30
Es gibt Sätze, die einschlagen wie ein Splittergeschoss. Jan hatte meinen Bruder identifiziert? Leo war in Solthaven? Er hatte getötet? Vor Zeugen? Vor einem Kind?
Ich stand reglos neben meinem Auto. Lauren und Hinner waren bereits im Haus verschwunden, Jan saß auf der Treppe und schnürte seine gelben Stiefel auf. Er sah noch einmal zu mir. Ich winkte ihm zu, lächelte und wusste, dass mir die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben stand. Er lächelte nicht zurück. Er setzte die Kappe des einen Stiefels an die Ferse des anderen und streifte ihn ab. Ich stieg ins Auto und legte einen Moment den Kopf aufs Lenkrad. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich warf noch einen Blick auf Hinners Haus.
Jan hatte sich die Schuhe wieder angezogen und stolperte auf seinen Krücken und mit offenen Schuhbändern hastig die Stufen herunter.
Lauren öffnete hinter ihm das Fenster und rief: »Komm zurück, Jan. Wir wollen essen!«
Der Junge humpelte weiter.
»Jan!«
Hinner riss die Tür auf und polterte in dicken Boots wütend hinterher.
Jan kam über die Straße aufgeregt auf mein Auto zugehinkt und schüttelte heftig den Kopf.
»Hast du deine Mutter nicht gehört?«, brüllte Hinner. »Du kommst sofort wieder rein!«
Ich begriff nicht, was Jan wollte. »Soll ich Max etwas ausrichten?«
Kopfschütteln.
»Jan!«, brüllte Hinner gefährlich nah.
»Möchtest du mitkommen?«
Kopfschütteln.
»Was willst du?«
Er zeigte wieder auf sich und schüttelte noch heftiger mit dem Kopf.
Hinner hatte ihn erreicht.
»Du wirst jetzt endlich tun, was man dir sagt, Bürschchen«, sagte er. »Meine Güte«, keuchte er, »sind Jungs in dem Alter alle so?«
Ich nickte.
Er schnappte sich Jan und nahm ihn auf den Arm wie einen Zweijährigen. Er klemmte die Krücken unter den anderen Arm und ging grußlos ins Haus zurück.
Aufgewühlt fuhr ich die paar Meter bis zu unserem Haus.
In der warmen Küche schälte mein Vater Mohrrüben. Ich sah nach Max. Er lag auf dem Fußboden in Leos Zimmer, vertieft in einen alten »X-Men«-Comic.
»Cool«, sagte er und hielt das Heft hoch. Ich nickte, während er mich schon wieder vergessen hatte und weiterlas.
Ich erinnerte mich daran, wie meine Großmutter die Comics nach ihren Besuchen im Westen durch die Grenzkontrollen geschmuggelt hatte. In hüfthohen Miederhosen saß sie drei Stunden lang kerzengerade im Zug, damit das Papier nicht verdächtig raschelte. Danach lag sie regelmäßig mit einer Wärmflasche im Rücken auf der Couch und stöhnte über ihr schmerzendes Kreuz.
Wieder in der Küche schenkte ich mir einen abgestandenen Kaffee mit reichlich Milch ein und setzte mich an den Tisch.
Ich erzählte meinem Vater von meinem Gespräch mit Carsten Unruh, während er weiter eine Mohrrübe nach der anderen schälte und in Scheibchen schnitt. Er wirkte müde, und ich sah ihm an, dass er von der Geschichte nichts mehr hören wollte.
Auf dem Küchentisch lag die Zeitung von heute. Mein Blick fiel auf den Lokalteil. Ich nahm ihn und blätterte ihn durch auf der Suche nach einem Artikel über den Mord an Nora Schnitter. Ich fand ihn auf Seite vier. Ein Unbekannter hätte Freitagmittag in Christa Heineckens Scheune aus unbekannten Gründen eine junge Frau erschossen. Christa wurde von ihrem Sohn Hinner gefesselt auf einem Stuhl in ihrem Haus gefunden. Sie stünde noch unter Schock und wäre im Krankenhaus. Jan wurde nicht erwähnt. Die Ermittlungen dauerten an.
Auf der gegenüberliegenden Seite gab es einen groß aufgemachten Bericht mit drei Fotos über die Weihnachtsfeier von Thor und Konrad Langhoffs Baufirma.
Für Thors Verhältnisse war es wohl nur eine kleine Feier und nicht so wie noch vor wenigen Jahren, als er den Prosecco für die Belegschaft und den Champagner für die Geschäftskollegen kübelweise servieren ließ. »Bier, Kartoffelsalat und Würstchen halten die Gäste bei Laune«, lautete die Bildunterschrift zu einem Foto, das Konrad mit dem Bürgermeister und ein paar Leuten zeigte, die ihre Pappteller lachend vor die Kamera hielten. Vor zwei Jahren hatte Konrad die Firma von seinem Vater offiziell übernommen. Seither feierten die Langhoffs bescheidener, denn Konrad wusste, dass zu viel Luxus zu viele Neider auf den Plan brachte.
Konrad hatte mir damals in Hamburg erzählt, dass es nicht einfach in der Firma sei und dass selbst leitende Angestellte über seinen Vater tratschten, sobald er ihnen den Rücken zukehrte. »Wendegewinner« war noch das Schmeichelhafteste. Die meisten missgönnten ihm, dass er sich in den Wirren des Zusammenbruchs der DDR die Baufirma »unter den Nagel gerissen hatte«, wie sie es nannten. Behilflich beim Kauf waren alte Seilschaften gewesen. Das hatte er eingeräumt. Heute nannte man es Netzwerk, und es lief auf dasselbe hinaus. Beziehungen waren nun mal das A und O. Immerhin hatte Thor Langhoff bei der Übernahme einen Geschäftsplan vorgelegt, sich an ihn gehalten und die Firma kontinuierlich zum Erfolg geführt. Unter Konrads Leitung war die Firma mindestens genauso erfolgreich.
»Hast du es schon gelesen?«, fragte ich, nachdem ich den Artikel überflogen hatte.
Mein Vater nickte.
»Wenn Leo wieder hier wäre …«
»Hör auf damit.«
Ich erhob meine Stimme. »Wenn Leo wieder hier wäre, an wen würde er sich wenden, wenn er Hilfe braucht?«
Ich tippte auf den Zeitungsbericht.
»Gib doch endlich Ruhe.«
»Nein«, sagte ich und stand auf. »Ich muss telefonieren.«
Egal, ob ich Ruhe wollte oder Ruhe gab, wir würden keine finden, bis Leo rehabilitiert oder überführt und eingesperrt war. Charles war sein bester Freund gewesen, aber mit Konrad hatte er sechs Monate im Jugendgefängnis gesessen. Und etwas, über das nie gesprochen wurde, war dort mit ihnen geschehen.
Als Konrad und ich vor zehn Jahren den Sommer in Hamburg miteinander verbracht hatten, hatten wir über vieles geredet, aber einiges auch ausgespart. Wann immer ich auf ihre Zeit im Gefängnis zu sprechen kam, wechselte Konrad das Thema.
Cornelius würde sich die offiziellen Akten ansehen. Das hatte er versprochen. Dennoch wollte ich auch mit Konrad sprechen.
Ich ging ins Wohnzimmer, suchte im Telefonbuch nach Konrads Nummer, stutzte, als ich die Adresse sah, griff nach dem Hörer und wählte.
Nach dem vierten Klingeln antwortete eine Frauenstimme. »Langhoff.«
Ich schluckte überrascht und räusperte mich. »Frau Konrad Langhoff?«
»Ja?«
»Mein Name ist Julie Lambert.« Ich hatte plötzlich einen trockenen Mund. Ich wartete auf ihre Reaktion. Vielleicht hatte Konrad mich mal erwähnt. Doch sie schwieg. Im Hintergrund hörte ich Geräusche, eine aufgeregte Kinderstimme rief: »Gib das her! Das ist meins!«
»Ich bin eine alte Schulfreundin von Konrad.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich würde gern Ihren Mann sprechen. Ist er zu Hause?«
»Wozu?« Eine knappe Frage mit Abwehr in der Stimme.
»Ich muss etwas Dringendes mit ihm besprechen.«
»Hat das nicht Zeit?«
»Könnten Sie mir bitte Ihren Mann geben?«, sagte ich. »Es ist wirklich wichtig.«
»Konrad?« Ich hörte Stimmen, darunter ein genervtes »Muss das sein?«. Seine Frau sprach leise, ich verstand nicht, was sie sagte.
Dann kam Konrad an den Apparat: »Julie? Meine Güte! Wie geht es dir?«
Klang es erfreut? Nein. Keine Spur.
»Ich muss mit dir reden«, sagte ich. »Dringend.«
»Was ist denn so dringend?«
»Es geht um Claudia. Und dann gibt es da noch etwas.«
»Das ist im Moment schlecht«, sagte er. »Wir feiern den dritten Geburtstag meines Sohnes und haben volles Haus. Na ja, du kennst das ja.«
»In einer Stunde?«, fragte ich. »Alte Stelle?«
»Alte Stelle?«, fragte er überrascht.
»Ja«, sagte ich. »Bitte. Ich würde dich nicht bitten, wenn es nicht wichtig wäre. Es dauert nicht lange.« Ich wartete keine Antwort ab und legte auf.
Einen Moment lang starrte ich das Telefon an und versuchte, mir darüber klar zu werden, weshalb es mich verletzte, dass Konrad glücklich verheiratet und Vater eines Sohnes war, und warum mir das niemand gesagt hatte.
Hatte ich etwa erwartet, dass er ewig Junggeselle blieb, weil seine Schwester ermordet worden war? Dass es ihm ging wie mir und er sich immer die falschen Partner aussuchen würde?
Ich sollte mich für ihn freuen, doch ich spürte keine Freude.