24

Ich rannte durch Straßen, unter deren Schneeschicht sich wagenradgroße Löcher in die Teerdecke gefressen hatten, entlang an sandfarbenen Einfamilienhäusern, von deren Dachrinnen Eiszapfen wie Dolche hingen. Ich lief und keuchte über Gehwege, die mit Asche gestreut waren, mit Sand, mit Salz. Eine Idylle? Nicht mehr für mich.

Schließlich erreichte ich Margos Haus. Durch die heruntergelassenen Jalousien in den Wohnzimmerfenstern fiel noch immer Licht. Sie war zu Hause.

Ich brauchte nur die Gartenpforte zu öffnen und an der Tür zu klingeln. Dennoch zögerte ich. Ich öffnete die Daunenjacke, fühlte den kalten Luftzug, tupfte mir Hals und Nacken trocken und ließ das Haus nicht aus den Augen.

Margo kannte die Wahrheit und hasste mich. Weshalb? Was hatte ich ihr getan? Was hatte Leo ihr getan? Warum hasste sie nicht die Frau, die ihren Sohn getötet hatte?

Ich atmete die kühle Morgenluft ein und lauschte meinem Pulsschlag. Er beruhigte sich, mein Geist nicht.

Ich sah auf die Uhr. Kurz vor zehn. Viel Zeit hatte ich nicht.

Entschlossen öffnete ich die Pforte und ging durch den schmalen Vorgarten. Die Büsche und Staudenreste hatten unter der Schneelast bizarre Figuren gebildet.

Ich ging die Treppe hoch und läutete an der Haustür.

Nichts geschah.

Ich klingelte noch einmal, dann klopfte ich an die Tür. Ich klopfte lauter.

Ich drehte mich um, ob jemand am Haus vorbeiging und mich beobachtete. Doch ich war allein.

Ich rief Margos Namen durch den Briefschlitz, presste mein Ohr gegen die Tür und lauschte – auf ein Knarren der Dielen vielleicht, auf das Klappen einer Tür, auf schlurfende Schritte.

Ich hatte Fragen, und ich brauchte Antworten. Jetzt und von ihr. Ich überlegte, was ich tun konnte.

Ich ging die Treppe hinunter und um das Haus herum. Das Badezimmerfenster in der oberen Etage stand einen Spalt breit offen. Ich blieb stehen und rief nach Margo, einmal, zweimal, dreimal, mit jedem Mal beherzter. Irgendwo in der Nähe klapperte eine Haustür. Ich lief um die Ecke auf den Hof. Auch die Jalousie am Küchenfenster war noch heruntergelassen. Ich hämmerte an die Küchentür und wartete wieder. Eine unbestimmte Unruhe grummelte in meinem Magen.

Ich drückte die Klinke herunter, doch die Tür war verschlossen. Ratlos überlegte ich, wie ich ins Haus gelangen konnte.

»Das ist ein ziemlicher Lärm so früh am Morgen!«

Ich hatte niemanden kommen gehört und fuhr erschrocken herum. Vor mir stand ein bulliger Kerl mit einem breiten Gesicht, das eine Rasur vertragen hätte. Sein Haar war dunkelbraun und ziemlich dünn, obwohl er kaum älter als 40 sein konnte. Er trug eine alte Jacke mit abgestoßenen Kragenecken, eine verwaschene Jeans und sah aus, als hätte er noch vor wenigen Stunden in einer Diskothek als Türsteher gearbeitet.

»Sie kennen Margo?«, fragte ich.

Der Mann verzog den Mund zu einem Lächeln und zeigte mit dem Arm auf das Nachbargrundstück. »Ich wohn da.«

»Ich muss mit Margo reden«, sagte ich. »Und ich weiß, dass sie da ist.«

»’ne Freundin von Ihnen?«

Es gab keinen Grund, ihm zu erklären, wer ich war, also gab ich nur ein knappes Ja zur Antwort.

»Ganz schönes Kommen und Gehen hier«, sagte er. »Normalerweise kriegt sie keinen Besuch, aber Sie sind jetzt schon die Dritte in drei Tagen. Aber ich pass ja auf.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich glaub nicht, dass Sie ’ne Freundin sind.«

»Eine von früher«, sagte ich.

»Nee, nee«, sagte er. »Sie hat keine.«

Ich zückte meinen Presseausweis und hielt ihm den unter die Nase. Manchmal half es. Diesmal nicht.

»Sehen Sie? Keine Freundin. Hab ich ja gesagt«, meinte er.

»Ich muss da rein.«

»Springt Geld raus?«

»Kommt drauf an.« Doch kein Türsteher. Wahrscheinlich war er arbeitslos.

»Margo hatte gestern Abend einen Asthmaanfall«, sagte er, »dann bleibt sie am nächsten Tag meistens im Bett.«

»In ihrem Alter ist ein Anfall nicht ungefährlich«, gab ich zu bedenken.

»Weiß ich auch«, sagte er.

»Wir sollten nachsehen«, sagte ich. »Wer weiß, weshalb sie nicht öffnet.«

»Auf dem Türrahmen liegt ein Ersatzschlüssel. Aber wenn ich Sie mit reinlass, kostet das.«

Der Schlüssel. Er hatte dort schon immer gelegen, weil Margo Angst hatte, bei einem Anfall nicht mehr fähig zu sein, dem Arzt oder jemand anderem die Tür zu öffnen. Ich hätte auch von allein darauf kommen können.

»Zwanzig«, sagte ich. »Kriegen Sie danach.« Los, dachte ich ungeduldig, mach hin.

»Kann jeder sagen. Jetzt oder gar nicht.«

Ich streckte ihm meine Hand entgegen. »Schlagen Sie schon ein. Ich wohne fünf Minuten von hier. Ich bin Eddies und Adams Tochter.«

»Kenn ich nicht«, sagte er.

Meine Güte, wie lange wollte er es noch hinauszögern? »Wie lange wohnen Sie hier?«

»Paar Jahre«, sagte er, und man sah ihm an, dass er sich unbehaglich fühlte. Es hatte keinen Sinn nachzubohren.

»Ich muss das Geld nachher nur holen.«

Widerstrebend reichte er mir seine schwielige Hand. Wir blickten einander in die Augen.

Die Situation erinnerte mich an meine Kindheit, als Leo mit Hinner, Konrad und Charles die Gang gegründet und sie einen Pakt geschlossen hatten, dass sie einander niemals verrieten. Alle vier hatten in die Hände gespuckt, sie sich gereicht und sich geschworen, dass dieses Versprechen bis in den Tod galt. Zumindest für einen von ihnen hatte es bis in den Tod gegolten.

Ich schüttelte seine Hand, zog meine aus der Umklammerung und tastete dann den schmalen Mauervorsprung über der Tür ab. Ich stieß den Schlüssel an, er fiel auf den Abtreter, wo er vor meinen Füßen liegenblieb.

Ich hob ihn auf, steckte ihn ins Schloss, drehte ihn herum. Ich stieß die Tür auf, und warme Luft strömte mir entgegen. Es roch nach Vergangenheit, nach altem Haus, ein wenig nach morschem Holz, gemischt mit dem Geruch von Reinigungsmitteln, Bohnerwachs und nach etwas, das ich nicht definieren konnte.

Ich lauschte auf ein Geräusch.

Nichts.

»Lassen Sie mich mal«, sagte Siggi, drängte sich an mir vorbei und stieß die Tür weiter auf. Ein dumpfes Ploppen erklang, als die Tür gegen etwas stieß.

»Margo? Sind Sie da?« Er zog seine Stiefel aus wie ein gut erzogener Junge und betrat die Küche.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte ich.

»Meier, Siggi. Siggi reicht«, sagte er, schaltete das Licht ein und blieb an der Tür stehen.

Der Name sagte mir nichts.

Ich schob mich an ihm vorbei in die Küche.

Die Küche war ein Chaos. Der Gasherd lag umgestoßen in der Ecke, die Türen sämtlicher Schränke waren aufgerissen, der Inhalt lag auf dem Boden verstreut.

»Margo?«, rief ich.

Keine Antwort.

Vorsichtig durchschritten wir das Chaos und betraten das Wohnzimmer, das sich an die Küche anschloss. Polster waren aufgeschlitzt, Möbel umgestoßen, Schrankschubläden aufgerissen und durchwühlt. Die Luft war trocken und abgestanden, und es war viel zu warm.

Margo saß in ihrem Fernsehsessel aus beigebraunem Plüsch neben dem Couchtisch. Eine Hand lag auf der Lehne, die andere in ihrem Schoß. Ihr Kopf hing schlaff herunter.

Ich schloss die Augen. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich wünschte, ich sähe mich einem Trugbild gegenüber, das verschwand, wenn ich es ignorierte.

»Scheiße!«, sagte Siggi.

Kein Trugbild.

Ich öffnete die Augen wieder. Siggi stand neben mir und blickte unentschlossen von Margo zu mir.

Ich ging durch Scherben und verstreute Bücher zu Margo, kniete vor ihr nieder und strich ihr das dünne rote Haar aus dem Gesicht. Ich betastete vorsichtig ihren Hals auf der Suche nach einem Lebenszeichen. Es gab keinen Puls, die Haut war kalt und die Leichenstarre hatte längst eingesetzt.

»Wir müssen den Notarzt rufen«, sagte Siggi.

»Sie braucht keinen Arzt mehr«, erwiderte ich.

Er stand unschlüssig neben mir.

Ich sah mich um. Unberührt stand auf dem Couchtisch ein leeres Wasserglas auf einem Untersetzer, daneben eine Vase mit einer getrockneten Hortensienblüte, die angebrochene Schachtel eines Herzmittels und der Inhalator mit dem Asthmaspray. Eine Insel der Normalität. Ich registrierte es wie jemand, der sich in einer Filmkulisse befand, sich auf seinen Auftritt vorbereitete und sich vergewisserte, dass die Requisiten an ihrem Platz standen.

»Ich ruf jetzt trotzdem den Arzt«, sagte Siggi und ging in den Korridor zum Telefon.

Ich war ein Profi für dramatische Geschichten. Es war mein Job, mich Tag für Tag mit den Tragödien, die in das Leben normaler Menschen einbrachen, auseinanderzusetzen. Ich hatte diesen Beruf gewählt, um Leo eines Tages zu verstehen. Doch in diesem Moment schien mir, dass ich ihn gewählt hatte, weil ich nicht genug bekommen konnte vom Leid der anderen, damit mein eigenes an Gewicht und Bedeutung verlor.

Ich rannte hinter Siggi her, riss ihm den Hörer aus der Hand und legte auf, bevor er etwas erwidern konnte.

»Was?«, fragte er.

»Geben Sie mir zehn Minuten«, sagte ich. »Es kommt doch nicht drauf an.«

»Rumschnüffeln is nich«, sagte er. »Ich bin auf Bewährung.«

Margo war tot, aber das hier war eine einmalige Gelegenheit, mich umzusehen, und ich wollte sie nicht ungenutzt lassen.

Mir blieb nichts anderes übrig, als Siggi von Margo, Charles und mir zu erzählen. Nur kurz, nur in Stichpunkten.

»Sie sind also die Schwester von dem Typen, der ihren Sohn abgemurkst hat. Ist ja ’n Ding.«

»Sie hat es Ihnen erzählt?«

»Sie war ’ne alte Frau«, sagte er. »Einsam, aber noch klar im Kopf. Wenn Sie wissen, was ich meine. Ich hab ihr den Garten gemacht und manchmal nach dem Rechten gesehen. Sie hat mich angerufen, wenn sie einen Anfall hatte. Dreimal klingeln, auflegen. Das war das Zeichen. Hat ja dann nicht mehr sprechen können, die Gute. Und manchmal hat sie mir von sich erzählt.«

Während er sprach, überlegte ich fieberhaft, was ich vorbringen könnte, damit er nicht sofort die Polizei informierte. Mir fiel nur eins ein: Geld.

»100 Euro extra«, sagte ich.

»200«, sagte er. Ich nickte, und damit war die Sache ausgestanden.

»Was’n zuerst?«

»Das Schlafzimmer«, sagte ich und dachte an den Tresor, von dem Charles mir früher erzählt hatte und der dort in einer Wand eingebaut war.

Ich machte Licht im Flur und folgte ihm die Treppe hoch, ohne das Geländer zu berühren.

Oben angekommen, sagte ich zu ihm: »Ich weiß, es klingt seltsam, aber ich glaube, es ist besser, wenn keiner erfährt, dass wir uns hier umsehen.«

»Dann sollten Sie besser keine Spuren hinterlassen.«

»Zu viel Tatort gesehen, was?«

»Knast«, sagte er. »Ziehen Sie besser die Schuhe aus und fassen Sie nichts an.«

Ich schaute auf meine Schuhe, dann auf die beige melierte Auslegeware. Meine Sohlen hatten dunkle, feuchte Flecke hinterlassen.

»Ich muss auf die Toilette«, sagte ich und ging ins Bad.

Diesmal folgte er mir nicht.

Als ich wieder herauskam, war er nicht mehr da.

»Siggi?«

Keine Antwort.

Ich ging zum Geländer und lehnte mich drüber. Nichts.

Er hatte für Einbruch gesessen. Jede Wette.

Ich zog die Schuhe aus, stellte sie an der Treppe ab und streifte die Handschuhe über, die ich im Bad gefunden hatte. Dann ging ich zu Margos Schlafzimmer.

Ich fühlte mich unwohl, und mein Herz klopfte mit der beunruhigenden Intensität derer, die ein schlechtes Gewissen hatten.

Pfeif drauf, dachte ich. Es war einer der Lieblingssätze meines Bruders.

Ich drückte die Klinke herunter, stieß die Tür auf und steckte den Kopf in das Zimmer.

Wände, Auslegeware, Bettüberwurf, alles in einem strahlenden Blau. Kommode und Kleiderschrank in etwas hellerem Blau. Alles war aufgerissen und durchwühlt worden, Bett, Schränke, Kommoden.

Auf dem Bett lag über dem zerschlitzten Kopfkissen eine Kopie des Bethlehemischen Kindermords. Bis heute stritten Experten darüber, ob das Gemälde von Peter Paul Rubens oder Anton Sallaert war. Das Original hing seit 1902 in Brüssel und nannte Sallaert als Maler. Es war pures Lexikonwissen, das mir blitzartig durch den Kopf ging, während mein Herz viel zu schnell schlug und ich die Stelle entdeckte, an der das Bild gehangen hatte und wo nun eine Tresortür offen stand.

Erst in diesem Moment fragte ich mich, ob Siggi die Polizei informiert hatte und wie viel Zeit mir blieb, falls er es getan hatte. Ich war unsicher. Deshalb ging ich hinunter zum Telefon und tat das Naheliegende: Ich rief die Polizei an.

Eine junge Männerstimme meldete sich. Ich nannte meinen Namen, sagte, wo ich war und was ich gefunden hatte. Ich solle nichts anrühren und unbedingt draußen warten, erklärte er mir. Das Übliche eben.

Siggi Meier hatte nicht angerufen, und ich erwähnte ihn auch nicht.

Ich schätzte, dass die Polizei nicht länger als zehn Minuten bis zu Margos Haus brauchen würde, und ich hatte nicht die Absicht, ihr zu begegnen. Ich legte die Handschuhe zurück ins Bad, zog mir die Schuhe wieder an und verließ das Haus auf demselben Weg, auf dem ich gekommen war. Der Schlüssel steckte noch außen im Schloss. Ich ließ ihn stecken.