29
Das Solthavener Polizeirevier lag im Stadtzentrum unmittelbar an einer Kreuzung, von der aus sich vier holprige Einbahnstraßen in die vier Himmelsrichtungen verzweigten.
Kurz vor Mittag verließ ich das Revier. In dem rot gepflasterten Innenhof, den die drei sorgsam renovierten Klinkergebäude der ehemaligen Ulanen-Kaserne hufeisenförmig umgaben, sah ich Lauren und ihren Sohn, als ich gerade meine Autotür öffnete.
Etwas an Lauren hatte sich verändert, auch wenn noch immer dieser mürrische Zug um ihre Mundwinkel spielte. Ihr Gang wirkte entschlossener, ihre Bewegungen zielgerichteter, und ihr Gesicht hatte an Kontur gewonnen. Es war schmal und sehr blass. Jan humpelte auf zwei Krücken neben ihr her. Ein Verband lugte unter seiner Mütze hervor. Sie gingen zusammen mit einem Polizisten an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Ich lief ihnen nach. Lauren bemerkte mich erst, als ich ihr von hinten auf die Schulter tippte.
»Ich muss mit dir reden«, sagte ich, nachdem ich die beiden begrüßt hatte, und dann fragte ich sie, ob ich sie im Auto mitnehmen könne. Sie schüttelte den Kopf, sah aber zugleich fragend zu dem Polizisten. Der zuckte die Achseln.
»Klar können Sie mit Ihrer Freundin fahren.«
Nach einigem Zögern willigte sie schließlich ein, und ich erinnerte mich daran, dass sie sich schon früher so verhalten hatte. Sie sagte durchaus Nein, wenn ihr etwas nicht passte, doch nach einer Weile gab sie nach, als würde sie ihrer eigenen Meinung nicht trauen.
Ich ging zu meinem Auto zurück und fuhr zu ihnen hinüber. Jan kroch auf den Rücksitz und legte die Krücken neben sich. Lauren stieg vorne ein, und ich verließ den Parkplatz, überquerte die Kreuzung und bog links in eine Einbahnstraße ein.
»Behauptest du immer noch, dass Charles der Vater deiner Zwillinge ist?«, fragte ich übergangslos.
»Das tue ich«, sagte sie ruhig, während sie nach draußen auf die vorüberziehenden Häuserfassaden blickte.
»Wann soll das passiert sein?«
Sie antwortete nicht.
Ich hakte nach. »Wann, Lauren?«
»Du hättest an der Kreuzung rechts abbiegen müssen.«
»Ich weiß, wie ich nach Hause komme«, sagte ich. »Wir fahren besser über den Südbockhorn, dann müssen wir nicht über das Kopfsteinpflaster in der Pagenbergstraße.«
Sie sah aus dem Fenster, als wäre ich nicht vorhanden, und zeigte mir dabei ihr Profil mit der geraden Stirn und der kurzen Nase.
»Wann und wo habt ihr euch getroffen?«
Sie holte tief Luft und sah hinüber zu mir. »Was spielt das noch für eine Rolle nach all der Zeit? Wir waren dumm und jung. Du warst dumm und jung.«
Ich umklammerte das Lenkrad. »Dumm genug, um betrogen zu werden?«
Es kostete Mühe, mich zu beherrschen. Doch hinter uns saß der Junge. Eine Szene war das Letzte, was er erleben musste.
»Ja.« Einfach so, keine Erklärung, keine Entschuldigung.
Mein Herz begann zu rasen. Ich sah stur geradeaus und bemühte mich, ruhiger zu werden.
»Du hast dich überhaupt nicht verändert«, sagte sie unvermittelt, und ich sagte überrumpelt: »Danke.«
»Das war kein Kompliment.«
»Was?«
»Du steckst deine Nase immer noch in Angelegenheiten, die dich nichts angehen. Und du versuchst immer noch, alle zu manipulieren.«
Das war nicht die zurückhaltende Lauren, die ich kannte, und ich brauchte einen Moment, um es zu verdauen. Sie sah wieder aus dem Seitenfenster.
»Was machen deine Stricksachen?«, fragte ich schließlich.
»Du weißt davon?«
»Du hast hinten im Hof gesessen und gestrickt. Immer, sobald es warm genug war.«
»Das hast du mitbekommen?«
»Deine Decken und Kissen waren Kunstwerke.«
Sie lächelte.
»Ich verkaufe sie auf Wochenmärkten und Wohnmessen. Seit zwei Jahren entwerfe ich Stricksachen für meinen Internetshop. Wenn alles gut geht, werde ich im nächsten Herbst die ersten Workshops in der Volkshochschule anbieten und vielleicht irgendwann den Job im Krankenhaus kündigen. Aber bis dahin arbeite ich weiter als Sekretärin.«
»Ich hätte dich damals fragen sollen, ob du mit uns spielen willst.«
Sie verkroch sich wieder in ihr Lauren-Schneckenhaus.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Wir hätten dich besser behandeln sollen.«
Sie sah zum Fenster hinaus.
»Erinnerst du dich an Rita Kieser?«, fragte sie dann.
Ich nickte. »Ich hab sie vorhin flüchtig auf dem Friedhof gesehen.«
»Sie und ihre Freundin waren die Schlimmsten. Und weißt du, was das Ungerechte ist?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie hat es zu was gebracht. Dabei war sie diejenige, die am gemeinsten zu mir war. Dein Bruder und Charles dagegen waren immer freundlich.«
»Hast du das der Polizei eben auch erzählt?«
»Ja«, sagte sie. »Ich habe ihnen die Wahrheit gesagt.«
»Welche Wahrheit?«
Sie schüttelte den Kopf, drehte sich zu Jan um und fragte, ob er Hunger hätte. Der Junge nickte.
Den Rest der Fahrt schwiegen wir.
Meine Gedanken kreisten um die Uhr, und ich fragte mich, woher Nora Schnitter sie hatte und ob das Armband bei ihr auch den kaum wahrnehmbaren Abdruck hinterlassen hatte wie bei Leo und meiner Mutter.
Als wir in die Platanenallee einbogen, bat Lauren mich, sie am Haus ihres Bruders Hinner Heinecken abzusetzen, weil sie Pauline abholen wollte.
Vor Hinners Haus parkte ein blauer Opel Corsa direkt vor der Zufahrt. »Solthavener Volksstimme« stand auf den Seitentüren. Ein hochaufgeschossener schlaksiger Mann in grauem Parka stieg aus dem Auto, eine Kamera um den Hals.
Jan zog an Laurens Arm, als sie ausstieg. Sie drehte sich um und sah ihn an. Er versuchte, etwas zu sagen, gab dann aber auf und zeigte auf mich und dann auf sich.
»Das ist in Ordnung«, sagte ich. »Ich kann dich mit zu Max nehmen, er freut sich schon auf dich.«
Lauren sagte: »Nein. Steig aus, Jan. Wir müssen nach Hause.«
Der Reporter kam raschen Schrittes auf uns zu.
Ich stieg ebenfalls aus.
»Verschwinden Sie«, sagte ich zu ihm. »Sie wird keinen Kommentar abgeben.«
»Nur ein Wort«, sagte er und sah über meine Schulter hinweg zu Lauren. »Glauben Sie, dass Leo Lambert Ihre Mutter umgebracht hat?«
Er machte einen Schritt zur Seite, hob den Fotoapparat und drückte auf den Auslöser, drückte noch einmal und wieder und wieder.
»Ich sagte Ihnen doch …«, begann ich, doch Lauren antwortete: »Ja.«
»Verschwinden Sie«, fuhr ich den Mann an.
»Und hat er Ihrer Meinung nach auch die junge Frau ermordet?«, fragte er, ohne mich zu beachten.
»Ja«, antwortete sie wieder. Er sah mich an, ein triumphierendes Lächeln im Gesicht, dann trollte er sich zurück zu seinem Wagen.
Ich starrte Lauren an. »Das ist deine Wahrheit?«
Sie nahm Jans Hand.
Hinner Heineckens Haustür wurde geöffnet. Im Spalt erschien seine Gestalt.
»Kommt endlich rein«, rief er Lauren zu. Mich ignorierte er.
»Sie werden über dich an Leo wollen. Du wirst keinen Schritt mehr ohne einen Polizisten machen.« Sie sagte es mit einer Gewissheit, die mich frösteln ließ, drehte sich auf dem Absatz um und ging mit Jan zum Haus.
»Woher nimmst du diese verdammte Gewissheit, dass es Leo war?«, rief ich ihr nach.
Vor der Gartentür drehte sie sich um und sagte: »Jan hat deinen Bruder gerade identifiziert, Julie.«
Dann kam sie noch einmal zurück zu mir, blieb ganz dicht vor mir stehen und flüsterte: »Leo hat meine leibliche Tochter umgebracht, und er hat sie vor den Augen meines Sohnes erschossen. Und das, Julie, wird ihm das Genick brechen.«
Während sie sprach, hatte ich das Gefühl, einen Schlag nach dem anderen einzustecken. Ich sah in Jans blasses Gesicht. Er sah mich unglücklich an.
»Kommt endlich rein, verdammt«, rief Hinner.
Lauren ging zurück, stupste Jan an, und er humpelte hinter ihr her zum Haus.