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Der Mann lehnte an der Wand und schaute abwesend aus dem Fenster, als ich den Konferenzraum der Solthavener Polizeidienststelle betrat.

»Hübsche kleine Fachwerkstadt, in der Sie hier aufgewachsen sind. Richtige Idylle, nicht wahr?«, fragte er, als er sich mir zuwandte.

Ich ignorierte seine Frage. »Sie sind nicht im Haus von Margo Swann?«

Er antwortete ebenfalls nicht. »Was wollten Sie dort?«, fragte er stattdessen.

»Ich hab nach ihr gesehen. Das macht man in einer Kleinstadt nun mal so. Ich traf sie gestern Abend am Grab meiner Mutter. Es ging ihr schlecht, und sie hatte Asthma.«

Der Mann zog kaum merklich die Brauen hoch. Natürlich glaubte er mir nicht.

»Wirklich beeindruckend dieser Blick von hier oben.« Er schaute wieder aus dem Fenster.

»Ja, altes Backsteingemäuer. Neogotik. Gebaut um 1840. Seit 1866 war hier ein Ulanen-Regiment stationiert, seit 1919 residiert hier die örtliche Polizei.«

»Interessant, was Sie so alles wissen.« Der Mann schob seine massige Gestalt von der Wand weg.

Er atmete schwer, sein Gesicht war von ungesunder roter Farbe, und er versprühte eine merkwürdige Nervosität, als er sich vor mir aufbaute.

»Kriminalhauptkommissar Carsten Unruh.« Er reichte mir eine überraschend knorrige Hand.

»Ich weiß, wer Sie sind«, erwiderte ich.

»Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

»Das dachte ich mir«, sagte ich.

»Möglichst ungestört.«

Ich machte eine ausladende Handbewegung. »Es ist Ihr Reich.«

Ich setzte mich an den ovalen Konferenztisch, an den wohl gut und gerne 20 Leute passten, und bemühte mich um ein Lächeln.

Carsten Unruh ließ sich mir gegenüber nieder.

»Schön, dass es Sie amüsiert«, sagte er.

»Und gleich wird mir das Lachen vergehen.«

»Davon gehe ich aus.« Unruh zog ein Foto aus der Innentasche seines Jacketts und reichte es mir über den Tisch. Ich nahm es.

»Kennen Sie sie?«

Die Frau war jung. Rundes Gesicht, um die 20, lachend, braune Haare, braune Augen, Grübchen in den Wangen. Ich vermutete, es handelte sich bei ihr um Laurens zur Adoption freigegebene Tochter. Doch ich antwortete: »Nein.«

Er erzählte mir, was ich bereits von Felix Kortner wusste. Die Frau war in Christa Heineckens Scheune ermordet worden.

»Hat die Frau einen Namen?«, fragte ich schließlich.

»Nora Schnitter. Sie war die Tochter eines Hamburger Lehrers, dessen Frau ein Pflegefall ist. Er war gestern Abend hier und hat sie identifiziert.«

»Und was habe ich damit zu tun?«

»Wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal gesehen?«

Unruhs hellblaue Augen fraßen sich in meine, als wollte er mein Gehirn ausweiden. Ich erwiderte den Blick, während ich über eine Antwort nachsann.

»Es ist lange her«, sagte ich etwas zu spät.

»Vielleicht auf der Beerdigung Ihrer Mutter?«

»Was hat mein Bruder damit zu tun?«

Unruh maß mich mit einem herablassenden Lächeln, das anzeigte, dass er diese Art Fragen gewohnt war und nichts auf sie gab. »Ich bitte Sie, Frau Lambert, würden Sie einfach antworten? Wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal gesehen?«

Der Mann fing an, mir auf die Nerven zu gehen. »Wie alle«, sagte ich. »1989. An dem Tag, als er seinen besten Freund erschossen haben soll.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich. Aber was hat er damit zu tun?«

Unruh zog einen braunen Din-A4-Umschlag zu sich heran. Ich hatte ihn nicht beachtet, als ich mich an den Tisch gesetzt hatte. Irgendjemand vergaß bei Konferenzen immer irgendetwas auf dem Tisch. Protokolle, Fotos, Fotokopien oder andere Unterlagen.

Unruh zog einen kleinen durchsichtigen Plastikbeutel hervor, in dem eine Armbanduhr lag. Er schob mir den Beutel über den Tisch zu.

Es war eine rechteckige goldene Herrenuhr aus den 1920er Jahren mit kleinen Brillanten auf den Ziffern drei, sechs und neun. Der Brillant auf der Zwölf fehlte. Er fehlte schon lange.

»Wir haben sie am Tatort gefunden.«

Mein Unterleib fühlte sich an, als bekäme er einen Tritt. Man wollte nach Luft schnappen, tat es aber nicht, weil man vor Schmerz nicht konnte.

Die Uhr war ein Familienerbstück, sie war schon von meinem Großvater auf meinen Vater übergegangen. Der Diamant auf der Zwölf fehlte, seitdem mein Vater bei einem Ausflug im Wald einen Fahrradunfall gehabt hatte. Deckglas und Diamant waren abgesprungen und trotz anhaltender Suche unter all dem Laub, Gras und Farn nicht mehr auffindbar. Zu Leos achtzehntem Geburtstag hatte mein Vater das Deckglas ersetzen lassen und ihm die Uhr ohne den zwölfer Diamanten geschenkt. Sie war Leos ganzer Stolz gewesen, und er hatte sie tagein, tagaus getragen.

»Das ist die Uhr Ihres Bruders.«

Unruh drehte sie um. Ich wusste, was auf der Rückseite eingraviert war. »Für Leo. In Liebe. Dein Vater.«

Ein erneuter Schmerz, so rasch und aggressiv wie ein Stromschlag, durchstach meinen Unterleib, und ich war wohl blass geworden, denn Unruh fragte mich mit fast väterlicher Besorgnis, ob mir nicht gut sei.

Dankbar für seine Aufmerksamkeit nickte ich, fragte nach der Toilette und sprang auf.

»Dritte Tür rechts«, rief er mir nach.