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Jahrelang hatte ich mich gefragt, wie Leos Flucht gelungen war. Wohin er geflohen war, was er gerade tat, wo er lebte, ob er glücklich war. Beendete er sein Studium? Lebte er in einem Haus mit Garten? Hatte er eine Frau und Kinder? Dachte er manchmal an mich und unsere Eltern oder an Charles und Margo? Lag er nachts wach, weil seine Schuldgefühle ihn zermürbten und er mit seinem Leben haderte? Ahnte er, was er uns allen mit diesem einen Schuss angetan hatte?

Es gab damals eine Fahndung nach Leo, und obgleich die meisten Kriminellen es nur in die Lokalzeitungen schafften, landete Leo im überregionalen »Neuen Deutschland« und in der »Aktuellen Kamera«, der einzigen Nachrichtensendung der DDR. Natürlich gab es daraufhin zig Hinweise. Noch Jahre später meldete sich der eine oder andere und behauptete, er hätte Leo auf Amrum, auf den böhmischen Schären oder in Berlin, ja, selbst auf Mallorca und auf den Malediven gesehen. Es gab etliche Spinner unter ihnen, die sich lediglich wichtig machen wollten. Dennoch überprüfte die Polizei jede Spur und ging jedem Hinweis nach. Doch Leo blieb verschwunden.

Und jetzt das: Zwanzig Jahre lang Lug und Trug.

Kortner hatte gelogen. Die Wut trommelte in meinen Ohren.

Margo hatte gelogen. Die Wut rauschte in meinem Blut.

Meine Mutter hatte mich belogen. Die Wut fraß sich in meine Seele.

Wenn Zorn heilig war, dann wurde ich gerade eine Heilige.

Wusste es mein Vater? Vermutlich.

Weshalb hatte niemand mit mir gesprochen? Weshalb hatten alle geschwiegen? War ich keiner Erklärung würdig? Keines Vertrauens? Keines Zusammenhalts? Keiner Familie?

»Beruhigen Sie sich doch.«

Kortner stand über mir, denn ich hockte immer noch im Schnee. Ich hatte ihn längst vergessen. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich laut sprach.

Er reichte mir seine Hand, doch ich stieß sie weg und sprang auf. Kurz taumelte ich. Kortner wollte mich stützen, aber ich stieß ihn zur Seite und rannte an ihm vorbei. Er rief hinter mir her, ich solle warten, er müsse mir noch etwas sagen. Ich drehte mich nicht einmal mehr um. Bevor ich in den Hauptweg einbog, hörte ich erneut Kortners Stimme, ich solle nichts Unüberlegtes tun. Ich lief. Weit hinter mir rief er: »In einer halben Stunde auf dem Revier!«

Ein paar Mal kam ich auf dem gefrorenen Schnee ins Rutschen, fing mich und lief weiter.

Am Friedhofseingang kam mir eine Frau in einem wadenlangen Pelzmantel entgegen. Sie zog einen Mischlingshund hinter sich her, der an der Leine zerrte und mir den Weg versperrte. Als ich an ihm vorbeiwollte, bellte er und stürzte sich auf mich.

»Liebilein«, säuselte die Frau und zog heftig an dem roten, mit Nieten besetzten Halsband. Der Hund kläffte weiter, die Frau zog, bis er röchelte und sich setzte.

»Ich beiße nicht«, sagte ich atemlos zu Hund und Herrin.

»Bist du das?«, fragte die Frau und sah mich an. »Julie?«

»Rita?«, fragte ich überrascht, während sie mich weiter anstarrte.

Hinter mir hörte ich Kortner erneut meinen Namen rufen.

Es war nicht der richtige Zeitpunkt für Konversation, und so lief ich weiter.

Ich lief nicht zu meinem Vater. Ich lief zu Margo.

Margo, deren Hass mir auf einmal so abscheulich erschien, so niederträchtig und mitleidlos. Margo, die von allem wusste. Margo sollte reden.