, als er Leo das erste Mal verhaftet hatte.
Vor Charles’ Grabstein blieb er stehen.
Mein Blick glitt über den Namen und das Geburtsdatum. Er verharrte auf dem Todestag. 20. August 1989.
Es war der Tag, an dem ich Charles das letzte Mal küsste und das letzte Mal mit ihm sprach. Es war auch der Tag, an dem ich das letzte Mal mit Leo sprach. Wir stritten über etwas, an das ich mich nicht mehr erinnern konnte.
»Solange die Konstitution Ihrer Mutter es erlaubte, kam sie jeden Tag hierher. Haben Sie das gewusst?«
Ich schüttelte den Kopf. Die Trauer lag auf einmal so schwer auf mir wie die schwarze Marmorplatte, die Charles’ Grab bedeckte.
Ein Bild stieg in mir auf. Ich sah Charles, wie er in seinem Zimmer auf dem Bett saß, den Rücken an die Wand gelehnt. Er trug einen ausgeleierten, blauen Sweater und eine verwaschene Jeans und spielte für mich Gitarre. Ich sah die Konzentration in seinem Gesicht, wie die Finger über die Saiten glitten, wie sich seine Augen bei manchen Riffs verengten, während er sang. Sein Lächeln, als er zu mir schaute, weil er spürte, dass ich ihn ansah. Es war ein Bild in weichen Farben, voller Zärtlichkeit und Intimität.
Ein Bild ohne Ton.
Ich wusste, dass er gesungen hatte. Ich wusste, was ich damals gehört und empfunden hatte. Doch ich hörte seine Stimme nicht mehr. Sie war mir schon vor langer Zeit verlorengegangen.
Würde ich mich irgendwann nicht mehr an seinen Geruch erinnern? Würden eines Tages auch die Bilder gelöscht sein?
Und dann? Ich besaß Fotos von Charles, ein paar alte Briefe, kleine Zettel mit Liebesbotschaften und meine Tagebücher. Ich konnte sie betrachten oder lesen, wann immer ich wollte. Doch all die Szenen, Erinnerungen und Eindrücke, für die es keine Fotos gab? Der Geruch seiner Haut, das samtige Gefühl, wenn ich meine Hand in seine schob, das Kratzen seiner Wange an meiner, wenn er sich nicht rasiert hatte. Wann wäre das alles endgültig verloren?
Ich war wieder 19 und hätte mein Gesicht so gern in Charles’ altem Sweatshirt vergraben. Ich sah die weißen Halbmonde seiner Fingernägel vor mir, spürte die weiche Haut seiner jungenhaft schmalen, doch kräftigen Hände und erinnerte mich an die blonden widerspenstigen Haare auf seinen Waden, über die ich so gern mit den Fingerkuppen gefahren war.
Ich wischte eine Träne aus dem Gesicht, eine verstohlene, flüchtige Geste, von der ich hoffte, sie bliebe unbemerkt.
»Was wissen Sie über die Ereignisse von damals?«, unterbrach Kortner meine Gedanken.
»Das wissen Sie doch«, sagte ich. »Sie haben mich verhört und mir unterstellt, dass ich meinen Bruder decken würde und genau wüsste, wo er sich versteckt hielt.«
»Das tat ich nicht«, sagte er.
Ich zuckte zusammen. »Erinnern Sie sich nicht mehr, oder wollen Sie sich nicht mehr erinnern?«, fragte ich. »Sie waren beleidigend und grob. Sie drohten mir sogar damit, nicht studieren zu dürfen, wenn ich nicht kooperierte.«
»Ich erinnere mich an alles«, sagte er. »Ich habe nicht ein Wort von dem vergessen, was Sie oder ich damals gesagt haben.«
»Aber Sie haben mir nicht geglaubt.«
»Doch«, sagte er. »Ihnen glaubte ich jedes Wort.«
Er starrte immer noch geradeaus auf den Grabstein und zuckte mit keiner Wimper. Fast hätte ich ihm gesagt, er sollte endlich auf den Punkt kommen. Etwas an seinem Gesichtsausdruck hielt mich jedoch zurück.
Der Felix Kortner, der hier neben mir stand, war ein gebrochener Mann.
»Gestern bekamen wir einen Anruf«, fuhr er fort. »Hinner Heinecken informierte uns, dass auf dem Grundstück seiner Mutter eine junge Frau ermordet wurde.«
»Und?«
»Sie verstehen nicht«, sagte er. »Die junge Frau war Christas Enkelin. Eine von den zur Adoption freigegebenen Zwillingen. Sie erinnern sich doch, oder?«
»Wann wurde sie ermordet?«, fragte ich erschüttert.
»Gestern. Wir dachten erst zwischen zwölf und eins, aber es war wohl etwas später.«
Kortner sprach weiter, und dann traf mich der zweite Schock. »Jan, Laurens Sohn, spricht nicht, aber wir vermuten, dass er Zeuge des Mordes war.«
Deshalb hatte Kortners Auto vor Laurens Haus gestanden. Wahrscheinlich war die Polizei auch jetzt noch bei ihr oder brachte sie und Jan zum Revier, zeigte ihm Fotos von Verbrechern und hoffte, er würde den Täter wiedererkennen.
»Ein zehnjähriger Junge«, entfuhr es mir.
Er ging nicht darauf ein. »Ich wollte etwas anderes mit Ihnen besprechen«, sagte er. »Etwas Persönliches.«
Ich beschloss, auf der Hut zu sein, was auch immer in den nächsten Minuten passieren würde. Ich war Journalistin. Unter normalen Umständen implizierte das ein paar Qualitäten, auf die ich mich verlassen konnte, wenn eine Situation außer Kontrolle geriet. Objektivität, Nüchternheit, Sachlichkeit, Gelassenheit.
Mit dem, was dann folgte, hatte ich nicht gerechnet.
»Ihr Bruder hat Charles nicht umgebracht.«
Ein Satz. Einfach so. Er brandete in mich hinein, beladen mit zwei Jahrzehnten Schmerz, Trauer, Wut, Entsetzen. Ziellos taumelte er durch mich hindurch, ziellos glitten meine Augen über die Gräberreihe.
»Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?«
»Leo war nicht Charles’ Mörder.«
Wie oft hatte ich mir vorgestellt, diesen Satz allen ins Gesicht zu schleudern, die meinen Bruder verdammt, meine Eltern gehasst und mich ignoriert hatten. Fünf Wörter. Mehr war nicht nötig, um die Ungerechtigkeiten vom Tisch zu wischen, die man meinem Bruder angetan hatte. Was für ein Triumph könnte dieser Satz für meine Familie sein. Es knallten jedoch keine Sektkorken.
Vielmehr wurde mir auch die ganze abscheuliche Bedeutung dieser fünf Wörter bewusst. Kortner hatte es gewusst. Und nicht nur das. Es gab Beweise. Es hatte sie immer gegeben.
»Weshalb behaupten Sie so etwas?«, fragte ich schließlich.
»Weil es die Wahrheit ist.«
»Auf einmal, einfach so, kennen Sie die Wahrheit?«
Nach zwanzig Jahren. Die Depressionen meiner Mutter? Überflüssig. Die Trauer meines Vaters? Nicht der Rede wert. Die Anfeindungen der Nachbarn? Schwamm drüber.
»Warum haben Sie es meiner Mutter nicht gesagt? Vielleicht hätte es ihr geholfen.«
»Ihre Mutter wusste es.«
Ich reagierte reflexartig. Der Reflex gehorchte reiner Abwehr. »Oh, dann hat wohl seine Schuldlosigkeit zu ihren Depressionen geführt.«
»Werden Sie nicht zynisch«, erwiderte er.
Ich sah ihn ratlos an. Sachlich bleiben, objektiv sein.
Objektivität beruht auf Fakten. Ich brauchte welche. Jetzt.
Zahlreiche Fragen kreisten in meinem Kopf. Ich hatte keine Zeit, sie nach Prioritäten zu ordnen. Ich fragte das Nächstliegende.
»Und wer war es, wenn nicht Leo?«
Er zögerte.
»Wer war es?«, drängte ich ihn.
Er zögerte erneut.
Falsche Taktik.
Ich war doch ein Profi, ein Interview-Urgestein. Ich hatte in den letzten 15 Jahren mehr Interviews geführt, als das Jahr Tage hat. Ich wusste doch, wie es ging.
Dranbleiben. Das Gespräch in Gang halten. Er wollte reden. Deshalb waren wir hier. Nächste Frage.
»Weshalb erzählen Sie es mir jetzt?«
»Ich gehe in ein paar Wochen in Pension, und mein Nachfolger will nachher mit Ihnen über Leo sprechen.«
»Und warum?«
Er antwortete nicht.
Ich sah ihn von der Seite an. Er stand so reglos, als sei er festgefroren.
»Wir ermitteln zusammen. Es geht um die Tote vor vier Monaten und um die von gestern. Sie waren Zwillingsschwestern«, sagte er schließlich.
»Und was will er von mir?«
»Ihr Bruder ist für ihn der Hauptverdächtige.«
»Leo mal wieder.«
Kortner schwieg wieder und starrte geradeaus. Leo, der mich angerufen haben sollte, um mich am Grab meiner Mutter zu treffen?
»Es gibt ernstzunehmende Hinweise, dass er wieder da ist.«
»Sind wir deshalb hier?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Kortner. »Ich wollte Ihnen sagen, dass Ihre Mutter Tag für Tag hierherkam, weil sie auf Charles geschossen hat. Es war ihre Form der Buße.«
Ich lauschte den Sätzen hinterher. Sätze, die wie vagabundierende Meteoriten in meine Seele einschlugen und tiefe Krater hinterließen.
Auf Distanz bleiben. Nicht persönlich involvieren lassen. Gefühle unter Kontrolle behalten. Nachhaken.
Irgendwo neben uns brach ein Kaninchen aus dem Unterholz, hoppelte über die verschneiten Gräber und verschwand hinter der nächsten Hecke. Ich starrte auf seine Spuren im Schnee, während sich meine Gedanken überschlugen und ich keinen zu fassen bekam.
Ich war betroffen, und ich war involviert. Ich war Leos Schwester und Eddies Tochter und in dem Moment nichts anderes.
»Meine Mutter hat Charles erschossen«, wiederholte ich hilflos.
»Ganz recht.«
Mein Körper rebellierte. Ein Bulldozer wütete in mir und riss alles ein. Jeden einzelnen Schutzwall, den ich über die Jahre errichtet hatte, um nicht daran zugrunde zu gehen, dass mein Bruder ein Mörder sein sollte, der meine große Liebe mit dem Gewehr meiner Mutter in der Garage meiner Eltern hingerichtet hatte. Heimtückisch von hinten. So hatte man es mir erzählt.
Das Zittern begann in den Händen, kroch die Arme hoch, ergriff den Brustkorb, durchflog den Bauch, raste durch die Beine.
»Ihr Bruder hat nicht auf Charles geschossen«, wiederholte er, während ich das Zittern nicht mehr kontrollieren konnte und die Beine unter mir nachgaben.
Felix Kortner hielt mich am Arm fest, doch er konnte mich nicht halten, und so fiel ich vor seinen Füßen in den Schnee.
»Haben Sie das verstanden?« Er reichte mir eine Hand.
»Sie Schwein! Erst war es Leo, und jetzt soll meine Mutter Charles erschossen haben?«
Atemlos stieß ich es hervor, während mir Dutzende Fragen durch den Kopf schossen und Dutzende widersprüchliche Gefühle mich überrollten.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch, und dann gehen wir zurück.«
»Fassen Sie mich nicht an.« Ich legte den Kopf auf die Beine und atmete den Geruch meiner Jeans ein, während feuchte Kühle durch den Stoff drang.
»Sie behaupten also, meine Mutter hat Charles getötet?«
Er reagierte nicht.
»Warum sollte meine Mutter so etwas getan haben? Welchen Grund hätte sie haben sollen? Woher kommt Ihr Sinneswandel? Und warum jetzt? Leo hat Charles nicht umgebracht. Gut. Aber Claudia hat er umgebracht, nicht wahr? Koslowski war es nicht. Sie wissen das, und ich weiß es auch. Ein Mörder ist er für Sie also so oder so. Nur haben Sie jetzt auch noch meine Mutter zu einer Mörderin gemacht. Wissen Sie was, Kortner? Sie widern mich an.«
Er schaute zu mir herunter.
»Hören Sie, Julie. Wir haben jetzt keine Zeit mehr. Leo ist nicht Charles’ Mörder, doch wird auch das niemals mehr jemand beweisen können.«
Die Welt verschwamm und zog sich von mir zurück.
Er reichte mir nochmals seine Hand. Ich schob mich zurück. Weg von ihm, weg von dem, was er gesagt hatte.
»Weshalb erzählen Sie mir diesen ganzen Mist? Wieso lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe?«
Er sah mich fast mitleidig an.
»Wenn Leo Sie kontaktiert, sagen Sie ihm, er soll verschwinden. Er darf hier nie wieder auftauchen. Haben Sie das verstanden?«