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Ich fühlte das Klopfen meines Herzens immer noch laut und aufgeregt, als ich den Fußweg zurückging und über das nachdachte, was ich gerade in der Hütte getan hatte wider das Versprechen, das ich mir dereinst selbst gegeben hatte: Konrad niemals zu erzählen, dass er der Vater meines Sohnes ist.

Ich sah ihn schon von Weitem. Er saß auf einem verschneiten Baumstamm, den Kopf in die Hände gestützt. Als ich ihn erreichte, sah er zu mir hoch. Ich setzte mich neben ihn, und die Kälte kroch sofort durch meine Jeans.

»Warum hast du mir damals nicht gesagt, dass du von mir schwanger bist?«, fragte Konrad zu meiner Überraschung ruhig und fast freundlich, doch es schien mir, als läge in seiner Stimme ein vorsätzlich ruhiger Ton. Dennoch beruhigte mich dieser Tonfall, und ich erklärte es ihm.

Der Kern, weshalb ich es nicht gesagt hatte, war Angst. Angst, ihn in eine Rolle zu zwingen, die er vielleicht nicht ausfüllen wollte. Angst, ihm eine Verpflichtung aufzubürden. Angst, dass er Max enttäuschen, ihn vielleicht sogar ablehnen würde. Aber auch Angst, mich auf eine Geschichte einzulassen, von der ich nicht wusste, ob wir beide sie gut handhaben konnten.

Natürlich wollte Konrad wissen, wie ich mir das nun vorstellte, und als ich ihm, ohne groß zu überlegen, vorschlug, dass sich nichts ändern müsste, wirkte er fast erleichtert.

»Fragt er nie nach seinem Vater?«

»Nicht mehr«, antwortete ich. »Ich habe ihm erzählt, sein Vater sei im Kosovokrieg umgekommen. Ich dachte, dass sei das Beste.«

Als mir die Bedeutung meiner Worte bewusst wurde, erschrak ich.

»Das Beste für dich?«, fragte er.

»Nein, für Max.«

Ich war entsetzt über mich selbst. Ich hatte meinen Sohn nicht nur belogen. Damit konnte ich leben, auch wenn ich nicht stolz darauf war. Aber ich hatte Max auch den Vater genommen, und das war unverzeihlich. Ich hatte weder ihm noch Konrad je die Chance eingeräumt, sich kennen zu lernen. Selbst wenn ich aus den besten Absichten heraus gehandelt hatte, so blieb es doch gemein ausgerechnet dem Menschen gegenüber, den ich am meisten auf der Welt liebte: Max.

»Was geschieht, wenn ich ihn treffen möchte?«, fragte Konrad.

»Möchtest du?«

»Ich weiß nicht. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Ich habe eine Frau, die ich liebe, und einen kleinen Sohn. Soll ich denen jetzt erzählen, dass ich noch ein Kind habe? Eines, von dem ich zehn Jahre lang nichts wusste? Und dass der Bruder der Mutter höchstwahrscheinlich meine Schwester vergewaltigt und ermordet hat?«

Er starrte vor sich hin, und für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich fast greifen, was er dachte. Er teilte die Welt gerade in ungleiche Hälften. Zur größeren Hälfte zählten alle Menschen mit ihren Schwächen und Eigenarten wie ich, seine Angestellten und sogar seine Eltern. Und wir waren in seinen Augen ganz gewöhnliche Geschöpfe. Zur anderen Hälfte zählten allein seine Frau und sein Sohn, und sie besaßen keine Schwächen, sondern erhoben sich leuchtend über dem Rest der Menschheit. Es war seine Art zu lieben, und in diesem Augenblick wünschte ich mir, Konrad würde Max in diese winzige Hälfte mit einschließen.

»Wir sollten in Ruhe darüber nachdenken, wie wir zukünftig damit umgehen«, sagte ich, und er nickte und wirkte wieder fast erleichtert.

»Lass uns gehen«, sagte er. »Mein Sohn wartet auf mich.«

Wir trennten uns an der Holzplanke. Nach ein paar Metern drehte ich mich noch einmal um. Konrad stand da, wo ich ihn verlassen hatte, und schaute mir hinterher. Ich winkte. Er winkte zurück, und dann ging er davon.

Was hatte Konrads Vater nach dem Anblick der Leichen gesagt? Leo sei das Bösartigste und Perverseste, was er jemals gesehen habe?

Entschlossen zog ich mein Handy aus der Jackentasche, wählte die Auskunft und ließ mich mit der Polizei verbinden.

Ich hatte Glück und erwischte den jungen Beamten, der mir mittags die Fingerabdrücke abgenommen hatte. Er erkannte meine Stimme, und ich bat ihn, mich mit Kortner zu verbinden. Es dauerte eine Weile, dann ging Kortner an den Apparat.

»Wer hat Charles damals obduziert?«, fragte ich ohne jede Einleitung. Natürlich fragte er, warum ich das wissen wollte.

Ich ging nicht darauf ein, sondern schoss ins Blaue: »Bea Rudolf, nicht wahr? Und sie obduziert auch jetzt.«

»Ähm … Warum wollen Sie das wissen?«, fragte er noch einmal, doch ich legte auf. Es war das »Ähm«. Mehr brauchte ich nicht.

Bea Rudolf würde heute Nachmittag auf jeden Fall noch im Solthavener Krankenhaus anzutreffen sein. Sie würde bis in den Abend hinein arbeiten, und morgen würde sie gegen acht Uhr beginnen und ebenfalls bis spät arbeiten. Sie musste die Leichen von Margo Swann und Nora Schnitter untersuchen und zwei vorläufige Berichte schreiben. Sie musste Blut- und Gewebeproben entnehmen und die Proben mikroskopisch und mikrobiologisch untersuchen. Sie musste Mageninhalte auswerten, diverse DNA-Tests für genetische Fingerabdrücke vornehmen, Schusskanäle untersuchen und Hinweisen und Spuren von Misshandlungen nachgehen. Sie würde den Tod der einen Zwillingsschwester mit dem Tod der anderen vergleichen, den Mord an Margo mit dem an Nora Schnitter und so fort.

Dieses Wochenende konnte Bea Rudolf ihr Privatleben abschreiben.